Hotspots an der Ostsee

Die drei baltischen Staaten sind innovativ und wachstumsstark. Als Vorreiter bei der Digitalisierung bieten sie bayerischen Firmen interessante Chancen für Kooperationen und neue Geschäftsmodelle.
Mechthilde Gruber, Ausgabe 09/20
Estland, Lettland und Litauen sind eigenständig, mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und geschichtlichen Hintergründen. So ist Estland eher skandinavisch geprägt, während in Lettland der Einfluss deutscher Tradition und Handelskultur noch stark zu spüren ist. Die drei Länder im Norden Europas verbindet jedoch auch vieles.
Standort- und Investitionsalternative innerhalb der EU
Seit sie 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, zählen sie zu den wachstumsstärksten Staaten in der Gemeinschaft und gelten als Musterbeispiele für effiziente Zusammenarbeit in der Union. Sie sind ehrgeizig, innovativ und digital führend. Ihre reformfreudigen Regierungen sorgen für ein wirtschaftsfreundliches Klima und ein gutes Bildungssystem. Ihre effiziente Handlungsfähigkeit zeigt sich auch in schwierigen Zeiten. Wie vor Jahren schon in der Finanzkrise kommen die baltischen Staaten auch mit der Coronakrise vergleichsweise gut zurecht.
»Das Baltikum mit seinen hoch entwickelten Industrien und Technologien wird als Investitionsstandort jetzt noch interessanter«, sagt Dominic Otto, stellvertretender Geschäftsführer der Deutsch-Baltischen Handelskammer (AHK) in Vilnius. Denn viele deutsche Unternehmen, deren Lieferketten wegen pandemiebedingter Grenzschließungen oder anderer Handelshemmnisse unterbrochen wurden, stellen ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von Drittstaaten derzeit infrage. Die Coronakrise verstärkt den Trend, Produktionsstätten nach Europa zurückzuverlegen. »Unternehmen, die innerhalb der EU nach Standortalternativen suchen, bietet das Baltikum viele Vorzüge«, sagt AHK-Experte Otto.
Hohe Fachkräftequalität, unternehmerfreundliches Klima
Neben der geografischen Lage zwischen Mitteleuropa, Skandinavien und Russland sind für Investoren die hohe Qualität der Fachkräfte und das noch niedrige Gehaltsniveau attraktiv. Es gibt kaum Barrieren, dafür unternehmerfreundliche Rahmenbedingungen wie etwa die elektronische Staatsbürgerschaft (E-Residency), die Firmengründung, Kontoeröffnung oder Steuerabwicklung mit nur wenigen Mausklicks möglich macht.
Chancen etwa für IT, E-Health und Medizintechnik
Auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) sieht großes Potenzial: »Gerade in den Bereichen Informationstechnologie (IT), E-Health, Medizintechnik bestehen zahlreiche Chancen für bayerische Unternehmen, ihre Produkte und Dienstleistungen erfolgreich auf den baltischen Märkten anzubieten. « Das sei nach der Coronakrise im Hinblick auf Digitalisierung und Restrukturierung von Produktionen und Lieferketten in strategisch wichtigen Bereichen noch relevanter als zuvor.
Vieles funktioniert online
In jedem Fall lohne es sich, jedes der drei Länder für sich zu betrachten, sagt Baltikumexperte Otto. In Estland, dem mit 1,3 Millionen Einwohnern kleinsten Staat, findet beispielsweise die IT-Branche ein sehr gutes Geschäftsumfeld. Das Land ist bekannt als Pionier bei E-Government und E-Health. Nur Hauskauf, Hochzeit oder Scheidung lassen sich hier noch nicht online abwickeln.
Nachbar Lettland punktet als logistisches Drehkreuz mit bedeutenden Ostseehäfen, guten Straßenverbindungen zu den Nachbarstaaten und dem Flughafen der Hauptstadt Riga, der Lettland eng an Deutschland und Westeuropa anbindet.
Sieben Freihandelszonen
Mit 2,8 Millionen Einwohnern bietet Litauen den größten Absatzmarkt im Baltikum und ist zugleich ein wichtiger Industriestandort mit einem im EU-Vergleich günstigen Preis-Leistungs-Verhältnis. Die litauische Regierung lockt Investoren mit deutlichen Steuervergünstigungen in sieben Freihandelszonen.
Auch einige deutsche Unternehmen, vor allem aus dem Automotive-Sektor, haben sich bereits im »Bayern des Baltikums«, wie Litauen wegen seiner Landschaft genannt wird, angesiedelt. Dazu zählt der bayerische Polymerspezialist REHAU, der in der freien Wirtschaftszone der Ostseehafenstadt Klaipeda eine neue Produktionsstätte für Mikrokabelrohre aufbaut. »Klaipeda überzeugt nicht nur durch Lage, Infrastruktur und das wirtschaftspolitische Umfeld«, erklärt Roger Schönborn (56), Leiter der Division Building Solutions REHAU. »Die Verfügbarkeit von gut ausgebildetem Personal war für uns ein entscheidender Faktor, um unsere hohen Qualitätsstandards weiterhin sicherstellen zu können.«
Die baltischen Staaten sind aber nicht nur als Investitionsstandort interessant, betont Alexander Lau, Referatsleiter Europa bei der IHK für München und Oberbayern: »Bayerischen Unternehmen bieten sich gerade im Dienstleistungssektor, vor allem im Rahmen von Digitalisierungsaktivitäten, sehr vielfältige Möglichkeiten für Kooperationen.« Das gelte zum Beispiel für die Industrie 4.0. Hier haben alle drei Länder auch angesichts eines zunehmenden Fachkräftemangels großen Nachholbedarf. Automatisierungslösungen aus Bayern sind daher gefragt.
Die baltischen Regierungen fördern die Aufrüstung der Unternehmen. Gleiches gilt für die Medizin- und Umwelttechnik – Schlüsselbranchen in allen drei Ländern. Auch hier besteht viel Potenzial für Kooperationen.
IHK-Service: Go International
Das Förderprogramm Go International des Freistaats Bayern erleichtert kleinen und mittelständischen Unternehmen den Markteinstieg in die baltischen Staaten.
Es bezuschusst mit bis zu 20.000 Euro pro Land Maßnahmen wie Marktanalysen, Adressenrecherche, Geschäftspartnervermittlung durch die AHK oder die Übersetzung von Websites und Firmenbroschüren in andere Sprachen. Die IHK berät und hilft bei der Antragstellung.
Weitere Informationen und Antragsformulare unter: www.go-international.de