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Problemlöser FERNRIDE: Die Zukunft der Logistik

FERNRIDE ©
Autonom unterwegs – Container-Transport ohne Fahrer

Ein Remote-Fahrer steuert 4 Fahrzeuge: Das Start-up FERNRIDE will die Hof- und Hafenlogistik mit einem autonomen Fahrsystem revolutionieren

Von Monique Opetz, IHK-Magazin 05-06/2025

Kommt man auf das Gelände der FERNRIDE GmbH im Münchner Nordwesten, fallen sofort 2 Terminal-Zugmaschinen auf. Sie sind in Häfen und Logistikzentren im Einsatz, um Container zu transportieren. Die Zugmaschinen befinden sich auf einer Outdoor-Testfläche, die mit Fahrbahnlinien und Hindernissen ausgestattet ist. „Testgelände für automatische Fahrzeuge“ ist auf einem rot-weißgestreiften Schild zu lesen, „Teleoperation Control Center“ auf einem anderen.

Die Fahrzeuge fahren autonom, wenn sie auf dem Testgelände ihre Runden drehen oder um Pylonen manövrieren. Nur bei besonders schwierigen Manövern schaltet sich ein Remote-Fahrer ein und steuert aus der Ferne – vor einem Monitor samt Lenkrad, Pedalen und Gangschaltung. Hendrik Kramer, einer der Gründer und CEO von FERNRIDE, spricht von „human-assisted autonomy“, einer Kombination aus menschlicher und künstlicher Intelligenz (KI) .

Finale Versuchsreihe mit leerem Lkw-Cockpit

Bis vor Kurzem saßen während der Tests noch Sicherheitsfahrer in den Kabinen. Aktuell laufen Versuche mit leerem Lkw-Cockpit. Es ist die letzte Stufe auf dem Weg zum autonomen Fahren in der Hof- und Hafenlogistik. Das bedeutet: Zukünftig fahren die Trucks dank automatischer Assistenz- und Kupplungssysteme sowie der Live-Daten von Sensoren und Kameras selbstständig. Sie werden von einer Software und künstlicher Intelligenz gesteuert.

„Wir haben einen Roboter gebaut, der automatisch einen Logistikprozess händeln kann“, erklärt Kramer. Damit das autonome System tatsächlich zum Einsatz kommt, muss nun in einem aufwendigen Testprozess das Safety- und Security-Konzept am Produkt bewiesen werden, also der Schutz von Umwelt und Menschen beim Betrieb und die Sicherheit des Systems. Das geschieht aktuell nicht nur auf dem Betriebsgelände von FERNRIDE, sondern auch bei Kunden und auf einer ADAC-Teststrecke in der Nähe von München.

Fahrermangel durch KI entschärfen

„Ziel ist, das erste Unternehmen in Europa zu sein, das in einem Hafen ohne Fahrer fahren darf“, sagt Kramer und spricht von einem „Meilenstein für die Industrie“. Denn laut Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik Entsorgung fehlten Ende 2024 bundesweit 100.000 Lkw-Fahrer. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht: Jährlich gehen mehr als 30.000 Fahrer in Rente, weit weniger Berufsanfänger rücken nach. Das autonome System könnte helfen, den Fachkräftemangel zu entschärfen.

Kramer hat seine Mitgründer Jean-Michael Georg und Maximilian Fisser während seines Studiums an der TU München kennengelernt. 2019 gründeten sie FERNRIDE aus dem weltweit führenden Forschungslabor für Teleoperation am Lehrstuhl für Fahrzeugtechnik aus. 10 Jahre Forschung bilden die Basis für ihre skalierbaren Automatisierungslösungen in der Hof- und Hafenlogistik.

„Human-assisted autonomy“-Ansatz

Dass die Technologie zukunftsweisend ist, merkte das Trio recht schnell: Wenige Wochen nach der Gründung war die erste Finanzierungsrunde bereits abgeschlossen, die ersten Mitarbeitenden eingestellt und der Technologietransfer von der Uni in ein industrielles Produkt gemacht.

