Freier Handel | Standortpolitik
„Die EU ist alternativlos“
EU-Experte Klemens Joos spricht über die Bedeutung Europas und der Europawahl, Brüsseler Entscheidungsprozesse und eine Zeitenwende, die keiner mitbekam.
Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 05-06/2024
Normalerweise gibt er keine Interviews. Anlässlich der Europawahl hat Klemens Joos für das IHK-Magazin eine Ausnahme gemacht. Joos gilt als einer der besten EU-Versteher des Landes. Er beschäftigt sich als Autor, Wissenschaftler und Unternehmer mit politischen Prozessen auf EU-Ebene. Die Neuauflage seines Standardwerks „Politische Stakeholder überzeugen“ (Verlag Wiley-VCH) liegt laut dem Marktforschungsunternehmen Media Control bei Fachbüchern auf Platz 1 in der Rubrik Politikwissenschaft.
Herr Professor Joos, Europa hat schon bessere Tage gesehen. Bauernproteste, Streit über die Ukraine-Hilfe, laute Rechtspopulisten, im November droht uns Trump. Müssen wir uns um die Zukunft der EU Sorgen machen?
Nein, überhaupt nicht. In einer globalisierten Welt geht ohne die EU für Bürger und Unternehmer nichts mehr. Die EU ist alternativlos, ein Erfolgsmodell.
Mit welchem Argument kontern Sie die EU-Gegner?
Mit der Wirklichkeit. Schauen Sie sich bitte an, wo heute Krieg geführt wird und wo nicht. Die EU ist ein geniales Friedensprojekt. Bei einer Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen brauchen wir die Grundmasse von 450 Millionen Bürgern, um überhaupt noch Einfluss zu haben. Die größten Städte der Welt liegen außerhalb des Westens: Tokio, Jakarta und Neu-Delhi. Schauen Sie sich an, was China in nur 30 Jahren aus dem Boden gestampft hat.
Mit Highspeed unterwegs
Genau das wirft man der Europäischen Union vor: Sie würde die Wirtschaft lähmen.
Um das mal einzuordnen: Wo ist denn der Boom der britischen Wirtschaft nach dem Brexit geblieben? Wo sind die britischen Erfolge bei den Freihandelsabkommen? Stattdessen haben die Briten jetzt 50.000 Zollbeamte mehr. Die USA haben nach ihrer Gründung einen Bürgerkrieg und gut 100 Jahre gebraucht, bis der Einigungsprozess abgeschlossen war. Im Vergleich dazu ist die EU mit Highspeed unterwegs.
Warum hat dann die EU so ein schlechtes Image?
Da gibt es eine falsche Wahrnehmung in weiten Teilen der Bevölkerung und auch der Eliten. Die Leute setzen sich abends eben nicht auf die Couch und schauen sich eine Phoenix-Sendung über Europa an. Das führt zu viel Unwissenheit und nährt Verschwörungstheorien.
IHK-Präsident Klaus Josef Lutz beklagt, kaum jemand wisse, welche Bedeutung die Europäische Union für uns habe. Woran liegt das?
Ein Grund ist schon das Sprachproblem. Es gibt keine EU-Öffentlichkeit, es wird nicht medial thematisiert und kanalisiert, was auf EU-Ebene passiert. Viele Journalisten blicken nicht durch, wie die EU-Gesetzgebung funktioniert. 70 bis 80 Prozent unserer Gesetze haben ihren Ursprung in Brüssel oder Straßburg. Das wird nicht wahrgenommen, auch weil EU-Richtlinien nicht unmittelbar wirken. Für Aufregung sorgt erst deren nationale Umsetzung. Dann ist es zu spät, weil in Brüssel schon alles entschieden wurde.
Vertrag von Lissabon: Urknall für das heutige Europa
Unsere TV-Talks tragen auch nichts zur Aufklärung bei. Da diskutiert man derzeit über die Landtagswahl in Thüringen. Dabei kommt die Europawahl viel früher …
… und die ist viel, viel wichtiger. Ich glaube, diese falsche Wahrnehmung liegt letztlich daran, dass kaum jemand weiß, wie sich die EU seit dem Vertrag von Lissabon 2009 gewandelt hat. Das haben auch viele Politiker und Journalisten nicht verstanden.
