Digitalisierung | Betrieb + Praxis
Bitte barrierefrei!
Viele Unternehmen müssen ab Juni 2025 digitale Barrierefreiheit bieten. Welche Firmen betroffen sind und wie sich die neuen Regeln umsetzen lassen.
Von Gabriele Lüke, IHK-Magazin 01-02/2025
Deutliche Farbkontraste und große Schrift, untertitelte Filme, die Buttons „Leichte Sprache“ und „Gebärdensprache“ auf der Internetseite, Blindenschrift auf dem Geldautomaten. An solchen Details lässt sich erkennen, dass die Betreiber von Webseiten und Geräten bereits in die digitale Barrierefreiheit gestartet sind: Sie machen es Menschen mit Beeinträchtigungen einfacher, an der digitalen Welt teilzuhaben.
Öffentliche Einrichtungen müssen bereits seit September 2020 digital barrierefrei sein. Nun muss die Privatwirtschaft zwar nicht vollumfänglich, aber in Teilen nachziehen. Am 28. Juni 2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft. Das BFSG setzt den European Accessibility Act in nationales Recht um. Praktische Spezifizierungen finden sich in der Europäischen Norm EN 301 549, die sich wiederum auf die internationalen Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) bezieht.
Rechtzeitig starten
„Das BFSG soll das Recht von Menschen mit Behinderung auf digitale Teilhabe stärken und verlangt deshalb, technische, gestalterische, redaktionelle und kommunikative Barrieren zu beseitigen“, erklärt IHK-Juristin Mona Carai. „Die Anforderungen sind anspruchsvoll“, ergänzt Corinna Bruder, IHK-Expertin für Digitalisierung. „Es gilt, schnell zu starten, um ab Juni rechtssicher agieren zu können.“ Die Gesetzesinhalte im Überblick:
„Ohne Erschwernis nutzbar“
- Als digital barrierefrei gelten Produkte (inklusive Verpackung und Anleitung) oder Dienstleistungen, wenn sie für Menschen mit Behinderung in der üblichen Weise ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Das heißt, dass stets mindestens zwei Sinne angesprochen werden müssen.
Nur der B-to-C-Bereich betroffen
- Betroffen ist nur der Business-to-Consumer-Bereich: Hersteller, Händler und Importeure von digitalen Produkten sowie Erbringer von Dienstleistungen für Endkunden. Entscheidend ist die Firmengröße: Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Jahresumsatz oder einer Jahresbilanzsumme von höchstens zwei Millionen Euro fallen nicht unter das Gesetz – zumindest sofern sie Dienstleistungen erbringen. Kleinstunternehmen, die Produkte in Umlauf bringen, hingegen betrifft das BFSG.
Von Rechner bis E-Commerce
- Barrierefrei müssen Geräte sowie Dienstleistungen sein, die nach dem 28. Juni 2025 in Verkehr gebracht werden. Das sind Geräte wie Computer, Notebooks, Tablets, Smartphones, Geld-, Fahrausweis- und Check-in-Automaten, E-Book-Reader, Router oder Internetfernseher. Zudem Dienstleistungen wie Personenbeförderungsdienste, Telefondienste, Messengerdienste, Finanzdienstleistungen, E-Book-Anwendungen oder E-Commerce.
Konformität muss belegt sein
- Hersteller müssen die digitale Barrierefreiheit mit einem Konformitätsverfahren und einer Konformitätserklärung belegen. Für alle, die nach EU-konformen, ISO- oder DIN-Standards arbeiten, gilt die belegfreie Konformitätsvermutung. Zudem müssen sie Kennzeichnungspflichten nachkommen, etwa eine CE-Kennzeichnung anbringen.
- Händler dürfen ein Produkt, das die Barrierefreiheitserfordernisse nicht erfüllt, nicht vertreiben.
- Eine noch zu bestimmende Marktüberwachungsbehörde kann die Barrierefreiheit prüfen. Bei Verstößen drohen Geldbußen bis zu 100.000 Euro, Produktrückrufe oder Abmahnungen.
