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Die Nische der Nische

Thorsten Jochim ©
Im Felsenkeller – Martin (l.) und Florian Beierl, Geschäftsführer der Brennerei Grassl

1692 gegründet, ist die Enzianbrennerei Grassl die älteste Bergbrennerei Deutschlands. Geheimrezepturen, Traditionen und Ideen halten das Unternehmen auf Erfolgskurs.

SEBASTIAN SCHULKE, Ausgabe 06/2022

Zwei Seile hängen in einem großen, offenen Raum, verbunden durch eine gebogene Sitzfläche aus Holz. Ein Mitarbeiter sitzt darauf und schaukelt hin und her, schwingt sich immer höher. »Das macht schon Spaß«, sagt Martin Beierl, der schmunzelnd danebensteht. Er ist zusammen mit seinem Bruder Florian geschäftsführender Gesellschafter der Enzianbrennerei Grassl GmbH & Co. KG in Berchtesgaden.

Über vier Meter hoch sind hier die Wände des Bürogebäudes, in dem sich seit 2018 Verwaltung, Produktion und Logistik der Enzianbrennerei befinden – und eben diese Schaukel. Denn ab und zu braucht man einfach Bewegung. »Gerade wenn man stundenlang vor einem Computer sitzt und arbeitet«, meint Martin Beierl. Bei Grassl bewegt sich allerdings auch ohne Schaukel einiges – drinnen im Büro und draußen in der Berchtesgadener Bergwelt.

Alleiniges Recht seit über 330 Jahren

Seit über 330 Jahren hat Grassl das alleinige Recht, dort in abgelegene Hochtäler zu steigen, die langen, störrischen Wurzeln des Enzians auszugraben und daraus Schnaps zu brennen. Auch Wacholder und andere Alpenkräuter verarbeitet die Brennerei. Heute zählen 46 verschiedene klare Spirituosen und Liköre zum Sortiment.

Enzian als Nische der Nische

»Unser Zugpferd ist und bleibt der Enzian. Damit sind wir die Nische der Nische«, meint Florian Beierl. »Es gibt nur drei Produzenten in Deutschland, die wie wir als Enzianbrennerei Handelsketten beliefern. Auch Meisterwurz und Wacholder stellen wir nach unseren alten und überlieferten Geheimrezepturen her.« Doch Tradition sei natürlich nicht alles. »Auch die Moderne spielt für uns eine wichtige Rolle. Da legen wir viel Wert auf ein gutes und nachhaltiges Zusammenspiel.« So setzt Grassl neuerdings auf Kooperationen, bei denen die Firma mit Betrieben aus der Region wie der Molkerei Berchtesgadener Land, Wieninger Bier oder Bad Reichenhaller Alpensalz gemeinsam neue und hochprozentige Geschmackswelten kreiert.

Gut für online während Corona: kleine Hauszeitung »Enzianbote«

Über die drei Grassl-Läden in Berchtesgaden, den Onlineshop sowie den Handel mit Supermärkten und Gastronomie läuft der Verkauf. »Mit diesen drei Standbeinen sind wir gut aufgestellt«, so Martin Beierl. »Dazu gesellt sich unser sogenannter Enzianbote, den wir seit 1962 im Printformat an unsere bestehende Kundschaft wie einen Newsletter versenden.« Die kleine Hauszeitung kam gerade während der Corona-Lockdowns gut an. »Davon profitierte wiederum unser Onlineverkauf.«

Vor mehr als 330 Jahren war Enzian eine Heilpflanze, für die sich vor allem die Klöster interessierten. In deren Apotheken wurden damals verschiedenste Geheimrezepturen mit der Wurzel fabriziert – dazu zählte auch Enzianschnaps. Im Berchtesgadener Land durften nur Klosterangehörige die Heilpflanze ausgraben und verarbeiten. Bis 1692 der damalige Fürstprobst, Joseph Clemens, der Familie Grassl das gleiche Recht erteilte.

 »Sich Zeit nehmen und Zeit lassen«

Der Ostalpen-Enzian (Gentiana pannonica) braucht bis zu seiner ersten Blüte knapp acht Jahre. Erst dann eignen sich die Wurzeln für die Schnapsbrennerei. »Sich Zeit nehmen und Zeit lassen, das ist beim Enzian immer schon enorm wichtig gewesen«, meint Florian Beierl, »das gilt auch für unsere anderen Produkte.«

Nur alle sieben Jahre

Für die Premiumlinie wird der Enzian in Steilhängen und auf Almflächen rund um den Watzmann von Wurzelgrabern mit speziellen Hacken ausgegraben. Damit sich die Pflanzen und der Boden erholen können, darf nur im Abstand von mindestens sieben Jahren an der gleichen Stelle gegraben werden. Mit Kraxen werden die Wurzeln, die jeweils mehr als einen Meter lang und zwei Kilo schwer werden können, zu den Brennerhütten, die auf über 1.000 Metern Höhe liegen, gebracht. Von außen sehen sie wie gewöhnliche Almhütten aus. Im Innern befindet sich jedoch eine kleine Brennerei mit Kessel.

Die Enzianwurzeln werden dort klein gehackt, eingemaischt, zwei Wochen vergoren und danach gebrannt. Für spezielle Kräuterdestillate wie den »Bergbrenner-Meisterwurz« werden die Wurzeln nicht vergoren, sondern in einen Stoffbeutel gepackt und in den Kessel gehängt, der mit Wasser und reinem Alkohol gefüllt ist. »Das läuft wie bei einem Kräutertee, den man sich morgens zum Frühstück macht«, erklärt Florian Beierl. Das Destillat wird dann in Eschenholzfässer abgefüllt und im Tal in alten Stollen und Felsenkellern jahrelang gelagert, bis der Enzianschnaps verkauft werden kann.

