Fachkräfte | Standortpolitik

Nah dran an den Firmen

Andreas Gebert ©
Stellte sich den Fragen der Unternehmer – Ministerin Ulrike Scharf mit IHK-Präsident Klaus Josef Lutz (l.) und IHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl

Das Plenum diskutiert mit der Bayerischen Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, Ulrike Scharf, über den Arbeitskräftemangel im Freistaat.
 
Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 09/2024

Mit dem Arbeitskräftemangel stand ein Top-Risiko der bayerischen Wirtschaft im Brennpunkt der IHK-Vollversammlung Ende Juni. Traditionsgemäß tagte das Plenum in der IHK Akademie Westerham. Bayerns Arbeits- und Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) nahm erstmals an einer Plenumssitzung teil, um mit den Unternehmerinnen und Unternehmern über Lösungen zu diskutieren.

Und Lösungen werden schnell gebraucht. Ministerin Scharf und IHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl zitierten aus dem neuen IHK Arbeitsmarktradar Bayern, den das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für die bayerischen IHKs erstellt hat. Demnach wird die Arbeitskräftelücke im Freistaat von aktuell 151.000 Stellen bis zum Jahr 2027 um 17 Prozent wachsen. Sie gibt an, wie viele offene Stellen bleiben, wenn man alle passend qualifizierten Arbeitslosen abzieht.

Schaden in Milliardenhöhe

2027 werden dies laut Arbeitsmarktradar 176.000 sein, obwohl die Studienautoren bereits eine hohe Zuwanderung von Arbeitskräften und eine generell steigende Erwerbsbeteiligung eingerechnet haben. Der volkswirtschaftliche Schaden durch die Arbeitskräftelücke beliefe sich 2027 für Bayern auf gut 18 Milliarden Euro. Ein drohendes Desaster, weil es eben nicht nur an IT-Profis fehlt.

Die IW-Studie bestätigt, was Wirte längst wissen: Auch für einfache Tätigkeiten sind keine Leute mehr zu finden. Gößl betonte, in absoluten Zahlen sei Verkäufer/-in der Top-Mangelberuf in Oberbayern: Mehr als 8.000 Fachkräfte im Verkauf werden 2027 fehlen, gefolgt von rund 5.000 Spezialisten in Kitas und Kindergärten.

Scharf kritisierte, der Bundesregierung sei dazu bislang nichts eingefallen. Im Gegenteil: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) halte an dem gut 30 Jahre alten Arbeitszeitgesetz fest, das der digitalisierten Berufswelt widerspreche. Was die Firmen stattdessen bekommen hätten, sei Bürokratie: die Pflicht auch für Kleinbetriebe, die Arbeitszeit der Mitarbeitenden zu erfassen.

ifo-Modellrechnungen lassen hoffen

Scharf sagte weiter, das Bürgergeld wirke in seiner aktuellen Form beschäftigungsfeindlich. Damit werde Nichtstun subventioniert. Entscheidend sei, dass Miete und Energiekosten vom Staat übernommen würden. Man müsse folglich dafür sorgen, dass Bürgergeld-Empfänger binnen sechs Monaten in billigere Wohnungen umzögen.

Was gegen den Arbeitskräftemangel helfen würde, zeigen Modellrechnungen, die das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo für die IHK erstellt hat. Das Spannende daran sei, so Gößl, dass das ifo Institut die Wirkung jeder Maßnahme in Vollzeitstellen umgerechnet habe. Jede Maßnahme sei wirksam, zusammen könnte in Bayern ein Beschäftigungseffekt von rechnerisch weit über 100.000 Vollzeitstellen erzielt werden – durch eine Reform des Ehegattensplittings, die Abschaffung der beitragsfreien Mitversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, die Erhöhung der Betreuungsplätze für Kinder und durch Rentenreformen.

Hoher Krankenstand verschärft Lage

Gößl führte weiter aus, dass die hohen Fehlzeiten während der Coronapandemie in Deutschland, anders als in anderen Ländern, nicht zurückgegangen seien. Würde der überhöhte Krankenstand der vergangenen beiden Jahre zur neuen Normalität werden, stünde rechnerisch die Arbeitskraft von rund 350.000 Beschäftigten in Deutschland, davon etwa 60.000 in Bayern, weniger zur Verfügung.

IHK-Präsident Klaus Josef Lutz erklärte, das Gespräch mit der Ministerin solle Mut machen, Dinge anzupacken, die seit Jahren fällig seien. Scharf versicherte, die Staatsregierung werde ihren Teil beitragen, vor allem da, wo Bayern Nachholbedarf habe. Laut Bertelsmann Stiftung fehlen im Freistaat 70.000 Kita-Plätze. Das soll drastisch besser werden. Scharf berichtete über das von ihr initiierte Quereinsteigerprogramm, mit dem 6.700 Personen für die Arbeit in der Kita qualifiziert worden sind. Bis 2027 sollen die knapp 19.000 offenen Stellen in den Kitas besetzt sein.

