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Die Grenzen der Globalisierung

TU München ©
Erwartet Verlagerung von Wertschöpfungsketten – Dalia Marin, Expertin für globale Handelsströme

Professorin Dalia Marin wagt bereits Prognosen zu den langfristigen Auswirkungen der Coronakrise auf Globalisierung, Automation und Roboterisierung. Sie forscht an der TU München zu internationalen Handelsbeziehungen.

Ausgabe 05/2020, Eva Elisabeth Ernst

Frau Professorin Marin, die Coronapandemie beeinträchtigt derzeit massiv die Weltwirtschaft. Wie wird die Krise die internationalen Lieferketten langfristig beeinflussen?
Der Schock der Coronakrise wird dazu führen, dass Unternehmen ihre Geschäftsmodelle im Hinblick auf die globalen Wertschöpfungsketten überdenken und Produktion wieder ins eigene Land zurückholen. Das ist allerdings keine neue Entwicklung. Wir beobachten bereits seit 2011, also vor Trump, Brexit und Corona, dass die Globalisierung nicht mehr zunimmt und in einigen Industrieländern sogar rückläufig ist.

Woran liegt das?
Auslöser war die Finanzkrise 2008/2009. Von 1990 bis 2008 hatten wir eine Ära der Hyperglobalisierung, ausgelöst vor allem durch den Fall der Mauer und den Eintritt Chinas in die Welthandelsorganisation WTO. Mit der Finanzkrise stieg die globale Unsicherheit plötzlich stark an. Das war ein Ereignis, das zuvor kaum jemand für möglich gehalten hatte.

Mit der Coronakrise hat ja ebenfalls niemand gerechnet...
... und Corona ist weitaus schlimmer als eine nationale Epidemie. Allein bei der Vogelgrippe Sars, die sich ja relativ schnell eindämmen ließ, stieg der Weltunsicherheitsindex um 70 Prozent. Ich gehe davon aus, dass Corona zu einer Steigerung von mindestens 300 Prozent führen wird – und das ist noch eine eher konservative Schätzung.

Auf welche Weise wird dieser Weltunsicherheitsindex ermittelt?
Der Index wurde von Forschern der Universität Stanford entwickelt und basiert auf Auswertungen weltweiter Wirtschaftspublikationen unter dem Schlagwort »Unsicherheit« und verwandten Begriffen. Mit diesem Index lassen sich Veränderungen im Sicherheitsgefühl quantifizieren. Und diese Veränderungen korrelieren gegenläufig mit dem Wachstum der Globalisierung: Je höher der Unsicherheitsindex ausfällt, desto stärker ist der Rückgang internationaler Lieferketten.

Wie stark wird die Globalisierung durch Corona voraussichtlich zurückgehen?
Wir erwarten derzeit einen Anstieg des Weltunsicherheitsindex um 300 Prozent. Damit würden die globalen Wertschöpfungsketten um rund 35 Prozent schrumpfen. In Deutschland wird sich der Rückgang noch stärker bemerkbar machen, denn als Exportnation ist Deutschland besonders intensiv in internationale Wertschöpfungsketten eingebunden.

Wie hoch ist der Globalisierungsgrad des deutschen Mittelstands im Vergleich zu den Konzernen?
Unsere Daten sind Sektordaten, die nicht nach Unternehmensgröße unterscheiden. Daher kann ich dazu keine Aussage treffen. Die am stärksten globalisierten Branchen sind die Automobil-, die Elektro- und die Textilindustrie. Man kann davon ausgehen, dass auch mittelständische Unternehmen dieser Branchen ihre Wertschöpfungsketten global organisiert haben. In der chemischen, der Metall- und der Elektroindustrie wird die Produktion aktuell am intensivsten nach Deutschland zurückverlagert. Auch davon wird der deutsche Mittelstand betroffen sein.

Wie werden die Lieferketten künftig aussehen? Werden deutsche Unternehmen verstärkt in Europa, in Deutschland oder in ihrer Heimatregion produzieren lassen?
Tendenziell sehen wir eine Rückverlagerung der Wertschöpfungsketten ins eigene Land. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass deutsche Unternehmen ihre Aktivitäten in China zurückfahren und in Osteuropa ausbauen. Denn wie wir ja jetzt bemerken, sind die Wertschöpfungsketten mit China riskanter – nicht nur wegen Corona, sondern auch im Hinblick auf etwaige protektionistische Maßnahmen. Ziel der Globalisierung war und ist es ja, durch das internationale Lohngefälle Kosten zu sparen. Aber wenn die für die Produktion benötigten Güter nicht pünktlich oder gar nicht geliefert werden, steigen die Gesamtkosten. Der Trend zum Reshoring, also zur Rückholung von Produktion ins eigene Land, wird aber auch von der zunehmenden Roboterisierung gestützt.

Würden Unternehmen auch ohne die Risiken der Globalisierung in Roboter investieren und damit Produktion zurückverlagern?
Durch die Roboterisierung spielen die Arbeitskosten keine gewaltige Rolle mehr. Je stärker roboterisiert wurde, desto attraktiver wird das Reshoring. Zudem begünstigen niedrige Zinsen Investitionen in Roboter. Bei einer kapitalintensiven Produktion mit Robotern kann man somit auch in einem Hochlohnland ohne größere Kostennachteile produzieren. Vorreiter bei der Roboterisierung sind Deutschland, Südkorea und Japan. In Deutschland sind pro Beschäftigtem im Schnitt vier Roboter im Einsatz.

Rechnen Sie damit, dass die Roboterisierung nach der Coronakrise boomen wird?
Wegen der gestiegenen Unsicherheit investieren Unternehmen seit der Finanzkrise nur noch sehr verhalten. Das hat auch die Roboterisierung gedämpft. Die Coronakrise wird der Roboterisierung höchstens einen kleinen Push geben. Schließlich besteht nun auch im Hinblick auf die Nachfrage große Unsicherheit. Einen Boom der Roboterisierung durch Corona erwarte ich daher nicht.

Wird die Globalisierung wieder zulegen, wenn die Unsicherheit deutlich sinkt?
Nein, gemäß dem Trend, den wir seit 2011 erleben, wird das Rad nicht zurückgedreht: Es wird keine starke Wiederbelebung der Globalisierung stattfinden. Unternehmen, die ihre Produktion zurückgeholt haben, werden sie nicht wieder ins Ausland verlagern. Schließlich zieht das Reshoring eine riesige Reorganisation nach sich, die Zeit und Geld kostet.

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