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Politik bremst Wirtschaft – und sich selbst

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Verabschiedete zahlreiche Positionen – IHK-Plenum in Westerham

Die IHK-Vollversammlung kritisiert den Stillstand in der Bundesregierung in Berlin und diskutiert engagiert über die Energiekrise und die Schaffung von Wohnraum.

Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 09/2023

Diskussionsfreudig wie im Vorjahr, so zeigte sich die IHK-Vollversammlung auf ihrer Sommersitzung Ende Juni in der IHK Akademie Westerham. Wieder ging es um das Austarieren des Zieldreiecks von wirtschaftlichem Erfolg, sozialer Sicherheit und ökologischer Nachhaltigkeit in der oberbayerischen Wirtschaft.

Eine vorgeschaltete „Fishbowl“-Diskussion unter dem Motto „#gemeinsam die Stimme erheben“ gab rund 30 Unternehmerinnen und Unternehmern Raum für individuelle Perspektiven und Prioritäten. In Pro-und-Contra-Dialogen wurden Meinungen abgewogen und durch Wortmeldungen ergänzt. Ergebnis: Das IHK-Leitbild der nachhaltig-sozialen Marktwirtschaft, das die Vollversammlung im Dezember 2021 verabschiedete, ist tragfähig. Die Aufgabe besteht im Ausbalancieren der unvermeidlichen Zielkonflikte innerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems, das eine Daueraufgabe von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen ist. IHK-Präsident Klaus Josef Lutz sprach von einer wohltuend sachlichen, bereichernden Diskussion.

Klare Absage an Energiekostenspirale

Auch die Vollversammlung selbst knüpfte inhaltlich an die Vorjahressitzung an. Energiewende und Energiekrise sind unverändert das Thema Nummer 1. IHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl zitierte aus einer Videoschalte mit dem Präsidenten der Bundesnetzagentur, Klaus Müller. Demnach sei die Gefahr einer Gasmangellage im kommenden Winter keineswegs gebannt. Der Winter könne trotz voller Speicher eine große Herausforderung werden in der Kombination von kalten Temperaturen, einem russischen Lieferstopp von Gas nach Österreich und Südosteuropa sowie erhöhter Flüssiggasnachfrage aus China.

Dass Müller sich gegen die Einführung einer zweiten Strompreiszone in Deutschland wehrt, die von Nordrhein-Westfalen südwärts bis Bayern reichen würde, begrüßte Gößl. Was der Standort definitiv nicht brauchen könne, seien noch höhere Strompreise. Der Hauptgeschäftsführer listete weitere Kostenrisiken auf: 300 Milliarden Euro für die Verteilernetze, 300 Milliarden Euro für die Nord-Süd-Stromtrassen, viele weitere Milliarden für die 25-Gigawatt-Gaskraftleistung, die Deutschland bis 2030 zusätzlich braucht, um die Grundlast abzusichern.

Kritik am Berliner Strompaket

Als Schrumpfungsprogramm kritisierte der IHK-Hauptgeschäftsführer das von der Bundesregierung vorgeschriebene Energieeinsparziel von minus 26,5 Prozent bis 2030 gegenüber dem Niveau von 2008. Es sei nicht zu verstehen, dass dabei nicht zwischen grünen und fossilen Energien unterschieden werde. Die Signale seien gerade für energieintensive Betriebe irritierend gewesen. Durch viele Gespräche mit Abgeordneten, die auch die IHK parteiübergreifend führte, konnte der Gesetzgeber überzeugt werden, den individuellen Verbrauch von Unternehmen nicht zu begrenzen und dies auch explizit klarzustellen.

Plenumsmitglied Ingo Schwarz stellte ebenso wie Präsident Lutz fest, dass die Politik massiv an Vertrauen verloren habe. Lutz sagte, er werde auf allen Veranstaltungen und Gesprächen mit der Wirtschaft in ganz Bayern sorgenvoll darauf angesprochen, wie es mit dem Land und Europa weitergehe. Er erkenne in der Politik keine Idee und keine strategische Agenda dafür. Schwarz betonte, man sei gezwungen, die Umsetzung des Berliner „Strompakets“ kritisch zu begleiten.

Gößl: „Industriestrompreis unzureichend“

Vollversammlungsmitglied Eduard Kastner schlug vor, die Eigenstromerzeugung von Steuern und Abgaben zu befreien. Sein Plenumskollege Franz Schabmüller forderte, es müsse einfacher werden, Solaranlagen zu installieren. Die Erschließungskosten und Antragsverfahren bremsten den Ausbau der Erneuerbaren aus.