Was hat dieser Vertrag verändert?
Das war so etwas wie der Urknall für das heutige Europa. Seit dem 1. Dezember 2009 sind wir de facto die Vereinigten Staaten von Europa.
Hat die nationale Politik an Bedeutung verloren?
Die Gewichte haben sich klar Richtung Europa verschoben. Das Parlament ist gleichberechtigter Entscheider zum Rat geworden. Im Rat ist das Einstimmigkeitsprinzip in zentralen Politikfeldern weggefallen. Das gilt für Justiz, Landwirtschaft, Innenpolitik und Außenhandel – alles Themen, die für jedes Land ganz entscheidend sind.
Welche Folgen hat das für die deutsche Politik?
Unser Bundeslandwirtschaftsminister konnte früher einfach sagen: nein. Er konnte im Alleingang EU-Vorhaben blockieren. Über Nacht hat sich das geändert. Seitdem reicht die qualifizierte Mehrheit im Rat für EU-Beschlüsse aus. Das gilt auch für die Justiz. Für das deutsche Urheberrecht hieß das Game over, das wurde auf EU-Ebene aufgeweicht.
Strukturen komplexer als in Bayern oder Berlin
Sie beschäftigen sich seit Jahren mit europäischen Prozessen. Wie kamen Sie auf die Idee?
Durch die Einsicht, dass das, was in Bayern oder in Berlin funktioniert, auf EU-Ebene nicht wirksam ist. Wer in Brüssel etwas erreichen will, muss andere Instrumente wählen. Es geht dort immer um eine Lösung für 27 Mitgliedstaaten. Schon das sorgt für ungeheure Komplexität. Und genau das ist mein Thema.
Was läuft in Brüssel denn so anders als in München und Berlin?
Das beginnt schon damit, dass es im EU-Parlament weder eine Regierungs- noch eine Oppositionsfraktion gibt. Jedes Vorhaben der Kommission braucht im Parlament und im Rat eine Mehrheit. Bei EU-Entscheidungen mischen sehr viele Player mit: die 27 Regierungschefs, die Präsidentin Ursula von der Leyen, 8 Vizepräsidenten, 18 Kommissare, 705 Abgeordnete, mehr als 300 Fachminister der Mitglieder und so weiter. Wie gesagt: Das ist unfassbar komplex.
Wie kommt man dann noch zu guten Ergebnissen?
Das Risiko ist auch der EU-Kommission sehr klar: Lange Entscheidungsprozesse könnten zu Ergebnissen führen, die so keiner wollte. Als Konsequenz hat man den informellen Trilog eingeführt. So um 2015 hat man damit angefangen. Entscheider von Rat, Kommission und Parlament sitzen dabei quasi im Hinterzimmer zusammen und regeln bis ins Detail, was man haben will.
„Informeller Trialog“ beschleunigt Prozesse
Klingt nicht sehr demokratisch.
Stimmt. Offiziell gibt es den informellen Trilog gar nicht, in den Verträgen der EU kommt er nicht vor. Deshalb bekommt kaum einer mit, was dort abläuft. Entscheidend ist aber Folgendes: 89 Prozent aller Verordnungen, Rechtsakte und Richtlinien sind schon nach der ersten Lesung und dem informellen Trilog abschließend beschlossen.
Welche Konsequenz hat das für Bürger und Unternehmen?
Mir geht es um die Einsicht: Man erreicht in Brüssel nichts, wenn man die Prozesse nicht versteht. Die Taxonomie liefert dafür ein geniales Beispiel. Die Franzosen wussten, wie man es macht. Die hatten den Ratsvorsitz und haben das geschickt durchgedrückt: die Einstufung der Kernkraft als „grün“ per delegiertem Rechtsakt.
Sie haben sogar eine Formel für die Interessenvertretung in der EU entwickelt. Gibt es da tatsächlich Gesetzmäßigkeiten?
