„Offen sprechen, gemeinsam Lösungen finden“
Wer demenzkranke Angehörige pflegt, nimmt die Sorge und Belastung mit in die Arbeit. Wie Betriebe betroffenen Mitarbeitenden helfen können, erläutern Anja Kälin, 2. Vorständin, und Sabine Tillmann, Angehörigenbetreuerin bei Desideria. Der gemeinnützige Verein unterstützt Angehörige von Menschen mit Demenz.
Von Gabriele Lüke, 2/2024
Rund 1,8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik haben eine Demenzdiagnose. Das ist nicht nur eine persönliche Herausforderung für die Betroffenen und ihre Familien. Was bedeutet es für die Wirtschaft?
Anja Kälin: Die meisten Menschen mit Demenz werden zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt. In der Regel sind zwei bis drei Personen mit der Betreuung eines Erkrankten beschäftigt – zusammen also zwischen 3 bis 5,5 Millionen Menschen: Ehepartner, Töchter, Söhne, Enkelkinder … Diese sind in der Regel erwerbstätig – partiell auch noch die Ehepartner – oder in der Ausbildung.
Das heißt, sie bringen ihre private Belastung durch die Pflegesituation mit in die Arbeit, mit in die Unternehmen.
Sabine Tillmann: Richtig. Sie sind in Gedanken auch zu Hause, angespannt, abgelenkt. Zugleich wirken die Herausforderungen, mit denen die Angehörigen im Privatleben konfrontiert sind, ganz direkt in den Arbeitsalltag hinein. Stellen Sie sich vor, ihr erkranktes Familienmitglied ruft zehnmal am Tag während der Arbeitszeit an und stellt immer wieder dieselbe Frage, weil es etwas vergessen hat. Jedes Mal wird der Mitarbeitende dann in seiner Arbeit unterbrochen, aus seiner Konzentration gerissen, muss wieder hineinfinden. Gleichzeitig hat er nicht die Zeit, sich angemessen um seinen Angehörigen zu kümmern.
Demenz fordert auch Unternehmen heraus
Kälin: Und nicht zu vergessen: Das Thema ist schambesetzt. Es wird vor den Kollegen als unangenehm oder peinlich empfunden, wenn dauernd Anrufe eintreffen beziehungsweise wenn vor lauter Sorge die Tränen fließen. Daher sprechen die pflegenden Angehörigen das Thema häufig nicht offen an, sondern verheimlichen es. Das ist sehr belastend. Die Pflege von Menschen mit Demenz und das Berufsleben zu vereinbaren kostet also viel Zeit und Kraft, belastet die Seele, mindert unterm Strich die Leistungsfähigkeit und Motivation.
Immer wieder ist daher Arbeitszeitverkürzung in den Betrieben ein Thema und genauso Arbeitsausfall durch Überlastung. Insbesondere Frauen, die in 70 Prozent der Fälle die Pflege übernehmen, verzichten auf Karriereschritte. All das stellt auch die Unternehmen vor Herausforderungen.
Was bedeutet das Krankheitsbild genau?
Kälin: Der Begriff Demenz kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie „weg vom Geist“. Demenz ist ein Überbegriff, die bekannteste Form von Demenz ist die Alzheimer-Erkrankung. Dabei kann der Symptomverlauf ganz unterschiedlich sein. Die Betroffenen verlieren die Fähigkeit, sich Dinge zu merken – beispielsweise Termine und Gesprächsinhalte. Alltagskompetenzen schwinden und Orientierung geht verloren. Alltägliche Routinen wie etwa Kochen oder Einkaufen werden zu Hürden. Die Betroffenen brauchen dauerhaft Unterstützung – und das über viele Jahre.
Kleine Betriebe stärker unter Druck
Was bedeutet die Betreuung von Menschen mit Demenz durch Angehörige speziell für kleinere Unternehmen mit wenigen Mitarbeitenden?
Tillmann: Kleine Unternehmen bekommen das Thema sofort zu spüren. Wenn die Personalkapazitäten knapp sind, die Arbeit eng durchgetaktet ist, alles Hand in Hand gehen muss, ist ein Arbeitsausfall von Mitarbeitern besonders schwer abzufedern. Selbst Arbeitszeitverkürzungen sind dann kaum möglich.
Kälin: Zugleich kennen sich die Menschen in kleinen Firmen aber oft auch schon lange und gut, die Hierarchien sind flach, das Verhältnis zu Chef oder Chefin freundschaftlich. Das ist eine gute Voraussetzung, um über das Thema offen zu sprechen und gemeinsam Lösungen zu finden.