Ausnahmen und Übergangsfristen
- Der Gesetzgeber lässt Ausnahmen zu, wenn unverhältnismäßige Belastungen drohen. Angesetzt werden können hier Kosten etwa für zusätzliche Fachkräfte oder Produktionsprozesse. Auch wenn für die Erfüllung der Barrierefreiheitsanforderungen eine grundlegende Veränderung des Produkts notwendig wäre, entfällt die Umsetzungspflicht.
- Für einige Bereiche gibt es Übergangsfristen: Zeitbasierte Medien wie etwa aufgezeichnete Audio- oder Videodateien müssen nicht überarbeitet werden. Nicht barrierefreie Selbstbedienungsterminals dürfen bis maximal 2040 bestehen bleiben.
Barrieren erkennen lernen
„Unternehmen sollten sich zunächst sensibilisieren, welche digitalen Barrieren existieren, was Menschen mit Behinderungen zur Teilhabe benötigen“, sagt Susanne Baumer, Fachreferentin der Stiftung Pfennigparade in München. „So wird auch klarer, was das Gesetz für die Praxis verlangt.“
Menschen mit Seheinschränkungen profitieren bei der Nutzung von Webseiten etwa von größeren Schriften und besseren Farbkontrasten. Für Hörbeeinträchtigte sind bei Erklär- oder Produktfilmen Untertitel, Transkriptionen oder Gebärdenspracheangebote wichtig. Leichte Sprache hilft mit einfacher Grammatik, kognitive Barrieren abzubauen.
Aufholbedarf eher groß
Wer durch neurologische Erkrankungen einen dauerhaften Tremor hat, braucht Webseiten und Software, die nicht nur über den Touchscreen, sondern auch über die Tastatur bedient werden können. Braille-Blindenschrift ist auf Geldautomaten und anderen Terminals nützlich. Zudem ist die Kompatibilität mit Assistenzgeräten wie etwa einem Screenreader, der neben den Texten auch die Funktionen vorliest, ein wichtiger Faktor.
Aktuell scheint der Aufholbedarf noch groß zu sein. Nach einer Analyse der gemeinnützigen US-Organisation WebAIM von 2023 sind nur knapp 4 Prozent der weltweit am häufigsten besuchten eine Million Webseiten barrierefrei. Die Pfennigparade prüfte unter anderem mit Google und der Aktion Mensch ausgewählte deutsche Webshops. Ergebnis: Nur ein Fünftel der untersuchten Shops ist barrierefrei.
Chefs müssen vorangehen
Zudem gilt insbesondere die Barrierefreiheit von Apps als Herausforderung. „Veränderungen in bestehenden Produkten und Anwendungen sind aufwendig“, so Pfennigparade-Expertin Baumer. „Besser ist es, Barrierefreiheit spätestens ab jetzt von Anfang an mitzudenken.“
Wie Unternehmen vorgehen können, um den neuen Vorgaben gerecht zu werden, weiß Annett Farnetani, Geschäftsführerin der auf Barrierefreiheit spezialisierten Agentur mindscreen GmbH in München: „Es ist wichtig, dass die Geschäftsführung hinter der digitalen Barrierefreiheit steht – denn sie ist eine Querschnittaufgabe. Sie betrifft das ganze Unternehmen – IT, Einkauf, Marketing und Vertrieb. Und sie erfordert Zeit und Geld.“
IHK-Infos zur Barrierefreiheit
- Die wichtigsten Vorgaben des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) hat die IHK in einem Ratgeber zusammengefasst.
- Die Beratungsstelle Barrierefreiheit Bayern unterstützt Firmen unter anderem mit einer kostenlosen Erstberatung.
- Die Leitlinien des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales enthalten unter anderem viele Anwendungsbeispielen zum BFSG.
- Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit bietet online zum Beispiel aktuelle Informationen, Studien und eine Rechtssammlung.