Die veranschaulichende Formel funktioniert jedenfalls erstaunlich gut. Die Gesetzmäßigkeit ergibt sich auch aus der Gauß’schen Normalverteilung. Es geht um die Berechnung der Wahrscheinlichkeit, wie Entscheider reagieren.
Alternativ: Erfolgsschlüssel: Wissen, wie Entscheider ticken
Und was sagt die aus?
In etwa 15 Prozent aller Fälle sagen die: Das geht nur über meine Leiche. Da brauchen Sie keinen Prozess anzufangen, das wird eine Beerdigung erster Klasse. In weiteren 15 Prozent der Fälle sagen die: Genial, super, das machen wir. Da muss man überhaupt nichts mehr machen. Das läuft. Entscheidend sind die übrigen 70 Prozent.
Sie sind Gründer und Chef eines Prozessdienstleisters. Was unterscheidet Sie von anderen Playern, die in Brüssel für Unternehmen aktiv sind?
Eben die Prozesskompetenz, das ist das Know-how, das ich mir in 30 Jahren aufgebaut habe. Es bringt wenig, wenn man in Brüssel nur die eigene Unternehmenssicht vertritt. Man braucht Zugang zu allen Entscheidern. Man muss wissen, wie die ticken. Das ist die Challenge. Man muss den Prozess komplett durchdenken.
. . . und die EU-Entscheider überzeugen. Wie bekommt man das hin?
Im Prinzip mit einem 3-stufiges Verfahren. Der Betroffene muss im ersten Schritt durch den Intermediär, der unabhängig sein muss, davon überzeugt werden, zu erklären, wo das Problem tatsächlich liegt.
Perspektivenwechsel: Lösung mit gesellschaftlichem Nutzen verbinden
Das klingt jetzt recht einfach.
In kaum einem Fall kann aber ein Unternehmen auf Anhieb klar sagen, was das Problem ist. Der eine Vorstandsflügel sagt so, der andere erklärt es anders. So gut wie niemand hat eine Antwort auf die Fragen: Wie lösen wir es? Warum soll die EU hier tätig werden?
Dazu braucht es wohl den Perspektivenwechsel, auf den Sie in Ihrem Buch deutlich hinweisen.
Genau. Sie müssen das eigene Anliegen mit dem Nutzen verknüpfen, den die Allgemeinheit davon hat. Da haben wir einzigartiges Know-how in meinem Unternehmen.
Um es Entscheidern leichter zu machen, gibt es dann noch Ihren OnePager.
Ja, exakt. Die Idee ist, alles auf einer Seite zusammenzufassen: das Problem, den gesellschaftlichen Nutzen und die Lösung. Das gibt es nur in diesem Haus. Wir werden das auch als Software auf den Markt bringen, die jeder kaufen kann.
Seit wann sind Sie als Prozessdienstleister tätig?
Seit 1990. Am Anfang hatten wir mittelständische Kunden, jetzt betreuen wir viele Konzerne und Großunternehmen. Wir sagen in einigen Fällen auch Nein. Wenn kein Perspektivenwechsel möglich ist, lehnen wir das ab.
„Einstimmigkeitsprinzip im Europarat muss fallen“
Plädieren Sie für eine EU-Reform?
Das ist unausweichlich. Die EU muss demokratischer und effizienter werden. Wenn der nächste Beitrittsstaat dazukommt, wäre das der ideale Slot für die nächsten Anpassungsschritte. Das Einstimmigkeitsprinzip im Europäischen Rat muss komplett fallen. Das Parlament – und nicht die Mitgliedstaaten – sollten künftig die Spitzen der EU-Kommission bestimmen.
Zur Person: Klemens Joos
Klemens Joos, Jahrgang 1969, ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der EUXEA Holding GmbH, einer Unternehmensgruppe mit 18 Gesellschaften. Joos hat von 1988 bis 2021 an der Betriebswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München studiert, promoviert und schließlich gelehrt. Seit 2021 doziert er an der Technischen Universität München (TUM), seit 2022 als Honorarprofessor für Betriebswirtschaftslehre – Political Stakeholder Management.
Joos ist Vorstandsmitglied der Europäischen Akademie Bayern und Träger des Bayerischen Verdienstordens.