Digitalisierung | Standortpolitik

Fantastische Aussichten

Brainlab ©
3-D-Einblicke in den Körper – anatomische Strukturen werden in Mixed-Reality-Brillen projiziert

Mixed Reality entsteht aus der Verschmelzung der analogen mit der digitalen Welt. Für die Wirtschaft ergeben sich daraus ungeahnte Potenziale.

Josef Stelzer, Ausgabe 09/20

Bei Bauarbeiten passiert es immer wieder: Ein Bagger kappt aus Versehen ein Kabel und der Strom im ganzen Viertel ist für Stunden weg. Manchmal ist es auch eine Gasleitung, die beschädigt wird, oder ein anderes Versorgungsnetz. Dabei ließen sich solche Unfälle leicht vermeiden – das verspricht zumindest die Zukunftstechnologie Mixed Reality (MR). Dank spezieller MR-Headsets mit integriertem Bildschirm, automatischer Bewegungserkennung und Kopfhörer können Ingenieure oder Bauarbeiter auf einen Blick ermitteln, wo gebaggert werden darf und wo nicht. »Wenn die geografischen Daten über die genaue Lage der Leitungen im Untergrund zur Verfügung stehen, lassen sich dank Mixed Reality die bei Bauarbeiten drohenden Schäden an den Netzen sowie Bauverzögerungen vermeiden«, erklärt Cagatay Oezbay, Gründer und Geschäftsführer der Coezbay GmbH in Grünwald.

Überdies könnte ein MR-System automatisch erfassen, wo sich Maschinen oder Personen auf der Baustelle und in der Umgebung befinden, und Vorschläge für das weitere Vorgehen liefern. »Im Brücken- und Straßenbau bietet Mixed Reality enorme Potenziale«, ist der 35-jährige Unternehmer überzeugt.Und nicht nur dort. »Für Mixed Reality werden sich in Zukunft zahlreiche neue Einsatzfelder auftun«, erwartet Oezbay.

Unsere Welt mit 3-D-Simulationen ergänzt

Mixed Reality ist eine Variante der Reality-Technologien (Abgrenzung siehe unten). Sie erlaubt es, die physische, greifbare Welt mit per Software erzeugten 3-D-Simulationen gleichsam zu ergänzen. Erste Anwendungen weisen auf die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten dieser Technologie hin. Im Gesundheitssektor zeigen Mixed-Reality-Lösungen bereits, was sie können. Der Münchner Medizintechnikhersteller Brainlab AG hat 2019 ein System auf den Markt gebracht, mit dem Ärzte oder Medizinstudenten völlig neuartige Einblicke in den menschlichen Körper erhalten.

Organe in 3-D und beliebiger Vergrößerung

Es zeigt fotorealistische 3-D-Farbbilder, zum Beispiel von einzelnen Organen, frei schwebend und in fast beliebiger Vergrößerung im Raum. Erzeugt werden die in eine Mixed-Reality-Brille projizierten virtuellen anatomischen Strukturen vor allem durch Daten, die mittels Magnetresonanz- und Computertomografie gewonnen werden. Die Bilder werden so in die Brille projiziert, dass Ärzte um ein menschliches Gehirn scheinbar herumgehen, ihre Perspektiven beliebig verändern und in die Gefäßstrukturen regelrecht "eintauchen" können. Das Organ wird quasi von innen mit all seinen Bestandteilen räumlich sichtbar.

»Mixed Reality ermöglicht eine sehr gute dreidimensionale Wahrnehmung der Pathologie und der anatomischen Strukturen«, sagt Brainlab-Produktmanagerin Linda Bruetzel (32). »Zudem ist die Darstellung interaktiv, sodass ein Chirurg je nach seinen Bewegungen einen anderen Blickwinkel auf Organe und Gefäße erhält.«

Optische Unterstützung für Chirurgie, in der Ärzteausbildung und Patientenaufklärung

Die 3-D-Ansicht unterstützt Chirurgen dabei, selbst komplexe, hochfeine Strukturen der Gefäßsysteme sowie die Ausbreitung und Größe von Tumoren genau zu erkennen. Die Technologie wird bereits zur Vorbereitung auf chirurgische Eingriffe sowie bei der Zusammenarbeit von Ärzten aus verschiedenen Fachrichtungen eingesetzt. »Weitere Anwendungsgebiete sind die studentische Ausbildung und die Patientenaufklärung, da nun Eingriffe anhand von 3-D-Modellen erklärt werden können,« so Physikerin Bruetzel.

Denkbar ist, dass die Brainlab-Technologie künftig im Operationssaal zum Einsatz kommt: Der Chirurg erhält relevante Zusatzinfos direkt in seine Mixed-Reality-Brille und kann gleichzeitig den Patienten durch dieselbe Brille im Auge behalten. Auf die Erschaffung digitaler Welten setzt auch Jonas Rothe, Geschäftsführer und Gründer der TimeRide GmbH in München. Das Ende 2016 gegründete Unternehmen bietet virtuelle Zeitreisen in Berlin, München, Köln, Dresden und Frankfurt am Main.

Anschauliche Zeitreisen

Am TimeRide-Standort München schweben die Besucher bereits mittels VR-Brillen im simulierten Pfauenwagen des Bayernkönigs Ludwig II. durch 7.000 Jahre bayerische Geschichte. Die »Zeitreisenden« tauchen dabei virtuell in historische Geschehnisse ein und fliegen beispielsweise zum ersten Oktoberfest im Jahr 1810 über die Münchner Theresienwiese. Um solche Erlebnisse zu intensivieren und Mixed-Reality-Erfahrungen zu ermöglichen, will der 33-jährige Unternehmer zusätzliche Elemente in die virtuellen Zeitreisen einbauen. »Das können zum Beispiel Temperaturempfindungen sein oder Vibrationen.« Denkbar sei, dass weitere TimeRide-Besucher per MR-Headset als Avatare erscheinen, etwa um mit den anderen Besuchern zu plaudern und weitere Reisepläne zu besprechen. Rothe ist überzeugt: »Digitale Welten werden generell mit dem realen Alltagsgeschehen immer mehr verschmelzen, die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt.«

Drei Varianten "Wirklichkeit":

  • Augmented Reality (AR): Erweiterte Realität, die digitale Informationen etwa am Smartphone oder per AR-Brille passend zum realen Blickfeld bereitstellt. Träger sehen zum Beispiel Reparaturanweisungen für die Werkzeugmaschine, vor der sie gerade stehen.
  • Mixed Reality (MR): Mischung von realen und virtuellen Inhalten, deren Anteile je nach Einsatz variieren können. Denkbar ist auch das Einblenden realer Personen in virtuelle Welten.
  • Virtual Reality (VR): Virtuelle, künstlich erschaffene Umgebung, die von der realen Welt weitgehend abgeschottet ist. Architekten und Bauherren können mit VR-Brillen zum Beispiel Büroräume oder Wohnungen virtuell »besichtigen« und einen wirklichkeitsnahen Eindruck erhalten, lange bevor der Bau auch nur begonnen hat.

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