Freier Handel | Standortpolitik

Nachbarn mit Potenzial

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Im Aufbruch – slowakische Hauptstadt Bratislava

Die erste EU-Osterweiterung hat in Mittelosteuropa eine dynamische Entwicklung ausgelöst. Bayerischen Firmen bieten sich dort viele Chancen – etwa in der Slowakei und in Polen.
 
Von Melanie Rübartsch, IHK-Magazin 09/2024

Igor Mikulina ist leidenschaftlicher Netzwerker. Mit seinen Visionen hat der Geschäftsführer der MicroStep Europa GmbH für die gesamte MicroStep-Gruppe vom Standort Bayern aus einiges bewirkt. Sein Unternehmen vermarktet, vertreibt und betreut die Produkte des slowakischen Maschinenbauers für hochpräzise Schneideanlagen im deutschsprachigen Raum und hat sich bereits vor knapp 25 Jahren in Bad Wörishofen angesiedelt. „Zum einen wollten wir unseren Vertrieb in die DACH-Region ausweiten. Zum anderen neue innovative Zulieferer für unsere Komponenten finden“, sagt der 61-Jährige.

Zuvor kamen Maschinenteile wie etwa Filter von japanischen oder US-amerikanischen Firmen. Unternehmen, bei denen MicroStep von der Slowakei aus wenig Einfluss auf die Forschung und Entwicklung nehmen konnte. „In Deutschland haben wir Partner gefunden, mit denen wir unsere Maschinen gemeinsam optimieren und auf die Bedürfnisse der jeweiligen Kunden anpassen konnten“, so der Geschäftsführer.

Industrie-4.0-Lösungen

Das Unternehmen hat inzwischen ein eigenes Technologiezentrum in Bayern eröffnet. Sein großes Ziel ist heute, Industrie-4.0-Lösungen insbesondere für den Mittelstand zu entwickeln. „Zusammen mit einigen unserer Zulieferer, dem Fraunhofer-Institut für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik, der Uni Augsburg sowie großen IT-Unternehmen wie Intel, Dell, SUSE oder IONOS haben wir dazu die Initiative IndustryFusion auf den Weg gebracht“, sagt Mikulina.

Dabei geht es, vereinfacht gesprochen, darum, Maschinen und Komponenten so zu konstruieren, dass sie sich problemlos untereinander verstehen und daher in verschiedenen Umgebungen flexibel und wertschöpfend kombiniert werden können. „Es ist wichtig, dass wir unsere Ideen aus dem Mittelstand für den Mittelstand bündeln“, so der Geschäftsführer. „Wir profitieren hier sehr von den slowakisch-deutschen Beziehungen.“

Deutschland Exportziel Nummer 1

Die Slowakei gehört zu jenen Ländern, die vor 20 Jahren mit der Osterweiterung Teil der EU geworden sind. Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn sind mit Deutschland inzwischen wirtschaftlich eng verbunden.

Allein die Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn (V4) kauften 2023 nach Auswertungen von Germany Trade & Invest (GTAI), der Außenwirtschaftsagentur des Bundes, deutsche Waren im Wert von fast 191 Milliarden Euro. Damit bilden sie den Grundpfeiler im deutschen Export nach Mittel- und Osteuropa. Die Bundesrepublik wiederum ist für die V4-Staaten mit Anteilen zwischen 20 und 30 Prozent an ihren Gesamtausfuhren das Exportziel Nummer eins.

Partner bei Zukunftstechnologien

„Für bayerische Unternehmen sind diese Länder wegen ihrer geografischen Lage als Teil der Lieferketten, aber auch als Partner bei der Entwicklung von Zukunftstechnologien interessant“, sagt Sandra Dirnberger, Referentin Europa bei der IHK für München und Oberbayern. Die deutsche Wirtschaft hat schon bald nach der politischen Wende in den 1990er-Jahren den Kontakt zu beiden Ländern gesucht – und seitdem immer weiter ausgebaut.

In der Slowakei sind heute mehr als 600 deutsche Unternehmen operativ aktiv. Kern der deutsch-slowakischen Beziehungen ist die Autoindustrie. „Die Slowakei ist mit einer Produktion von 198 Autos pro 1.000 Einwohner der größte Auto- und Autoteilehersteller weltweit“, sagt Hana Chmelárová Marková, stellvertretende Geschäftsführerin der Deutsch-Slowakischen Industrie- und Handelskammer (AHK). Die Branche trägt mehr als ein Zehntel zum Bruttoinlandsprodukt und über 40 Prozent zu den Exporterlösen bei. „Genau dieser Schwerpunkt birgt zugleich die Gefahr, zu abhängig von einer Industrie zu werden“, sagt Marková.

Slowakisches IT-Valley

Der Wandel ist indes in vollem Gange. Einerseits verlagern sich Schwerpunkte der slowakischen Autoindustrie auf die Zukunftsfelder E-Mobilität, Energiespeicherung, Wasserstoff und intelligente Logistiksysteme. Andererseits entsteht im Osten des Landes eine Art slowakisches IT-Valley. IT-Dienstleister und -Fachkräfte stehen hier zur Unterstützung deutscher Firmen in den Bereichen Shared Service Center, Business Process Outsourcing oder Cybersecurity bereit. Zunehmend werden gezielt EU-Fördermittel genutzt, um IT-Innovationen voranzutreiben und zum Beispiel Start-ups in der App-Entwicklung zu unterstützen.

