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Intelligent steuern
KI-Tools helfen, die Schienen- und Straßennetze geschickter zu nutzen. Wie die Technologie den Verkehrsfluss verbessert – und welche Herausforderungen noch zu bewältigen sind.
Von Stefan Bottler, IHK-Magazin 01-02/2025
Wer mit der Münchner S-Bahn fährt, kennt das Problem nur allzu gut: Regelmäßig kommen Züge zu spät oder werden gestrichen, weil Fahrer ausfallen, Waggons fehlen oder Störungen an Stellwerken auftreten. An Versuchen des S-Bahn-Betreibers Deutsche Bahn, dies zu ändern, fehlt es nicht. Seit 2022 setzt der Konzern in den S-Bahn-Leitstellen künstliche Intelligenz (KI) ein.
Ein digitaler Zwilling analysiert laufend die aktuelle Verkehrslage und entwickelt Szenarien für die nächsten Stunden. Wenn Störungen drohen oder gar eintreten, warnt er die Disponenten in der Leitstelle. Er macht Vorschläge, wie trotzdem ein einigermaßen einwandfreier Betriebsablauf möglich ist beziehungsweise wiederhergestellt werden kann.
Digitaler Zwilling berechnet Folgen
Auch bei kleinen Zwischenfällen greift der Zwilling ein. Wenn beispielsweise eine Klasse mit 30 Schülern in eine S-Bahn steigt und sich die Abfahrtszeit dadurch geringfügig verzögert, rechnet er laut Bahn „in Sekundenbruchteilen“ die Konsequenzen für den gesamten S-Bahn-Verkehr durch. Die KI schlägt dann Maßnahmen vor, die helfen, die Auswirkungen eines Störereignisses zu minimieren. „Das Tool verhindert keine Zwischenfälle“, erklärt ein Sprecher der Bahn. „Aber es reduziert deren Auswirkungen und verbessert die Pünktlichkeit.“ Für die Deutsche Bahn ist das IT-Werkzeug eine kleine Revolution: der Einstieg in die KI-gestützte Verkehrssteuerung.
Experten versprechen sich von solchen Lösungen einiges. Mit der Nutzung digitaler Daten können Infrastrukturbetreiber die vorhandene Infrastruktur besser auslasten und Verkehrsströme prognostizieren. „KI kann Verkehre auf Schiene, Straße und Wasser sowie in der Luft besser steuern“, sagt Korbinian Leitner, Leiter des Referats für Verkehr bei der IHK für München und Oberbayern.
Kapazitäten bestmöglich nutzen
Wenn Infrastruktur nicht weiter oder nur geringfügig ausgebaut werden kann, kommt es darauf an, die vorhandene Kapazität bestmöglich zu nutzen. „Mit KI wird der Verkehr flüssiger und die Staugefahr geringer“, so Leitner. Denn KI verwaltet nicht nur vorhandene Daten, sondern lernt auch aus ihnen.
„KI-gesteuerte Lösungen verringern Zeitverluste und reduzieren Schadstoffemissionen“, bestätigt Ludwig Haas (55), Partner des Beratungsunternehmens BearingPoint GmbH, die Vorteile der neuen Tools. Außerdem erleichtern sie die Umsetzung der sogenannten VisionZero, die einen Straßenverkehr ohne Tote und Schwerverletzte anstrebt.
Das größte Potenzial für KI-gestützte Steuerlösungen sieht Haas allerdings im Eisenbahnverkehr. Wenn Leitstellen und Bahnen mit intelligenten Tools ausgerüstet werden, kann seinen Berechnungen zufolge die Infrastruktur um bis zu 20 Prozent besser ausgelastet werden. Eine verlockende Option für die Deutsche Bahn. Denn in den vergangenen Jahren hat sie ihr rund 33.000 Kilometer langes Schienennetz kaum ausgebaut und lediglich einzelne Trassen modernisiert. Mit KI-Tools kann sie deutlich mehr Züge als bisher auf den vorhandenen Schienen fahren lassen.
Leitstellen-Tool für flüssigen S-Bahn-Verkehr
Vor allem die stark frequentierten S-Bahn-Netze profitieren. So setzen zum Beispiel die S-Bahnen im Großraum Stuttgart und im Rhein-Main-Gebiet das Leitstellen-Tool ein. Laut Haas haben die Nahverkehrsanbieter damit die Weichen für einen flüssigeren S-Bahn-Verkehr gestellt. Die Züge müssten seltener ihre Geschwindigkeit reduzieren oder weniger Stopps einlegen, wenn ein anderer Zug einen Streckenabschnitt blockiert.
