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Partnerschaften mit viel Potenzial

Das Baltikum und die skandinavischen Länder gelten als Vorreiter in Digitalisierung und KI. Das bietet auch bayerischen Unternehmen gute Chancen.
Von Margrit Amelunxen, IHK-Magazin 03/2025
"Das machen wir jetzt – und gegebenenfalls bessern wir nach.“ So beschreibt Dominic Otto (43), stellvertretender Geschäftsführer der Deutsch-Baltischen Handelskammer (AHK), die Haltung gegenüber künstlicher Intelligenz (KI) und Digitalisierung in Estland, Lettland und Litauen. „Gerade bei Digitalisierung und KI wird der Nutzen in den baltischen Ländern stärker in den Vordergrund gestellt als die Risiken.“
Diese Einstellung erklärt Otto mit der geringen Größe der Länder und ihrer Vergangenheit: Nach der Unabhängigkeit Anfang der 1990er-Jahre fehlten schlicht Personen für den Neuaufbau der öffentlichen Verwaltung. Daher konzentrierte man sich darauf, die Verwaltung schlank, wenig bürokratisch und so digital wie möglich aufzustellen.
Dass vor allem Estland seit Jahren als digitales Vorzeigeland gilt, liegt laut Otto nicht nur am geschickten Marketing, sondern auch daran, dass tatsächlich über 99 Prozent aller behördlichen Vorgänge mit nur wenigen Klicks erledigt werden können. Lediglich für die Scheidung sei noch ein persönlicher Gang zur Behörde notwendig.
Nordeuropa: technikfreudiges Ökosystem
Das Baltikum, aber auch Skandinavien sind weit voraus, wenn es um Digitalisierung und KI geht. Die Länder dort besitzen ein aktives und technikfreundliches Ökosystem in diesen Bereichen. Ähnliches gilt jedoch auch für Oberbayern. Speziell der Münchner Raum steht für Spitzenforschung in Informatik, KI und Robotik mit den Lehrstühlen der TU München, Max-Planck- und Fraunhofer-Instituten und weiteren Institutionen. Ebenso florierende Start-ups und erfolgreiche bereits etablierte Unternehmen – beste Voraussetzungen also, um grenzüberschreitend zusammenzuarbeiten.
Erfahrungen mit der Zusammenarbeit hat zum Beispiel die birkle IT AG. Sie wurde 2016 in München gegründet, 2017 kamen eine Niederlassung in Tallinn sowie später Standorte in Berlin und Litauen hinzu. Für eine Kooperation mit Anbietern im Baltikum spricht laut Marco Spielmann, CEO von birkle IT Baltics, nicht nur der dortige Erfahrungs- und Wissensvorsprung von 10 oder mehr Jahren, sondern auch die Aufgeschlossenheit gegenüber der Digitalisierung.
Baltikum: Industrie und Regierung als Innovationstreiber
Ob Estland, das mit seiner e-Residency sogar eine grenzüberschreitende digitale Identität ermöglicht, oder der Fintech- und Insure-Hotspot Litauen: Während ansonsten europaweit häufig noch eine „Angstkultur“ herrsche, seien die baltischen Länder für ihren pragmatischen Umgang mit Technologie und ihre Innovationskultur bekannt. Möglich wird dies durch einen kooperativen Umgang von Regierung und Industrie.
Als Beispiel nennt Spielmann die autonom fahrenden Roboter des Unternehmens Starship, die in Tallinn Bestellungen ausliefern. Was andernorts vermutlich Jahre dauern würde, ließ sich mit Unterstützung der estnischen Behörden rasch umsetzen.
Niedrigerer Stundensatz
Attraktiv sind die baltischen KI-Hotspots zudem durch die vielen hoch qualifizierten Fachkräfte, deren Stundensatz um bis zu rund 50 Prozent niedriger als hierzulande sei. Kooperation und Austausch zwischen bayerischen und baltischen Partnern werden außerdem durch eine gemeinsame Kultur und Arbeitsethik vereinfacht, darin sind sich Spielmann und AHK-Experte Otto einig.
Bei birkle wirkt sich die baltische „Macher-Mentalität“ mit ihrem agilen und direkten Ansatz beim sogenannten Bestshoring positiv aus. Dabei kombiniert birkle für seine Teams das Beste aus beiden Ländern: deutsche Qualität und baltische Innovationsfreude.
White Label statt eigener Marke
Robert Schiermeier (53) ist Gründer der Münchner ValueMiner GmbH, die eine Softwareplattform für KI-gestützte Managementprozesse anbietet. Man solle sich das vorstellen wie beim Bauen mit Lego®, veranschaulicht Schiermeier. Mit den Bausteinen und Systemen von ValueMiner könne man sich eine eigene, flexible Software bauen.
Das Unternehmen arbeitet traditionell gut mit den skandinavischen Ländern zusammen. Deren Markt bezeichnet Schiermeier jedoch als nicht ganz einfach für oberbayerische Dienstleister. Deshalb kooperiert ValueMiner in Norwegen, Dänemark und Schweden mit lokalen Beratungspartnern, die die Plattform als sogenanntes White Label vertreiben. „Weil wir dort nicht als eigene Marke auftreten, haben wir nicht mehr diesen , fremden Stallgeruch‘ und weichen dem hohen internen Marktdruck aus.“
5 Jahre Erfahrungsvorsprung
Eine solche Partnerschaft sei außerdem unglaublich inspirierend. „Wir lernen dadurch, woran andere gerade arbeiten“, so Schiermeier. „In puncto Innovation und Digitalisierung ist man uns in Skandinavien etwa 5 Jahre voraus. Gerade im Staats- und Verwaltungsbereich können wir davon profitieren, weil man in Skandinavien mit Fachkräftemangel und Einwanderung von Arbeitskräften nicht erst in den letzten Jahren umgehen musste.“
KI optimiert Bewerberauswahl
Als Beispiel dafür nennt Schiermeier ein aktuelles Pilotprojekt zur Zertifizierung von Pflegekräften für den bayerischen Staat. Die KI liest Dokumente von Bewerbern aus Bulgarien und bewertet, inwieweit die Kandidaten für offene Stellen relevant sein könnten. Zeitaufwendige Verwaltungsvorgänge werden dadurch automatisiert und beschleunigt.
All diese Praxisbeispiele zeigen nicht nur eindrucksvoll, wie KI Prozesse effizienter gestalten kann. Sie geben auch einen Einblick, wie bayerische Unternehmen von der Kooperation profitieren.
IHK-Info: International Tech Talks – Artificial Intelligence in Bavaria and Northern Europe
Die International Tech Talks am 2. April 2025 in und von der IHK München und Oberbayern zusammen mit den AHKs legt einen Schwerpunkt auf die KI-Hotspots Baltikum und Skandinavien. Sie ist auch interessant für Brancheninsider und Firmen, die KI-Dienstleistungen suchen und anbieten.
Eine Teilnahme ist kostenlos, Anmeldung jedoch erforderlich.