Digitalisierung | Betrieb + Praxis
Extrem sparsam und schnell
Neuromorphic Computing nimmt sich das menschliche Gehirn gewissermaßen als Vorbild. Warum die Zukunftstechnologie wegweisend ist – auch für mittelständische Unternehmen.
Von Josef Stelzer, IHK-Magazin 04/2023
Künstliche Intelligenz (KI) kommt in vielen Bereichen zum Einsatz: auf Social-Media-Plattformen, wo sie Informationen je nach Nutzerprofil filtert. Bei der Sicherheitsüberwachung, für die sie verdächtige Bewegungen analysiert. Oder im Gesundheitssektor, wo sie hilft, Röntgenbilder auszuwerten.
Die in Software eingebettete KI errechnet treffsichere Vorhersagen oder antwortet auf Kundenanfragen. Sie entscheidet selbstständig, erweist sich als lernfähig und soll letztlich einen Beitrag leisten, um Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsprozesse zu verbessern.
Hohe Energieeffizienz
Doch künstliche Intelligenz erfordert von den Computern auch sehr viel Rechenpower – und verbraucht damit enorm viel Strom. Abhilfe könnte hier Neuromorphic Computing schaffen. Dabei handelt es sich um neuartige Mikrochips oder Sensoren, die im Vergleich zu herkömmlicher Technik erheblich weniger Energie benötigen. „Von der Technologie können auch mittelständische Unternehmen profitieren", sagt Axel von Arnim (49), Leiter des Kompetenzfelds Neuromorphic Computing bei der fortiss GmbH, dem Landesforschungsinstitut des Freistaats Bayern für softwareintensive Systeme in München. Roboter, Kameras und andere mobile Geräte zählen zu den künftigen Einsatzmöglichkeiten.
Extrem kurze Reaktionszeit
„Neuromorphe Chips sind bis zu tausendmal energieeffizienter als herkömmliche Mikrochips und weisen außerdem eine extrem geringe Latenzzeit von weit weniger als einer Tausendstelsekunde auf, sie reagieren also viel schneller", betont von Arnim. Zudem ermöglichen neuromorphe Mikrochips ein kontinuierliches, fast menschliches Lernen. Bereits erlernte Informationen kann die KI dank solcher Chips weiterhin verwenden, ohne diese wieder zu „vergessen". Zeitraubende Programmierarbeiten werden daher in vielen Fällen überflüssig.
fortiss lässt Unternehmen die KI testen
Seit 2020 stellt fortiss Unternehmen und Forschern eine flexible Experimentierplattform zur Verfügung, um KI-Anwendungen zu testen. Zu dieser Plattform gehört ein Industrieroboter, der mit der innovativen Chiptechnologie ausgestattet ist. Hintergrund: Roboter werden häufig mit Batterien betrieben. Doch gerade deren begrenzte Kapazität schränkt die Einsatzmöglichkeiten der Automaten stark ein.
Vorbild: das menschliche Gehirn
Ein bei fortiss umgebauter Roboter bietet dagegen dank Neuromorphic Computing weitaus mehr Spielraum. Seine Bewegungen werden von einem energieeffizienten neuromorphen Chip berechnet, der auf „spikenden", gleichsam pulsierenden neuronalen Netzwerken basiert. Diese sind ähnlich aufgebaut wie die biologischen neuronalen Netzwerke des menschlichen Gehirns, das Informationen aus Milliarden von verbundenen Nervenzellen, den sogenannten Neuronen, verarbeitet.
Eingebaut ist der Chip in ein separates Gerät, das per USB mit einem Computer verbunden wird. Dieser Computer wiederum steuert den rund 1,5 Meter langen Greifarm des Roboters. „Seine Bewährungsprobe hat er im Rahmen eines ersten Projekts bereits bestanden", so von Arnim. In einem Folgeprojekt soll der Roboter das Einstecken von Kabeln in die passenden Buchsen lernen. Ein Vorteil der neuartigen Chips: Ihr äußerst geringer Stromverbrauch wird den Einsatz von besonders kleinen, leichten und kostengünstigen Batterien in künftigen Industrierobotern ermöglichen.