Streng geheime Klosterrezepturen

»Unsere Arbeitsweise hat sich, was den Enzian betrifft, im Laufe der Jahrhunderte nicht wirklich groß verändert«, sagt Florian Beierl und betont: »Er wird von unseren Bergbrennern nach den althergebrachten und streng geheimen Klosterrezepturen oben im Gebirge gebrannt – das gilt auch für unseren Wacholder und Meisterwurz.«

Über 200.000 Besucher jährlich

Max Irlinger ist einer dieser Bergbrenner. Im Sommer steigt er mit den Wurzelgrabern ins Gebirge, arbeitet von Juni bis Oktober auf den vier Brennerhütten. Die fünfte Hütte wurde abgebaut und neben der Talbrennerei von Grassl in Berchtesgaden wieder aufgebaut. Dazu gesellen sich ein großer Laden und ein kleines Museum. »Wir haben im Jahr über 200.000 Besucher, die bei uns nicht nur Schnaps kaufen, sondern auch die Geschichte von Grassl entdecken können«, sagt Martin Beierl.

Als geschäftsführender Gesellschafter kümmert sich der 47-Jährige um Finanzen und Vertrieb, sein Bruder Florian (51) um Produktion und Marketing. Die beiden Brüder haben 2013 die Geschäftsführung von ihrem Vater Josef übernommen. Dieser wiederum kam über seinen besten Freund, Gebhard Droßbach, der mit Anna Grassl verheiratet war, in den 1950er-Jahren zur Enzianbrennerei und arbeitete zunächst im Vertrieb.

Wachstum durch Tourismus 

Bis ins 18. Jahrhundert hatte die Familie Grassl ihre Spirituosen fast ausschließlich in der direkten Umgebung verkauft. Doch mit dem aufkommenden Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert wurden Nachfrage und Betrieb immer größer. In den 1970er-Jahren übernahm Grassl Enzianbrennereien in Bad Reichenhall, Salzburg und München. Zwischenzeitlich beschäftigte das Unternehmen über 100 Mitarbeiter.

Doch es folgten schwere Zeiten. »Unser Vater verhinderte in den 1990er-Jahren, dass Droßbach seine Anteile an einen Spirituosenkonzern verkauft«, erzählt Florian Beierl. Der Vater habe den Familienbetrieb unbedingt erhalten wollen und wurde Mehrheitsteilhaber.

Von der großen weiten Welt in den Betrieb

»Mein Bruder und ich sind schon als kleine Burschen hier durch die alte Brennerei im Tal gesprungen, haben später in den Schulferien immer wieder mit angepackt«, sagt Florian Beierl. »Das hat uns viel Spaß gemacht. Doch wir hatten nie die konkrete Absicht, in den Betrieb einzusteigen. Das hat auch unser Vater nicht erwartet. Wir wollten die große weite Welt entdecken.«

Florian studierte in Salzburg Geschichte, arbeitete als Historiker an Dokumentationen fürs Fernsehen. Auch seinen jüngeren Bruder Martin zog es in die große Stadt. Er arbeitete in München als Kameratechniker bei Dedo Weigert. »Ein Kameramann, der 1991 mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Wir sind mit seinen Highspeed-Kameras durch ganz Europa getourt und zu Filmdrehs gefahren«, erinnert sich Beierl. »Eine tolle Zeit. Doch mir war klar, dass ich irgendwann nach Berchtesgaden zurückkehren werde.« 2006 wurde er Vertriebsleiter bei Grassl, gründete eine Familie.

Mit Ideen und Schwung zum Erfolg

2012 kam auch Florian zurück und übernahm das Marketing. Die Brüder brachten das Unternehmen mit ihren Ideen und ihrem Schwung wieder auf Erfolgskurs. »Wir sind echte Berchtesgadener, hier geboren und mit Grassl doch enger verbunden, als wir selbst gedacht hatten«, sagt Martin Beierl. Ob ihre Kinder einmal übernehmen werden? Beide grinsen. »Das würde uns sehr freuen, wenn einer von den fünfen Lust darauf hätte«, so Florian Beierl.

»Den Bodenkontakt behalten«

Ab und zu schauen die Beierl-Brüder im Sommer oben in den Brennerhütten vorbei. Sie kennen jeden ihrer 50 Mitarbeiter, helfen auch mal in der Talbrennerei im Laden aus und verpacken Enzian für Kunden und Besucher. »Wir wollen mit unseren Mitarbeitern und Kunden immer verbunden sein, wollen den Bodenkontakt behalten«, meint Martin Beierl.

»Pfiffige Ideen und gutes Zusammenspiel«

Die beiden Brüder sehen sich als Teil eines Teams. Zusammen mit Armin Ludwig (Vertriebsleiter), Torben Jarosch (Prokurist) und Alexander Lauterbach (Destillateur) haben sie vor zwei Jahren beispielsweise ein neues Grassl-Logo entworfen. »Viele würden das outsourcen«, sagt Florian Beierl. »Doch wir haben selbst immer wieder ganz pfiffige Ideen und ein gutes Zusammenspiel. Unsere Grafikerin gibt dem Ganzen dann noch den nötigen Feinschliff.« So läuft’s rund – unten im Tal und oben in den Bergen. Und eine Schaukel gibt es ja auch noch, die für Schwung sorgt.

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