Digitalisierung | Standortpolitik

„Richtig viel bewegen“

Thorsten Jochim ©
Wintergerst: „Wir gewinnen den Wettbewerb nicht mit Regulierung. Diesen Aspekt hat man in Brüssel zu wenig im Blick.“

Ralf Wintergerst, Bitkom-Präsident und Group CEO von Giesecke+Devrient, über den KI-Trend, Überregulierung, Standortschwächen und warum es trotzdem Gründe für Optimismus gibt.

Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 03/2024

Herr Wintergerst, beim Thema Digitalisierung sind unsere Unternehmen nun hellwach. Die IHK-Veranstaltung „KI in der Praxis“ war ausgebucht. Macht Ihnen das Hoffnung?
Nicht nur die Unternehmen, auch die Gesellschaft ist jetzt hellwach. Das Thema ist durch ChatGPT erstmals vielen Menschen bekannt geworden. Das finde ich toll. Ich finde auch gut, dass die Unternehmen sich so darauf stürzen.

Hat Sie dieser Hype überrascht?
Nicht ganz, weil das schon fast mit Ansage kam. Giesecke+Devrient ist ein international führender Konzern für Sicherheitstechnologie. Daher sind wir stark in solchen Technologiefeldern unterwegs. Und wenn man verfolgt hat, was bei den Patentanmeldungen und in den Unternehmen in den jüngsten Jahren passiert ist, war schon ziemlich klar, dass KI schon jetzt nicht mehr wegzudenken ist.

Durchbruch bei KI mit Ansage

Neue Technologien haben also die kritische Masse für KI geschaffen?
Ganz genau. Wir können heute riesige Datenmengen nutzen. Das hat die jüngste Entwicklung des Internets und der Cloud-Infrastruktur erst ermöglicht. Wir haben jetzt die Technologie für die Datenprozessierung. Das war früher gar nicht möglich. Und es ist klar, dass die Flut an Informationen auch ganz andere Erkenntnisse bringt. Deswegen kam dieser Durchbruch fast schon mit Ansage. Aber dessen Tempo und Dimension hat dann doch alle überrascht.

Sind unsere Unternehmen im Wettbewerb vorn mit dabei?
Unsere Bitkom-Studie dazu liefert ein zwiespältiges Bild. Das Interesse der Firmen an KI ist sehr hoch. Die Unternehmen haben erkannt, wie wichtig KI für ihre Wettbewerbsfähigkeit ist. Aber es sind tatsächlich nur 15 Prozent, die KI einsetzen.

AI Act: Flickenteppich innerhalb EU vermeiden

Sie haben wie andere auch eine Regulierung von KI gefordert.  
Wir haben Rechtssicherheit und einen europaweit einheitlichen Rahmen gefordert. Das ist allemal besser, als wenn jedes EU-Land seine eigenen KI-Gesetze macht und wir innerhalb der EU einen Flickenteppich haben, den niemand versteht.

Die EU hat mit dem AI Act nun geliefert, was kritisieren Sie daran?
Was jetzt von der EU verabschiedet wurde, schafft leider nicht den gemeinsamen Rechtsrahmen. Es wird voraussichtlich sehr unterschiedliche Auslegungen in den einzelnen Ländern geben. Wir müssen in Deutschland sehen, dass wir in der Umsetzung nicht die Fehler der Datenschutz-Grundverordnung, der DSGVO, wiederholen, und stattdessen den Unternehmen die Freiheit verschaffen, KI-Innovationen auch bei uns zu entwickeln und einzusetzen. Dafür muss man sich anschauen, was in anderen Teilen der Welt mit KI passiert.

Techno-libertärer Ansatz hat Schattenseiten

Woran denken Sie genau?
China nutzt KI für die totale Kontrolle. Das können wir nicht wollen. Die USA sind techno-libertär. Anders als in Deutschland ist dort die Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft extrem eng. Man hat das gemeinsame Ziel, die USA stärker zu machen. Das führt im Ergebnis zu großen IT-Konzernen, die weltweit den Takt vorgeben und an der Spitze der digitalen Innovation stehen.

Gibt der Erfolg dem US-Modell nicht recht?
Ich glaube, dass so ein techno-libertärer Ansatz wie in den USA nicht nur Vorteile hat. Man sieht das auch daran, was dort mit der Gesellschaft passiert. Deren Spaltung und Polarisierung wird gefördert durch Social-Media-Kanäle, die fast überhaupt nicht reguliert sind. Der europäische Ansatz, sich um Schutz und Sicherheit für die Gesellschaft zu sorgen, ist daher schon richtig – wenn es denn gut gemacht wird. Das ist der entscheidende Punkt.