IHK-Geschäftsführer Gößl kritisierte den von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorgeschlagenen Industriestrompreis als unzureichend. Nur 1.000 bis 2.000 hochenergieintensive deutsche Unternehmen würden davon profitieren. Die Inanspruchnahme des Preisvorteils von 6 Cent netto sei zudem an Transformationsverpflichtungen, Standortgarantien und Tariftreue gebunden, die in der Kombination eher von Großbetrieben erfüllt werden könnten.

IHK-Vorschlag: Abgaben für Strom senken

Laut Gößl sieht das ausbilanzierte Modell der IHK-Organisation zwei zusätzliche Bausteine vor: die Senkung der Stromsteuer auf das EU-Mindestmaß für alle sowie die Entlastung von Umlagen und Entgelten auf Strom. Dadurch könnte der Strompreis um 3 Cent je Kilowattstunde sinken.

Zudem sollten langfristige Stromlieferverträge zwischen Anlagenbetreibern erneuerbarer Energien und Stromverbrauchern aus der Wirtschaft durch einen Investitionszuschuss bei den Anbietern gepusht werden – analog zu den tax credits in den USA. Dies könnte den Strombezugspreis um 3,5 bis knapp 4 Cent je Kilowattstunde reduzieren, und zwar für die gesamte Breite des Mittelstands.

Europawahl im Blick

Als Fazit der Debatte beschloss das Plenum die DIHK-Positionen „Perspektiven der Energieversorgung 2030“ und „StromPartnerschaft für wettbewerbsfähige Preise und schnelleren EE-Ausbau“. Mit der Verabschiedung der Position „Die Wettbewerbsfähigkeit Europas sichern“ legte das Plenum die Basis für die Europawahl 2024.

Gesucht: Lösungen für mehr Wohnraum

Die Schaffung von Wohnraum war das zweite Thema der Debatte, denn „ohne Wohnungen keine Arbeitskräfte“. IHK-Präsident Lutz bezeichnete die Lage als desaströs. Der Wohnungsbau sei im ersten Quartal 2023 um 38 Prozent eingebrochen. Werner Mooseder, Plenumsmitglied sowie Wohnbau- und Projektentwickler, meinte, so schnell lasse sich das nicht ändern. „Unsere Branche ist ein träger Tanker. Wir haben das Vertrauen in die Märkte verloren“, stellte er mit Bedauern fest.

Ingo Schwarz meinte, neben steigenden Zinsen, Kosten und zu wenig Bauland bremsten auch Vorschriften wie die „TA-Lärm“ (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm) Investitionen. Man dürfe nicht nur über Neubau reden, merkte Vollversammlungsmitglied Sven Keussen an. Man müsse überlegen, wie der Bestand effizienter genutzt werden könne.

Wohnungsbau beschleunigen und fördern

Wie brisant das Thema ist, zeigt sich auch in der IHK-Umfrage zum Wirtschaftsstandort Oberbayern, die Peter Kammerer, stellvertretender Hauptgeschäftsführer, vorstellte. Auf den ersten Blick sind die Ergebnisse erfreulich: Gesamtnote eine glatte „Zwei“, 4 von 5 der Unternehmen stuften den Standort als „sehr gut“ oder „gut“ ein. 83 Prozent der 4.000 Firmen würden sich wieder für Oberbayern entscheiden.

Als bedenklich wertete Kammerer jedoch folgenden Punkt: Gut ein Drittel der Betriebe sieht ihre Entwicklung durch Standortmängel beeinträchtigt. Ganz oben auf der Mängelliste steht das Fehlen bezahlbarer Wohnungen für die Mitarbeiter. Vor diesem Hintergrund beschloss das Plenum die IHK-Position „Schaffung von Wohnraum“. Das Papier sieht ein ganzes Paket an Maßnahmen vor. Dazu gehören etwa die Ausweisung von mehr Bauland, schnellere Genehmigungsverfahren und steuerliche Förderungen.

IHK-Jahresabschluss bewilligt

Keine Diskussion gab es bei Top 6, „Jahresabschluss 2022 der IHK“. Jeweils ohne Gegenstimme entschied das Plenum folgende Punkte: Feststellung des Jahresabschlusses, Beschluss über die Ergebnisverwendung und Entlastung des Präsidiums und des Hauptgeschäftsführers.

Stehende Ovationen

Das Finale wurde dann emotional. Eva Moser, die langjährige Leiterin des Bayerischen Wirtschaftsarchivs, und Peter Kammerer wurden in den Ruhestand verabschiedet. Kammerer bot in seiner Abschiedsrede einen Rückblick auf knapp 30 Jahre Zusammenarbeit mit IHK-Persönlichkeiten. Dafür gab es stehende Ovationen. Mehr Anerkennung geht nicht.     

IHK-Service zur Vollversammlung

Alle von der IHK-Vollversammlung beschlossenen Positionen sind auch im Internet abrufbar.

 

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