Davizro Photography/Adobe Stock ©
Digitale Medizin – Virtual-Reality-Brillen liefern Ärzten Daten in 3-D

Das Gesundheitswesen profitiert von neuen Technologien. Bayerische Unternehmen gehören zu den Vorreitern: Drei Beispiele zeigen, wie innovative Lösungen Operateure unterstützen, Patienten im Alltag helfen und die Notfallversorgung im Land verbessern.

Melanie Rübartsch, Ausgabe 05/2021

Der Neurochirurg steht hochkonzentriert im OP, er muss einen komplizierten Eingriff am Gehirn eines Patienten vornehmen. Der Arzt trägt eine spezielle Virtual-Reality-Brille. Sie zeigt ihm während der Operation sämtliche Daten an, die im Vorfeld über medizinische Untersuchungen gewonnen wurden. Der Spezialist sieht also sowohl virtuell als auch im realen Operationsgeschehen in seinen Patienten hinein.

Die Technologie, durch die solche Eingriffe möglich werden, stammt von der Münchner Brainlab AG. Sie stellt Software und Geräte her, die dreidimensionale, anatomische Darstellungen in Echtzeit auf Bildschirme im OP spielen. Einsatzgebiete sind Neurochirurgie, Orthopädie und Onkologie. »Wir liefern so etwas wie ein Navigationssystem für die Mediziner«, erklärt Brainlab-Firmensprecher Martin Pregler (36). Die Software erstellt nicht nur detaillierte Bilder von Gefäßen, Adern oder Nervenbahnen. »Mit ihrer Hilfe können die Ärzte ihre Eingriffe und deren Verlauf auch exakt im Vorfeld planen. Sie zeigt ihnen regelrecht den besten Weg an«, so Pregler.

Damals fast ehrenrührig, heute Fortschritt im Alltag

Brainlab ist ein Pionier der digitalen Medizin. Den Grundstein für das Unternehmen legte Firmenchef Stefan Vilsmeier vor rund 30 Jahren. Mit gerade einmal 19 Jahren veröffentlichte er damals ein Fachbuch über die Programmierung von 3-D-Konstruktionen für die Heimcomputer C64 und C128. Ein Medizinprofessor machte Vilsmeier darauf aufmerksam, welchen Nutzen solche räumlichen Computerdarstellungen für Therapie und Behandlung haben könnten. So machte Vilsmeier nach dem Abitur die Digitalisierung von Operationsräumen zu seinem Geschäftsmodell. Heute arbeiten knapp 1.500 Mitarbeiter in 20 Ländern für Brainlab. In 5.600 von rund 7.000 hochspezialisierten Kliniken weltweit kommt die Software zum Einsatz.

Als Vilsmeier in den 1990er-Jahren die ersten digitalen Schritte in die Kliniken wagte, war es fast ehrenrührig, wenn ein Operateur sich nicht nur auf seine Hände und seine Erfahrung verließ, sondern auch auf die Technik. Heute dagegen ergänzen Erfahrung und technologischer Fortschritt einander. Die Nutzung neuer Technologien und die Verarbeitung medizinischer Daten haben die hiesige Medizintechnik an die Weltspitze gebracht. So kam die Schweizer Strategieberatung ConCeplus in ihrer Studie »Healthcare Movers 2020« zu dem Ergebnis, dass Deutschland bei der digitalen Wettbewerbsfähigkeit im Gesundheitssektor hinter den USA auf Rang zwei liegt.

»Aufgrund der rasanten Entwicklung im Bereich Konnektivität, künstliche Intelligenz und Robotik in den vergangenen Jahren können wir viele Visionen im Gesundheitswesen wirklich angehen«, sagt Jörg Traub, Geschäftsführer des Netzwerks Forum MedTech Pharma e.V. Nicht zuletzt die Bundesregierung hat mit Neuerungen wie »Apps auf Rezept«, Videosprechstunden und dem Ausbau des digitalen Netzwerks im Gesundheitswesen die Richtung vorgegeben. Die Pandemie zeigt nun eindrücklich, wie wichtig es ist, auf digitale Angebote zurückgreifen zu können. »Ziel des technologischen Fortschritts sollte dabei sein, Ärzte und Pflegepersonal in ihrem Alltag zu entlasten«, fordert Traub.

Es sollten keine zusätzlichen administrativen Aufgaben entstehen, sondern mehr Zeit für die Patienten bleiben. Dazu müsse es eine bessere Verzahnung aller Akteure geben: der Kliniken, Praxen und Gesundheitsunternehmen, der forschenden Industrie und der Medizintechniker.

Apps als Medizinprodukt zertifiziert, somit erstattungsfähig

Als Gloria Seibert 2016 die Temedica GmbH gründete, wollte sie Therapien und Vorsorgemaßnahmen über digitale Wege unmittelbar in den Lebensalltag der Patienten bringen. Das Münchner Start-up entwickelt Gesundheits-Apps, zum Beispiel für Übergewichtige. Manche digitale Angebote helfen, sich gesünder zu ernähren oder Bewegung im Alltag zu integrieren. Andere können die individuell von Ärzten erstellten Therapiepläne anzeigen und den Genesungsfortschritt überwachen. Alle Apps sind entweder als Medizinprodukt zertifiziert und damit von Krankenkassen erstattungsfähig oder sie richten sich nach den Anforderungen vergleichbarer Richtlinien. Das ist den Gründern wichtig.