Von Arnims Entwicklerteam hat bislang eine Reihe von Gemeinschaftsprojekten mit Unternehmen abgeschlossen. Beteiligt waren unter anderem der IT-Konzern IBM und der Chiphersteller Intel. Weitere fünf Projekte laufen noch, darunter ein Forschungsvorhaben mit einem deutschen Automobilhersteller.
Marktreife bald erreicht
„Die Einsatzmöglichkeiten und das Marktpotenzial neuromorpher Bauteile sind enorm, von industriellen Anwendungen über Haushaltsgeräte bis zu Smartphones", bekräftigt der Forscher. „Und es dauert nur noch wenige Jahre bis zur Marktreife." Mittelständische Unternehmen sollten darauf achten, „dass sie den Trend zum neuromorphen Computing nicht verpassen".
Vielfältige Einsatzmöglichkeiten
Die Einsatzmöglichkeiten der Technologie sind breit. So sind Vorteile bei Kamerasensoren denkbar, die etwa in mobilen Endgeräten zum Einsatz kommen. Das können zum Beispiel Drohnen für Überwachungsflüge sein. Dabei ergibt sich gegenüber herkömmlichen Geräten eine wesentlich längere Betriebsdauer, weil der Stromverbrauch nur einen Bruchteil beträgt. Geeignet sind die neuromorphen Bildverarbeitungssensoren auch für diffuses Licht oder andere schwierige Lichtverhältnisse.
Durch die hohe Energieeffizienz kann die innovative Technologie zudem dabei helfen, eine der drängendsten Herausforderungen der Digitalisierung zu lösen – den rasch steigenden Bedarf an Rechenleistung mit dem enormen Stromverbrauch in den Rechenzentren. Nach Angaben des Branchenverbands Bitkom benötigen allein die 300 großen und rund 50.000 kleineren Rechenzentren in Deutschland etwa 17 Milliarden Kilowattstunden pro Jahr – rund drei Prozent des bundesweiten Gesamtverbrauchs. Hinzu kommen zahllose privat oder gewerblich verwendete Rechner. Neuromorphe Chips in Servern sowie anderen Computern könnten diesen Energiebedarf gravierend senken.
Stichwort: Die fortiss GmbH
Das Landesforschungsinstitut des Freistaats Bayern fortiss betreibt anwendungsnahe, marktorientierte Forschung, etwa für die Automobilindustrie, die Luft- und Raumfahrt, das Gesundheitswesen, die Energiewirtschaft sowie für Tourismus und Landwirtschaft. Zu den Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem:
- Nutzungsmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz (KI)
- Entwicklung von Anwendungen für IIoT (Industrielles Internet der Dinge), etwa für autonome Fahrzeuge und Produktionsroboter
- maschinelles Lernen (Machine Learning) mit Beratungsdienstleistungen, beispielsweise für autonomes Fahren, vorausschauende Instandhaltung oder medizinische Diagnostik
- Forschung im Bereich digitale Plattformen mit der Entwicklung von Prototypen
IHK-Veranstaltungstipps
KI-Forum München
Im Mai findet bundesweit der »KI-Monat mAI« statt. Ziel ist es unter anderem, künstliche Intelligenz und ihre Anwendungspotenziale vorzustellen. Daher bietet die IHK für München und Oberbayern mit der fortiss GmbH und der appliedAI Institute for Europe gGmbH eine kostenfreie Tagung zur Einführung in die Technologie. Best-Practice-Beispiele zeigen Chancen, Herausforderungen und Auswirkungen. Es wird kein technisches Vorwissen vorausgesetzt.
Termin:
23. Mai 2023, 14–17 Uhr
Ort:
IHK Campus, Orleansstraße 10–12,
81669 München
Die Teilnahme ist kostenfrei.
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