Kostenlose Beratung für Angehörige qua Gesetz
Wie können insbesondere auch kleinere Betriebe ihren Mitarbeitenden denn helfen?
Kälin: Wenn sich ein Mitarbeiter im Vertrauen an den Betrieb wendet, ist es zunächst nützlich, auf externe Angebote von Sparringspartnern hinzuweisen. Nach Paragraf 7a Sozialgesetzbuch (SGB) XI hat jeder Angehörige, der einen Demenzfall in seinem Umfeld hat, das Recht auf eine kostenlose Beratung. Dabei ist der Begriff des Angehörigen eher breit definiert. Auch enge Freunde etwa gelten als Angehörige. Das sollten die Chefs wissen und ihren Mitarbeitenden nahelegen. Es gilt übrigens auch für die Chefs selbst. Auch sie dürfen als Angehörige diese Hilfe in Anspruch nehmen.
Ihr Verein ist ein solch externer Sparringspartner. Was bieten Organisationen wie Ihre den Betrieben konkret an?
Tillmann: Die Angehörigen erhalten von uns vor allem die nötige Unterstützung, um wieder mehr Stabilität im Alltag und damit auch für die Arbeit aufzubauen. Konkret zu Desideria: Wir sind ein gemeinnütziger, bundesweit tätiger Verein mit Sitz in München. Neben unseren kostenfreien Angehörigenseminaren bieten wir einfache und schnelle Hilfe mit unserem Podcast und in unserer Online-Demenzsprechstunde, einer kostenfreien Mail- und Chatberatung zu akuten Fragen rund um Demenz.
Außerdem bieten wir kostenpflichtige 1:1-Coachings für berufstätige Angehörige an. Hier geht es um ganz individuelle Lösungen auch für die Arbeitsgestaltung. Die Kosten für das Coaching können vom Arbeitgeber übernommen werden.
Sensibilisieren und Kommunikation ermöglichen
Was wären erste Schritte, mit denen Betriebe sich dem Thema intern nähern können?
Kälin: Sinnvoll ist in jedem Fall erstmal eine Sensibilisierung. Das kann zum Beispiel über einen Fachvortrag im Unternehmen geschehen. Dafür können sich auch mehrere kleine Betriebe zusammentun. Ein solcher Vortrag verschafft Einblicke und Verständnis, verweist auf die gesetzlichen Ansprüche und öffnet den Raum für Kommunikation. Wichtig ist zudem die Funktion der Führungskräfte in dem Prozess. Denn sie sind im Idealfall der erste Ansprechpartner und Vertrauensperson für die Mitarbeiter. Sie sollten als Lotse fungieren und Kenntnis über Angebote für den Pflegefall bei Demenz haben.
Entlastung für alle durch gemeinsame Lösungen
Tillmann: Wir erleben in den Beratungen, dass es als sehr befreiend empfunden wird, wenn man die Kollegen früh einbeziehen kann. Man fühlt sich weniger allein. Im Arbeitsalltag wird vieles einfacher, Arbeit und Arbeitszeit lassen sich vielleicht neu verteilen. Die psychische Gesundheit und Resilienz verbessern sich wieder – und damit auch die Leistungsfähigkeit.
Selbstfürsorge nicht vergessen
Kälin: Ein weiterer Part liegt in den Händen der Angehörigen selbst: Sie erhalten in den externen Seminaren und Workshops wertvolles Wissen zum Thema Demenz und Pflege, können sich mit anderen Gleichbetroffenen austauschen und vernetzen. So entwickeln sie Strategien, Hilfe anzunehmen, in die Selbstfürsorge zu kommen. Zudem lernen sie, wie sie Pflege praktisch strukturieren können.
Das heißt, dass sie ein Netzwerk aufbauen, die Betreuung auf mehrere Schultern verteilen, damit nicht allein Ansprechpartner sind, wie sie Hilfe von Pflegediensten in Anspruch nehmen. So tragen sie auch selbst dazu bei, Arbeit und Pflege wieder klarer zu trennen beziehungsweise zu vereinbaren – das ist gut für sie selbst und für das Unternehmen.
IHK-Info zur Ausbildung als Pflegelotse
In einer stetig alternden Gesellschaft nimmt die Anzahl pflegebedürftiger Menschen von Jahr zu Jahr zu. Eine kluge Ergänzung können betriebliche Ansprechpersonen zum Thema Pflege sein, so genannte Pflegelotsen, die einen Überblick über Unterstützungsmöglichkeiten haben – auch für Angehörige, die Demenzkranke pflegen. Hier ein Überblick zu den bayerischen Angeboten.