Und in der bayerischen Landeshauptstadt? „Vor allem in München mit seiner hohen Verkehrsdichte müssen Kapazität und Zuverlässigkeit der S-Bahn dringend verbessert werden“, betont Experte Haas. „Die Digitalisierung sollte deshalb gerade hier konsequent vorangetrieben werden. Weil deutlich vor der Inbetriebnahme der zweiten Stammstrecke ein spürbarer Effekt zu bemerken sein wird, verdient sie die Unterstützung aller Beteiligten.“
„Dispositionsvorgänge vollständig digitalisieren“
Dem stimmt auch Heiko Büttner, Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn für Bayern, zu. Rund 70 Prozent der Störungen im Münchner S-Bahn-Verkehr seien auf Infrastrukturmängel zurückzuführen. Diese Zahl nannte der Bahn-Manager unlängst im IHK-Verkehrsausschuss. „Die Lösung und das Ziel sind deshalb die vollständige Digitalisierung der Dispositionsvorgänge“, so Büttner. „Der Betrieb des Gesamtsystems kann so rascher stabilisiert werden.“
Voraussetzung hierfür ist der vollständige Datenaustausch mit der Bahn-Tochter DB InfraGO (vormals DB Netz), der ab 2025 gewährleistet sein soll. Auch Bahn-Kunden, die in überregionalen Zügen unterwegs sind, können demnach auf bessere Zeiten und pünktliche Fahrten hoffen. Allerdings muss die Bahn dazu eine riesige Rechenleistung bewältigen. Schließlich sind jeden Tag bis zu 40.000 Züge in Deutschland unterwegs.
„Ampel der Zukunft“ reagiert situationsabhängig
Auch für den Straßenverkehr gibt es innovative Steuerlösungen. Sie sind derzeit meist für eine Stadt oder für eine Region konzipiert. „Gegenüber herkömmlichen Algorithmen kann KI die Schaltzeiten noch einmal optimieren“, erklärt Ulrich Haspel (47), Projektleiter Verkehrsmanagement in der Landesbaudirektion Bayern. Wenn beispielsweise nach einem Großevent viele Gäste gleichzeitig mit ihren Pkw starten, können vernetzte Ampeln mit passenden Schaltungen den Verkehrsfluss verbessern.
Das Ziel ist die „Ampel der Zukunft“: Sie reagiert situationsabhängig und schaltet etwa sofort auf Grün, wenn Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr oder Polizei mit Blaulicht heranrasen. Oder sie verlängert Grün für Fußgänger, wenn größere Gruppen die Straße überqueren möchten. Solche Anwendungen werden in vom Bund geförderten Pilotprojekten getestet.
Testläufe in Ingolstadt und Großraum München
Ein Beispiel ist das Projekt KIVI – Künstliche Intelligenz im Verkehrssystem Ingolstadt. Ein Verbund aus Stadt, Hochschulen und Softwareunternehmen untersuchte 3 Jahre lang an 10 innerstädtischen Kreuzungen, wie KI-gesteuerte Ampeln mit Daten von öffentlichem Personennahverkehr, Flottenfahrzeugen, Fahrradfahrern, Fußgängern und anderen Verkehrsteilnehmern den Verkehrsfluss verbessern können. Das Ziel sind Rot- und Grünphasen, die in Echtzeit an das aktuelle Verkehrsaufkommen angepasst werden.
Ein weiteres Pilotprojekt fand im Großraum München statt. In einem „Testfeld für automatisiertes und vernetztes Fahren“ (TEMPUS) ermittelten Verkehrsforscher, wie effektiv vernetzte Fahrzeuge mit intelligenten Lichtsignalanlagen und anderer Verkehrstechnik kommunizieren. Am Projekt beteiligte sich rund ein Dutzend Partner, darunter die Stadt München, der Freistaat Bayern, die Stadtwerke München GmbH, die BMW Group und die Technische Universität München (TUM).
Alte Signalanlagen nachrüsten oder tauschen
Jetzt werden die Ergebnisse solcher und weiterer Projekte ausgewertet. Von einem flächendeckenden Einsatz ist die „Ampel der Zukunft“ trotzdem noch weit entfernt. Voraussetzung hierfür ist die Nachrüstung vorhandener Anlagen. „Ampelgeräte wurden von unterschiedlichen Herstellern produziert“, gibt Haspel zu bedenken. „Manche sind mehrere Jahrzehnte alt.“ Wenn viele Signalanlagen ausgetauscht werden müssen, wird die „Ampel der Zukunft“ richtig teuer.
Strikte Vorgaben für „Hochrisiko-KI“
Außerdem gibt es rechtliche Herausforderungen. Die KI-Verordnung der EU ist am 1. August 2024 in Kraft getreten und muss vom deutschen Gesetzgeber in nationales Recht umgesetzt werden. „An KI-Systeme, die für den Betrieb von Verkehren und anderer kritischer Infrastruktur verwendet werden, stellt der Gesetzgeber besondere Anforderungen“, sagt Matthias Orthwein, Rechtsanwalt der Münchner Kanzlei SKW Schwarz. Solche IT-Lösungen gelten als „Hochrisiko-KI“ und müssen strenge Vorgaben in puncto Gestaltung, Dokumentation und Resilienz erfüllen. Mit dieser Herausforderung stehen Verkehrsunternehmen und -behörden allerdings nicht allein da.
Auch die Energiewirtschaft, die Telekommunikationsunternehmen und ein halbes Dutzend weiterer Branchen zählen zur kritischen Infrastruktur (KRITIS). Sie müssen ihre IT-Systeme entsprechend den Anforderungen des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) besonders gut schützen.