„Die Innovationskraft, Arbeitsdisziplin, eine den Bayern vertraute Kultur und der Euro als Währung sind Vorteile, die insbesondere bayerische Unternehmen an slowakischen Partnern schätzen“, beobachtet Marková. Mit der Pandemie und den damit verbundenen Störungen der globalen Lieferketten habe die Tatra-Republik zudem ihre geografischen Vorteile für die deutsche Wirtschaft ausgespielt. „Nearshoring hat stark an Bedeutung gewonnen. Zudem ist die Slowakei ein wichtiger Knotenpunkt für den deutschen Export“, so Marková.

Polen: neue Absatzchancen

Ebenfalls von der geografischen Lage als direkte Nachbarn profitieren die deutsch-polnischen Beziehungen. Polens Mitgliedschaft in der EU sei eine besondere Erfolgsgeschichte, analysiert GTAI. Seit dem Beitritt zur Staatengemeinschaft legte das Bruttoinlandsprodukt des Landes um das Dreieinhalbfache zu. In den vergangenen 10 Jahren wuchs die Wirtschaftskraft sogar doppelt so schnell wie der EU-Durchschnitt.

„Polen ist seit vielen Jahren ein beliebter Produktionsstandort für Unternehmen aus Deutschland. Der steigende Wohlstand des Landes schafft außerdem neue Absatzchancen für deutsche Exporteure“, sagt Paweł Kwiatkowski, Leiter der Marktberatung bei der AHK Polen. Mehr als 7.000 Unternehmen mit deutschem Kapital sind in Polen aktuell vertreten. Die neue proeuropäische Regierung rund um den früheren EU-Ratspräsidenten und jetzigen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk werde vermutlich für einen weiteren Aufschwung der deutsch-polnischen Beziehungen sorgen.

EU-Fonds für digitale und grüne Investitionen

„Wir beobachten schon seit November 2023 verstärktes Interesse von deutschen Unternehmen bei Absatz- und Beschaffungsprojekten in Polen“, sagt AHK-Experte Kwiatkowski. Chancen für bayerische Unternehmen ergäben sich aktuell vor allem durch die Freigabe von Mitteln aus dem EU-Wiederaufbaufonds an Polen. Dieser ist insbesondere für digitale und grüne Investitionen vorgesehen. Kwiatkowski: „In Polen gibt es einige Bereiche, in denen die Technologien fehlen und die daher besonders importabhängig sind. Dazu zählt zum Beispiel der Maschinenbau.“ Gute Absatzmöglichkeiten bieten zudem Energie- und Umwelttechnik, Industrie 4.0, Medizintechnik sowie Smart Mobility.

Potenzial in Polen sieht auch das Münchner Start-up ProGlove. Das Unternehmen hat eine Handschlaufe mit integriertem Barcode-Scanner für die Industrie entwickelt. „Herkömmliche Scan-Pistolen müssen Fabrikangestellte bei jedem Scan in die Hand nehmen und sie anschließend wieder ablegen. Die Idee des Handschuhs ist, den Prozess wesentlich schneller und ergonomischer für die Mitarbeitenden umzusetzen“, erklärt ProGlove-Sprecher Clemens Zunk.

Persönliche Kontakte bringen Kunden

Nach der Gründung vor 10 Jahren weitete das Unternehmen seinen Kundenkreis zunächst auf die DACH-Region aus. Der nächste Schritt 2018 ging bereits nach Polen. „Wir konnten über Kunden aus dem Autobau einige ihrer Zulieferer mit Werken in Polen und einen Lebensmittelgroßhändler als Kunden gewinnen. Das war unser Markteintritt“, sagt Zunk. „Seit 2021 sind zwei Territory Accounter nur für uns in Polen zuständig“. Es gibt über 25 lokale Integrationspartner und Reseller.

Bedarf an smarten Lösungen

„Polen ist für uns die Basis für Osteuropa und zugleich die Brücke ins Baltikum“, erklärt Zunk. Mehr als 1 Drittel des gesamten Umsatzes in Osteuropa generiert ProGlove im Nachbarland. „Das Lohnniveau in Polen nähert sich inzwischen dem in Deutschland an. Außerdem wird auch dort der Fachkräftemangel größer.“ Für das Münchner Unternehmen sind das interessante Nachrichten. Zunk: „Dadurch steigt das Interesse an smarten Lösungen für die industrielle Fertigung.“ Lösungen, die ProGlove liefern will.

Starke Wirtschaftspartner

Sowohl mit Polen als auch mit der Slowakei ist Deutschland wirtschaftlich eng vernetzt. Für Polen ist Deutschland nach Angaben von Germany Trade & Invest Deutschland der wichtigste Handelspartner. Umgekehrt liegt Polen als Beschaffungsmarkt für deutsche Unternehmen auf Rang 4. Das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern beträgt mehr als 170 Milliarden Euro.
Besonders hohe Exportchancen liegen für bayerische Unternehmen im Bereich additive Fertigung in Industrie und Medizin, aussichtsreiche Kooperationsmöglichkeiten gibt es bei künstlicher Intelligenz sowie bei der Wasserstoffproduktion.
Für die Slowakei ist Deutschland ebenfalls der größte Handelspartner. Das gesamte Handelsvolumen beträgt derzeit rund 40 Milliarden Euro.

IHK-Info zum Auslandsgeschäft

Zu den Ländern Mittelosteuropas sowie vielen weiteren Regionen bietet die IHK für München und Oberbayern eine individuelle und für ihre Mitgliedsunternehmen kostenfreie Länderberatung:

IHK-Veranstaltungstipp: B2B-Day Bavaria – Slovakia am 22. Oktober 2024

Beim B2B-Day am 22. Oktober können sich Unternehmen aus Bayern und der Slowakei zu den Geschäftsmöglichkeiten in der Slowakei informieren und Kontakte zu potenziellen Partnern knüpfen. Im Mittelpunkt der Tagesveranstaltung von 10 bis 14 Uhr in der IHK München steht der IT-Sektor.

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