„Fast Lane“ für Pflegekräfte aus Drittländern

Noch macht schlechtes Teamwork vieles schwierig. Vollversammlungsmitglied Sven Keussen klagte etwa über die langwierige Genehmigung einer Betriebs-Kita. Verantwortlich sei laut Scharf das Landratsamt München. Dort seien die Mitarbeiter sehr penibel. Bayern will über eine „Fast Lane“ Pflegekräfte aus Drittstaaten anwerben. Daran arbeitet auch der Bund. Deutschland hat das allerdings 2023 insgesamt nur rund 600 neue Pfleger gebracht. Ein Grund sei, wie Scharf erklärte, dass die deutschen Botschaften mit der Visavergabe nicht hinterherkämen.

Nach Scharfs Vortrag gab es viele Wortmeldungen aus dem Plenum. Ingo Schwarz äußerte den Wunsch, die Politik solle erst die Unternehmen fragen, bevor sie etwas entscheide. Heidrun Hausen meinte, man müsse beim Rentenalter differenzieren: Für körperlich arbeitende Menschen sei die Rente mit 69 nicht denkbar. Katharina König sagte, für berufstätige Mütter sei in der Coronazeit eine weitere Belastung entstanden. Als Spätfolge des Lockdowns würden in Kliniken viele Kinder mit Depressionen behandelt. Und Gerhard Müller wies darauf hin, wie viel Zeit und Energie die Pflege der eigenen Eltern binde.

Baustellen: Ehegattensplitting und Ladenschluss

Scharf musste auch Kritik einstecken. Irene Wagner forderte, die CSU müsse ihr verstaubtes Familien- und Rollenbild korrigieren. „Wir haben schon vor 20 Jahren die Abschaffung des Ehegattensplittings gefordert. Dann hieß es immer: ihr Emanzen“, kritisierte Wagner.
Denise Amrhein und Sonja Ziegltrum erklärten, für Mütter in Teilzeit gebe es finanziell null Anreiz, Stunden aufzustocken. Die Steuerklasse 5 schrecke ab. Ein Minijob sei attraktiver.

Michael Zink sprach mit dem Ladenschluss einen weiteren wunden Punkt an. Bayern ist das einzige Bundesland, in dem noch die alte Bundesregelung gilt. Die Staatsregierung arbeitet derzeit an einem eigenen Gesetz. Der IHK-Handelsausschuss hat sich dazu klar positioniert und fordert, an Werktagen die Öffnungszeiten freizugeben. An die Umsetzung glaubt nicht einmal die Branche selbst, weil das Personal fehlt. Daher wünschte sich Zink als Erleichterung künftig mehr als eine Shopping-Nacht pro Jahr und Stadt.

Scharf sagte für viele Bereiche Entgegenkommen zu. Man müsse bei der Pflege Angehöriger zu Lösungen kommen. Beim Ehegattensplitting, das sie selbst stets verteidigt hatte, deutete sie eine Kurskorrektur an. Scharf sagte, das Modell müsse man zum Familiensplitting weiterentwickeln. Für München konnte sie sich künftig bis zu 6 Shopping-Nächte pro Jahr vorstellen.

IHK-Präsenz in der Fläche verstärken

Die Berichte aus der Region boten ein gemischtes Bild. Andreas Bensegger meldete aus Rosenheim eine Rekordbeteiligung von Ausstellern und Besuchern bei der Ausbildungsmesse IHKjobfit!. Otto Heinz äußerte sich sehr zufrieden über die Klausur der Regionalausschussvorsitzenden im April im Berchtesgadener Land. Man habe dort Schritte beschlossen, die die Präsenz der IHK in der Fläche noch verstärkten. Danach machte Heinz eine Tour zu den IHK-Geschäftsstellen in Rosenheim, Weilheim, Mühldorf und Ingolstadt. Sein Fazit: „Wir sind richtig nah dran an den Firmen.“

Hochwasser & Co: Versicherung abschließen

Bedrückend waren dagegen die Bilder, die Christian Krömer vom Hochwasser im Paartal in seinem Landkreis Neuburg-Schrobenhausen zeigte. Krömer lobte, wie die IHK das Thema aufgegriffen und die Unterstützung für betroffene Unternehmen koordiniert habe. Vizepräsidentin Ingrid Obermeier-Osl riet ihren Unternehmer-Kollegen, eine Versicherung gegen Elementarschäden abzuschließen. Ein Punkt mehr auf der Aufgabenliste.

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