Mit Herzblut für die Sache
Neben der Sensibilisierung rät Farnetani dazu, das Wissen über die Anforderungen des Gesetzes und die Umsetzungsmöglichkeiten einzuholen. Dabei sollten die Firmen alle Mitarbeitenden einbinden und schulen. Es folgt eine Bestandsaufnahme im Unternehmen, dabei können Barrierefreiheitstests helfen.
Für die praktische Umsetzung empfiehlt Farnetani, ein internes Projektteam – „am besten eines, das sich für die Sache wirklich engagiert“ – zu bilden und/oder externe Experten zu rekrutieren. „Hier baut sich gerade erst noch ein Dienstleistungsmarkt auf“, so die Expertin.
Agiles Projekt starten
Dann heißt es, ein Konzept zu entwickeln, klare Anforderungen und Erwartungen insbesondere auch an die externen Dienstleister zu formulieren und loszulegen. Farnetani rät zu einer agilen Vorgehensweise: einen Teilaspekt angehen, prüfen – auch mithilfe von behinderten Menschen im eigenen Unternehmen oder externen Experten –, optimieren, weitergehen.
Baustein: Leichte Sprache
Ein wichtiger Bestandteil der digitalen Barrierefreiheit ist Leichte Sprache. Sie formuliert kurze Sätze, bleibt im grammatikalischen Aktiv und verzichtet auf Passiv, Nebensätze sowie den Genitiv. Kommen im Ursprungstext abstrakte Begriffe vor, werden diese erläutert.
Wer seine Webseite zweisprachig gestaltet, muss Leichte Sprache für beide Sprachen vorsehen. „So erreicht man Menschen mit kognitiven Einschränkungen, mit Lernschwächen besser, aber auch Zugewanderte, die gerade erst anfangen, Deutsch zu lernen“, sagt Vanessa Theel, Mitgründerin der SUMM AI GmbH. Das Münchner Start-up hat ein Tool entwickelt, das die Übersetzung bestehender Texte in Leichte Sprache automatisiert.
Mehrwert für viele
Von Barrierefreiheit profitieren nicht nur die knapp acht Millionen Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis in Deutschland, betont Pfennigparade-Referentin Baumer: „Auch alle ohne Ausweis können durch vorübergehende oder versteckte Krankheiten gehandicapt sein, werden älter oder kommen aus anderen Kulturen. Auch diesen Gruppen kommt Barrierefreiheit entgegen.“
Einsatz für den guten Ruf
Das bringt den Firmen ebenfalls Vorteile: Sie können zusätzliche Zielgruppen als Kunden gewinnen. „Zudem macht digitale Barrierefreiheit die Produkte robuster, Supportanfragen gehen zurück, Suchmaschinen finden die Angebote leichter“, ergänzt mindscreen-Geschäftsführerin Farnetani. Und: „Ein engagierter Einsatz für Barrierefreiheit steigert den guten Ruf.“
IHK-Veranstaltungstipps: Webinarreihe zur Digitalen Barrierefreiheit
Im Rahmen der gemeinsamen Digitalisierungsinitiative der bayerischen IHKs finden drei Webinare zur digitalen Barrierefreiheit statt. Die Teilnahme ist kostenfrei. Mehr Infos und Anmeldung gibt es hier.
Webinar „Das BFSG – rechtlicher Rahmen“
Was sind die Anforderungen des Gesetzes? Wer ist betroffen? Ein Überblick für Unternehmen.
Termin: 14. Januar 2025, 11–12 UhrWebinar „Digitale Teilhabe in der Praxis“
Das Webinar zeigt konkret, wo fehlende Barrierefreiheit Menschen ausschließt. Das kann neben Personen mit dauerhaften Behinderungen auch diejenigen ausschließen mit temporären Einschränkungen, etwa durch einen Unfall.
Termin: 28. Januar 2025, 11–12 UhrWebinar „Eine praktische Sicht auf Handlungsfelder“
Worauf kommt es bei Texten, Bildern, PDFs und anderen Darstellungen an? Gibt es Hilfestellungen, Tools, Tests, Wer bietet Unterstützung?
Termin: 4. Februar 2025, 11–12 Uhr