DSGVO zu kompliziert

In der Weltwirtschaft ist die EU der erste Player, der Datenschutz und KI reguliert hat. In Brüssel wertet man das als großen Erfolg.
Ich halte die Datenschutz-Grundverordnung für keinen großen Erfolg. Im Bitkom beschäftigt sich unsere größte Arbeitsgruppe mit der rechtssicheren Implementierung der DSGVO. Und das gut 5 Jahre nach dem EU-weiten Inkrafttreten der Verordnung. Da ist offensichtlich etwas so kompliziert gemacht worden, dass die praktische Arbeit damit schwierig wird. Das droht uns bei der KI-Regulierung jetzt auch.

Was befürchten Sie?
Wir gewinnen den Wettbewerb nicht mit Regulierung. Diesen Aspekt hat man in Brüssel zu wenig im Blick. Europa reguliert sehr stark nur zum Schutz und zur Verteidigung des Status quo – und nicht für das, was uns wirtschaftlich nach vorn bringt.

Gute Absichten, bürokratischer Rattenschwanz

Die Kommission argumentiert, die Regulierung werde auch ein Innovationstreiber sein.
Die neue KI-Regulierung hat in ihrer jetzigen Form fast 300 Seiten. Sie muss jetzt in nationales Recht umgesetzt werden. Das bedeutet wieder viel Unsicherheit für Unternehmen, die in KI investieren wollen. Und es erschwert die Entwicklung, weil jeder Angst hat, etwas falsch zu machen.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagt dabei, Europa brauche mehr Tempo bei der KI.
Brüssel ist leider zu weit weg von der Realität. Die Intentionen der EU-Kommissionen sind gut, es ist die Umsetzung, die uns allen Probleme macht. Jede gute Idee in Brüssel verursacht einen bürokratischen Rattenschwanz, mit dem unsere Unternehmen kämpfen müssen.

Welche Folgen hat das für unsere Unternehmen?
Wir haben in Deutschland ein paar richtig gute KI-Start-ups, Aleph Alpha etwa ist in aller Munde. Wir alle wollen, dass die vorankommen. Wenn aber 10 oder 15 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nun mit Regulierungsfragen beschäftigt werden müssen, bedeutet das: weniger Forschung, Entwicklung und Innovation. So schwächen wir uns selbst.

Politik tickt zu langsam

Sie haben vor Kurzem Bundesdigitalminister Volker Wissing interviewt. Wie groß ist die Chance, der Politik Ihre Sichtweise näherzubringen?
Wenn ich die Frage beantworten könnte, wäre ich schon ein Stück weiter. Meine Erfahrung ist bislang, dass Politik zwar sehr aufgeschlossen ist, aber mitunter doch relativ langsam tickt. Wir brauchen einen starken Mindset-Shift in Brüssel und in Deutschland. Es dauert einfach alles viel zu lange. Daran verzweifeln viele Firmen.

Was könnte helfen?
Wir brauchen mehr Dialog und Zusammenarbeit. Das war für mich der Grund, die Bitkom-Präsidentschaft anzunehmen. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass dieser Prozess endlich in Gang kommt. Das ist im Interesse unseres Landes und aller Unternehmen.

Schlüsseltechnologie Chip

Sie warnen, Deutschland könnte zu einer digitalen Kolonie degradiert werden, die von chinesischen Smartphones und US-Software abhängig ist. Begrüßen Sie vor dem Hintergrund die Ansiedelung des US-Halbleiterherstellers Intel in Magdeburg?
Ja, das unterstütze ich. Ich finde das ist eine gute Maßnahme. Sie ist teuer, das ist, was heftig kritisiert wird. Was man aber nicht übersehen darf: Wir befinden uns in einem globalen Wettbewerb um diese Schlüsseltechnologie Chip. Den braucht jede Industrie. Ohne den Chip geht nichts mehr.

Ökonomen halten diese Subvention für Intel für falsch.
Da widerspreche ich. Die Summen, die die USA und China dafür zur Verfügung stellen, sind um ein Vielfaches höher als bei uns.

Holen uns das Packaging zurück

Sind 10 Milliarden Euro nicht zu viel für eine Fabrik?
Diese Fabrik zieht viele Dinge nach sich. Die Chipindustrie ist ein Ökosystem. Das beginnt beim Chipdesign, wir haben das ganze Thema der Zulieferindustrie, der nötigen Maschinen, den Impuls für Forschung und Entwicklung.

Wir holen zurück, was komplett nach Asien gewandert ist: das sogenannte Packaging, das Aufbrechen der Waver in einzelne Chips und das Verbauen in Komponenten. Natürlich reichen die jetzt geplanten Fabriken in Magdeburg, Dresden und Ensdorf nicht. Man müsste noch mehr tun.

