Digitalisierung | Standortpolitik

»Nicht so weiter wie bisher«

LGAD Bayern ©
Sieht die Digitalisierung als zentrale Herausforderung – Christian Klingler, LGAD-Hauptgeschäftsführer

Christian Klingler, Hauptgeschäftsführer des Großhandelsverbands LGAD Bayern, erklärt, welchen Einfluss Pandemie und Lieferketten auf seine Branche haben und warum die Digitalisierung mehr bedeutet, als die Zahl der Onlineorders zu steigern.

EVA ELISABETH ERNST, Ausgabe 12/2022

Herr Klingler, der Onlinehandel inklusive E-Commerce-Plattformen wächst weiter – und damit die Möglichkeiten für Unternehmen, direkt beim Hersteller einzukaufen. Welche Rolle spielt da noch der Großhandel?

Diese Entwicklungen haben das etablierte dreistufige System aus Herstellern, Großhandel und Firmenkunden durchaus unter Druck gesetzt. Gerade bei Produktgruppen, bei denen sich der Großhandel auf die Funktion eines Zwischenlieferanten beschränkt und nur einen geringen Wertschöpfungsanteil hat, wird es zunehmend schwierig. 

»Wertschöpfungskette als vernetzte Drehscheibe«

Gleichzeitig bietet die Digitalisierung aber auch Chancen, weil sie es dem Großhandel ermöglicht, zusätzliche Dienstleistungen auf- und auszubauen. Gute Zukunftsaussichten haben Großhändler, denen es gelingt, als Systemkopf zu agieren, also die gesamte Wertschöpfungskette quasi als vernetzte Drehscheibe zu organisieren. Dafür ist ein hoher Digitalisierungsgrad nötig.

Welche Dienstleistungen haben Sie dabei konkret im Blick?

Neben der klassischen Beschaffung, Lagerung und Lieferung von Produkten kann der Großhandel Hersteller und Abnehmer zum Beispiel bei Forschung und Entwicklung auf Produkt- und Prozess- ebene unterstützen. Er kann Aufgaben der Qualitätssicherung übernehmen, Reparaturservices oder Produktveredelung anbieten. Im Grunde geht es darum, einen höheren Wertschöpfungsanteil und eine stärkere Individualisierung der Leistungen des Großhandels für seine Kunden, aber auch für die Hersteller, zu bieten.

Hoher Digitalisierungsgrad Voraussetzung

Und für viele dieser Dienstleistungen ist ein hoher Digitalisierungsgrad Voraussetzung. Denn Digitalisierung endet ja nicht beim papierlosen Büro. Es handelt sich vielmehr um eine breit angelegte Transformation mit dem Ziel, Prozesse nicht nur digital abzubilden, sondern sie zu optimieren – auch unter Einbindung künstlicher Intelligenz.

Wie digitalisiert ist der Großhandel denn schon heute?

Viele Großhändler haben die Chancen der Digitalisierung bereits erkannt, aber es gibt Unterschiede beim Grad der Umsetzung in den einzelnen Betrieben. Schließlich darf man nicht vergessen, dass im Großhandel kleine und mittelständische Unternehmen dominieren: Über 90 Prozent der Großhandelsunternehmen in Deutschland beschäftigen weniger als 50 Mitarbeiter. Und in kleinen und mittleren Firmen aller Branchen ist die Digitalisierung aufgrund begrenzter finanzieller und personeller Ressourcen schwerer umsetzbar.

Die Coronapandemie hat in den vergangenen knapp zwei Jahren viele Bereiche der Wirtschaft beeinflusst. Welche Auswirkungen hatte sie auf den Großhandel?

Die Engpässe in den Lieferketten haben uns in der öffentlichen Wahrnehmung einen gewissen Aufwind gebracht. Natürlich waren die vergangenen zwei, drei Jahre auch für den Großhandel herausfordernd, aber in wirtschaftlicher Hinsicht war es keine schlechte Zeit: Der Großhandel wurde mehr denn je gebraucht. Die Politik hat die Systemrelevanz des Großhandels erkannt. Daher gab es für unsere Wirtschaftsstufe auch keine Lockdowns.

Beschaffungsexpertise des Großhandels

Wie kann der Großhandel dabei helfen, Lieferkettenprobleme zu reduzieren?

Zum einen durch seine Beschaffungsexpertise: Der Großhandel kennt seine Märkte und die Marktteilnehmer. Dadurch ist er in der Lage, Bedarfe dosiert und nah am Kunden zu decken. Mindestens genauso wichtig ist seine Pufferfunktion durch Lagerhaltung in der Region, die dazu beiträgt, die Lieferketten ein Stück weit abzusichern. Dazu braucht der Großhandel jedoch einen Ausbau der Lagerkapazitäten, was häufig an verfügbaren Logistikflächen scheitert. Hier ist auch die Politik gefordert, mehr passende Flächen auszuweisen. Die örtliche Nähe des Großhandels zu den Abnehmern zahlt im Übrigen auch darauf ein, unsere Wirtschaft nachhaltiger und regionaler zu gestalten.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die Branche außerdem?

Die unvorhersehbaren geopolitischen Risiken sind eine große Herausforderung für die Betriebe. Aber auch die zunehmende Abkehr vom freien Welthandel sehen wir kritisch. Bestehende internationale Handelsabkommen zu stärken und neue abzuschließen, ist für unsere Branche, für die freier Handel zur DNA gehört, wichtig. Auf Unternehmensseite bildet derzeit die Umsetzung von Digitalisierungsstrategien die zentrale Herausforderung.

»Systemkopf Großhandel«

Schon in der Studie zur zukünftigen Systemrelevanz des bayerischen Großhandels in einer digitalisierten Welt, die im Herbst 2020 – also noch vor Corona – erschienen ist, wurden sechs Zukunftsszenarien entwickelt. Das Szenario »Systemkopf Großhandel« bietet die größten Chancen. Dafür sind eine durchgehende Digitalisierung der Prozesse, aber auch Erweiterungen der Großhandelsfunktionen wesentliche Voraussetzungen.

Welche weiteren Optionen zeigt die Studie?

Ein weiteres Szenario im Chancenbereich ist die Umsetzung von E-Commerce-Strategien, die gegen die Abwanderung von Kunden und Marktanteilen auf Plattformen helfen kann. Allerdings ist der Onlineverkauf nur ein Teil dessen, was der Großhandel künftig braucht. Er muss um Prozessoptimierungen ergänzt und mit durchgehender Digitalisierung kombiniert werden. Je besser der Großhandel mit seinen Kunden und Lieferanten vernetzt ist, desto sicherer ist die Zukunft der Großhandelsfunktion.

Beibehaltung Status-quo ist »No-go-Area«

Allerdings muss jedes Unternehmen seine eigenen Lösungen dafür finden, wie es die Vernetzung aus- und ergänzende Services aufbauen kann. So weiterzumachen wie bisher, ist nicht sinnvoll: Die Beibehaltung des Status quo wurde in der Studie eindeutig als »No-go-Area« identifiziert.

Zur Person: Christian Klingler

Seit Juli 2021 ist Christian Klingler Hauptgeschäftsführer des Landesverbands Bayern Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. (LGAD). Zuvor leitete der Rechtsanwalt die Rechtsabteilung und war als Fachanwalt für Arbeitsrecht für den LGAD tätig. Sein Jurastudium absolvierte der heute 43-Jährige in Passau, München und England. Anschließend arbeitete er als Rechtsanwalt in München und als Unternehmensanwalt in Regensburg, bevor er 2013 zum LGAD wechselte.

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