Mittlerweile gehören 150 Beschäftigte zum Team. Und die ursprüngliche Idee des rein ferngesteuerten – teleoperierten – Fahrens wurde von dem „human-assisted autonomy“-Ansatz ersetzt. „Wir nutzen so viel KI wie möglich für das autonome Fahren, aber so viel Mensch wie nötig, um den Logistikern eine 100-prozentige Verfügbarkeit der Systeme zu garantieren“, so Kramer.

Künstliche Intelligenz kommt beispielweise zum Einsatz, wenn es um die Konnektivität, also die Verbindungsfähigkeit, zwischen den Fahrzeugen und dem Teleoperator geht. Damit diese durchgehend gewährleistet ist, sind 6 SIM-Karten von 3 Anbietern in den Konnektivitätsmodulen integriert. „Unser Algorithmus entscheidet, welches die beste Verbindung ist“, sagt der 30-Jährige. Funklöcher darf es nicht geben.

Location, Verhalten, Wetter simulieren

KI helfe außerdem dabei, das Umfeld wahrzunehmen. Wer autonom fahren will, müsse als Erstes verstehen: Wo befinde ich mich? Was machen die anderen Akteure um mich herum? Und wie verändern sich die Verhaltensweisen der verschiedenen Akteure in den nächsten Sekunden? „Dabei muss man teilweise in die Zukunft projizieren. Das berechnen wir mithilfe von KI“, sagt Kramer.

Auch für Simulationen nutzt das FERN-RIDE-Team künstliche Intelligenz, etwa um verschiedene Witterungsbedingungen zu testen. Mithilfe von synthetischem Regen oder Schnee simulieren die Mitarbeitenden Nässe oder Glätte auf der Fahrbahn – so können sie vorab virtuell testen, wie die Zugmaschinen darauf reagieren.

Menschliche Intuition schwer zu ersetzen

Trotz allem braucht das System einen menschlichen Fahrer. Doch wann kommt der zum Einsatz? Laut Kramer gibt es hierfür 2 Szenarien: die geplanten und die ungeplanten. „Die geplanten sind Manöver innerhalb des logistischen Prozesses, die besonders herausfordernd sind für eine KI“, erklärt er.

Das ist etwa der Fall, wenn der Lkw unter dem Kran positioniert werden muss, der die Container vom Schiff auf die Ladefläche hebt – eine Zentimeterarbeit. „Ein Mensch macht das fast intuitiv. Das einem Algorithmus beizubringen, ist relativ schwer“, sagt Kramer. Bis dies funktioniere, könnte es noch 4 bis 5 Jahre dauern, schätzt er. So lange will er nicht warten. Deswegen setzt FERNRIDE auf die Zusammenarbeit von Mensch und KI.

Das System trainieren: Tüte statt Person

Die 2. Möglichkeit für den menschlichen Einsatz ist ein Szenario im Hafen, bei dem das Sicherheitssystem das Fahrzeug anhält. Auslöser könne etwa eine Plastiktüte sein, die das System fälschlicherweise für einen Menschen hält. Der Remote-Fahrer am Monitor erkennt die Tüte und gibt dem System per Mausklick den Befehl weiterzufahren. Auch dabei wird das System trainiert und lernt aus diesen Daten.

Momentan überwacht ein Teleoperator 4 Fahrzeuge. „Das ist effizient für unsere Kunden, denn am Ende haben sie den gleichen logistischen Durchsatz erreicht mit einem Viertel der menschlichen Zeit“, betont Kramer. Damit wären in Zukunft deutlich weniger Fahrer notwendig.

Vision als Europas Vorreiter realisierbar

Sein Unternehmen arbeitet bereits mit Kooperationspartnern wie dem Logistiker DB Schenker oder der Hamburger Hafengesellschaft HHLA in Estlands Hauptstadt Tallinn zusammen. Noch in diesem Jahr sollen die Tests für das Sicherheitskonzept des „human-assisted autonomy“-Ansatzes abgeschlossen werden – damit könnte die Vision von FERNRIDE wahr werden: als erstes Unternehmen in Europa in einem Hafen ohne Fahrer zu fahren.

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