Die Ampel hat eine Digitalstrategie aufgelegt. Was halten Sie davon?
Wir haben mit dem Bitkom diese Strategie analysiert. Es sind 334 Maßnahmen, die die Bundesregierung aus Koalitionsvertrag und Digitalstrategie definiert hat. Das ist ein gutes Werk geworden – das muss man der Ampel zugutehalten.

Digitalstrategie schneller umsetzen

Wie steht es mit der Umsetzung?
Da wünsche ich mir mehr Tempo und Kraft. Bislang sind erst 60 Maßnahmen abgeschlossen. Es liegt aber nicht nur an der Ampel, dass es nicht schneller geht. Was ich kritisiere, ist generell die schlechte Zusammenarbeit im politischen System Deutschlands. Das bremst die Digitalisierung aus.

Was meinen Sie konkret?
Beispiel Datenschutz. Wir haben einen Bundesbeauftragten für Datenschutz. Dazu kommen aber noch 17 Landesdatenbeauftragte, Bayern hat 2. Wir als Unternehmen spüren die Konsequenzen. Jedes Bundesland legt den Datenschutz anders aus. Das ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen: einen einheitlichen Standard. Daran krankt Deutschlands Digitalisierung.

Datengetriebene Geschäftsmodelle fördern

Derzeit versucht die Bundesregierung, den Austausch von Daten in unserer Wirtschaft zu fördern. Bringt uns das weiter?
Ja, absolut. Wir sind bei datengetriebenen Geschäftsmodellen weltweit nicht in der Spitzengruppe. Um das zu ändern, müssen Unternehmen intern und gemeinsam den Wert ihrer Daten heben. Massive Wertschöpfungspotenziale bestehen etwa bei der Verbesserung von Produkten oder durch Verkauf, Vermittlung und Aggregation von Daten. Daher ist es eine gute Idee, Dateninfrastrukturen und Datenräume aufzubauen, wo die Daten zusammenfließen und Dateninhaber wissen, wer Zugriff erhält.

Experten sagen, Gesundheitsdaten werden das nächste große Thema der Digitalwirtschaft sein.
Ja, für die Medizin wird das ausschlaggebend sein. Da macht es ganz viel Sinn, Daten zusammenzuführen, um Krankheiten früher und besser zu erkennen. Genau das macht KI so kraftvoll. Das kann ein großer Vorteil für die ganze Menschheit sein. Solche Dinge müssen wir vorantreiben.

Firmen schützen, großen Datenpool schaffen

Bislang sind nur 17 Prozent der deutschen Unternehmen bereit, ihre Daten zu teilen. Wie soll sich das ändern?
Das ist ein Problem. Es gab eine gute Initiative, um digitale Identitäten besser zu managen und zu koordinieren. Anfangs haben viele Firmen mitgemacht. Am Ende ist das gescheitert, weil niemand seine Daten teilen wollte. Wir müssen dafür eine clevere Lösung finden, die die Geschäftsgeheimnisse der Firmen schützt, aber dennoch einen großen Datenpool schafft. Sonst werden wir im internationalen Wettbewerb nicht bestehen.

Beim E-Government gibt es wenige Fortschritte. Wie peinlich ist das für einen Hightech-Standort?
Wenn Bund, Länder und Kommunen nicht besser zusammenarbeiten, bekommen wir das nicht hin: E-Government, eine Cloud-Infrastruktur, digitale Identitäten, die digitale Ausstattung der Schulen. Es gibt aber Fortschritte, die Hoffnung machen.

E-Rezept und E-Patientenakte: Gesundheitswesen holt auf

Wir sind gespannt.
Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens bewegt sich nach Jahrzehnten des Stillstands jetzt richtig viel. Das elektronische Rezept oder demnächst die elektronische Patientenakte, das sind enorme Fortschritte.

Wie wirken sich diese Fortschritte aus?
Die Patienten sind endlich Herr ihrer Gesundheitsdaten und haben immer Zugriff auf ihre Röntgenbilder oder ihre persönliche Krankengeschichte. Es werden teure und belastende Doppeluntersuchungen vermieden, Ärzte können schneller und erfolgreicher diagnostizieren und behandeln. Das ist ein riesiger Fortschritt.

Bleiben die Funklöcher.
Auch bei den Telekommunikationsnetzen geht es voran. Bei der digitalen Infrastruktur hat sich Deutschland im EU-Vergleich laut Desi-Index zwischen 2018 und 2022 von Rang 16 auf Rang 4 nach vorn gearbeitet. Wenn Politik und Wirtschaft an einem Strang ziehen, können wir auch in Deutschland in kurzer Zeit richtig viel bewegen.