Clash: Regulierter Sektor vs. agiles Trial-and-Error-Prinzip

»Digitalisierung im Gesundheitswesen ist eine Herausforderung«, weiß Seibert. Es prallen dort zwei Welten aufeinander. »Der Gesundheitsbereich ist – zu Recht – hochgradig reguliert. Zum Wohle des Patienten müssen Fehler ausgeschlossen sein, wenn ein Produkt auf den Markt kommt«, sagt die 31-Jährige. Im Gegensatz dazu arbeitet man in der Softwareentwicklung agil nach dem Trial-and-Error-Prinzip: Die Entwickler tasten sich Stück für Stück an die für User optimale Version heran, wobei sie Testnutzer von Anfang an unmittelbar einbinden. »Unsere Stärke ist, dass wir beides können«, sagt Seibert.

Als die ehemalige Unternehmensberaterin 2015 begann, ihre Idee zu verfolgen, war Digital Health noch kaum verbreitet: »Viele haben mir sogar abgeraten. Aufgrund der strengen Regulierungen und der hochsensiblen Daten sei der Gesundheitsbereich für die Digitalisierung mehr oder weniger tabu.«

Bayern als führender Standort der Medizintechnik

Sie glaubte dennoch an die Vision, Patienten mit digitalen Helfern das Leben zu erleichtern. So hat sie den inzwischen stark wachsenden Markt für digitale Gesundheitslösungen früh mit geprägt. Dass in Bayern viele Vorreiter aktiv sind, bestätigt Netzwerker Traub: »Innerhalb Europas gilt der Freistaat als führender Standort der Medizintechnik. Zudem haben wir hervorragende Universitäten und Kliniken und damit auch guten Nachwuchs vor Ort.« Vieles ist machbar – zugleich gibt es noch einige Hürden. »Daten sind ein hohes Gut, das wir unbedingt schützen müssen, aber am Standort Deutschland auch im Sinne von Patient und Behandler besser nutzen sollten«, sagt Traub.

Wie Datenaustausch strukturieren?

Konkreter wird Brainlab-Chef Vilsmeier: »Wir müssen diskutieren, wie wir welchen Datenaustausch strukturiert implementieren können, um zum Beispiel Forschung voranzutreiben oder die Arbeit von Ärzten und Pflegepersonal von unnötiger Bürokratie zu befreien.« So dürften etwa Patientendaten aktuell nur für die universitäre Forschung verwendet werden. Industrielle Forschung ist ausgenommen. »Man braucht aber ein Zusammenwirken aus klinischer Forschung, Wissenschaft und Industrie, damit Innovationen entstehen können«, ist Vilsmeier überzeugt.

Projekt "Telenotarzt" flächendeckend in Bayern

Um Innovationen bei der notärztlichen Versorgung geht es bei einem Projekt des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration. Geplant ist, einen Telenotarzt als neues und zusätzliches Einsatzmittel flächendeckend in Bayern einzuführen. Der zuständige Sachgebietsleiter für das Rettungswesen, Christian Ebersperger, erklärt die Idee: »Sobald ein Rettungsteam am Einsatzort ankommt, kann es den jeweils diensthabenden Telenotarzt sofort mobil dazuschalten.«

Mit Einverständnis des Patienten übermitteln die Sanitäter in Echtzeit sämtliche Vitaldaten wie EKG-Werte oder Blutdruck sowie im Livestream Bilder des Patienten an den Arzt. Dieser kann sich so ein umfassendes Bild vom Zustand des Patienten machen und bis zum Eintreffen des Notarztkollegen vor Ort entscheiden, was zu tun ist. Welche Medikamente müssen verabreicht, welche Sofortmaßnahmen ergriffen werden? Kann eventuell sogar auf einen Transport in die nächste Klinik verzichtet werden?

»Die Funktion ist eine enorme Unterstützung für das nicht ärztliche Personal, aber auch eine Entlastung für den Notarzt. Er soll künftig als ›Mangelressource‹ vor allem nur noch dort zum Einsatz kommen, wo er wirklich auch physisch gebraucht wird«, so Ebersperger.

Voraussetzung: Datenübertragung in Echtzeit

Möglich geworden sei solch eine Lösung durch den technologischen Fortschritt der vergangenen Jahre, sowohl in der Kommunikationstechnik als auch in der Konnektivität der Medizintechnik, so Ebersperger: »Die wichtigste Voraussetzung ist schließlich, dass Mobilfunknetze, Soft- und Hardware eine Datenübertragung wirklich in Echtzeit sicherstellen.«

Bayern mit einzigem deutschen digitales Notarztprojekt dieser Größe

Ein erstes Pilotprojekt wurde 2019 in Straubing erfolgreich abgeschlossen. Nun soll der Telenotarzt bayernweit ausgerollt werden. Dazu werden Schritt für Schritt mehrere Telenotarztstandorte eingerichtet, 700 Rettungstransportwagen mit der notwendigen Technik ausgestattet sowie alle Beteiligten, Leitstellen-Disponenten, Sanitäter und Telenotärzte, geschult. Bundesweit ist der Telenotarzt Bayern das erste und einzige digitale Notarztprojekt dieser Größe. »Wenn es einmal läuft«, so Ebersperger, »hoffen wir, damit einen Standard zu setzen, der auch für andere Betreiber einen großen Nutzen hat.«

Verwandte Themen