Weitere 50 Milliarden Euro für Netzausbau

Warum ging es in diesem Fall so schnell?
Das ist der Erfolg einer konzertierten Aktion der Telekommunikationsunternehmen mit dem Bundesdigitalministerium. Die Unternehmen haben sich bereit erklärt, in der aktuellen Regierungsperiode weitere 50 Milliarden Euro in den Netzausbau zu investieren. Und die Politik hat an ein paar entscheidenden Stellen die Regeln angepasst und Genehmigungsverfahren beschleunigt.

Können Sie da ein Beispiel nennen?
Bislang mussten Funkmasten mindestens 30 Meter Abstand von Autobahnen haben. 30 Meter von der Autobahn ist man oft im Landschafts- oder Naturschutzgebiet. Versuchen Sie mal, dort einen Funkmast zu bauen. Den Mindestabstand hat man auf 10 Meter verkürzt – und schon schließen sich die Funklöcher. So einfach kann es manchmal gehen. Wenn wir so weitermachen, sind wir in Europa bald auf Platz zwei oder drei. Das zeigt: Wenn wir wollen, können wir.

Brauchen hierzulande ein klares Ziel, um Dinge schnell umzusetzen

Warum wollen wir nicht öfter?
Ich sehe da ein Grundmuster in Deutschland. Wenn wir wirklich ein klares Ziel, einen Nordstern haben, werden Dinge auch schnell umgesetzt. Der fehlt der Ampel, obwohl sie sich als Fortschrittskoalition bezeichnet. Unser Land hat ganz viel Potenzial in der Industrie, auch in der Digitalisierung. Aber wir nutzen es nicht, weil die Ampel keinen Nordstern hat.
Niemand weiß, wohin das Land eigentlich will.

Immerhin hat die Regierung in Berlin zum ersten Mal eine Start-up-Strategie verfasst.
Wir haben mehr als 500 Start-ups bei uns im Bitkom und haben an der Strategie intensiv mitgearbeitet. Es stimmt, es gibt Verbesserungen vor allem beim Mitarbeiterbeteiligungsverfahren. Ein wichtiger Punkt. Junge Leute arbeiten oft für wenig Geld bei Start-ups. Die Mitarbeiterbeteiligung gibt ihnen die Chance, am finanziellen Erfolg des Unternehmens teilzuhaben. Das ist jetzt erleichtert und verbessert worden. Auch das Zukunftsförderungsgesetz bringt Start-ups Erleichterungen und macht ihre Förderung einfacher.

Risikokultur fördern: Wirtschaft in der Pflicht

Das klingt doch alles ganz gut.
Ja, nur brauchen wir insgesamt mehr Risikobereitschaft. Ich frage mich oft, wo die geblieben ist. Bei einem Investment in Start-ups gibt es eben keine hundertprozentige Gewissheit. Von 10 scheitern vielleicht 8, eines läuft okay und 1 startet richtig durch. Diese Risikokultur ist uns verloren gegangen. Die kann die Regierung nicht verordnen, das ist der Job der Unternehmerinnen und Unternehmer. Wir brauchen mehr Leute, die Lust haben, etwas zu bewegen.

Ihr Verband schockt uns in jedem Jahr mit enorm hohen Zahlen zur Cyberkriminalität.
Ja, den Gesamtschaden durch Spionage, Sabotage und Datendiebstahl für die deutsche Wirtschaft haben wir für 2023 mit 206 Milliarden Euro berechnet. Das liegt nur knapp unter dem Rekordwert von 223 Milliarden Euro aus dem Coronajahr 2021.

KMU verstärkt für Cybersicherheit sensibilisieren
Neben mehr Wettbewerbsfähigkeit brauchen wir im Land folglich auch mehr Cybersicherheit. Wir müssen stärker investieren in Technologie und Aufklärung, gerade bei den KMU gibt es noch viel Handlungsbedarf. Ihr in der IHK macht viele Veranstaltungen dazu.

Was halten Sie von dem Einwand, gute Cybersicherheit sei für viele kleine Firmen zu teuer?
Viele Probleme lassen sich mit ganz einfachen Mitteln lösen. Man sagt, die Technologie der Angreifer sorgt für 50 Prozent der Sicherheitsrisiken, die anderen 50 Prozent sitzen vor dem Computer. Das sind die Menschen, die man sensibilisieren muss für das, was sie nicht tun sollen.


Zur Person: Ralf Wintergerst

Ralf Wintergerst ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Giesecke+Devrient GmbH (G+D). Im Juni 2023 wurde er zum Präsidenten des Digitalverbands Bitkom gewählt. Darüber hinaus ist er Aufsichtsratsvorsitzender der secunet Security Networks AG (Essen) und Verwaltungsratspräsident der netcetera AG (Zürich).

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