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Krisenfest durch digitalen Vorsprung

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Das Baltikum ist digitales Vorbild und attraktiver Standort – so wie die lettische Hauptstadt Riga

Die frühe Digitalisierung von Gesellschaft, Verwaltung und Wirtschaft ist der große Vorteil der baltischen Staaten in der Pandemie. In Zusammenarbeit mit innovativen baltischen Firmen kann die bayerische Wirtschaft vom Wissens- und Informationstransfer profitieren.

Mechthilde Gruber, Ausgabe 09/2021

Musterschüler der Europäischen Union – mit diesem Prädikat wurden die baltischen Staaten seit ihrem EU-Beitritt 2004 schon öfter ausgezeichnet. Auch jetzt, in der Pandemie, gelten sie wegen ihres Krisenmanagements als Vorbilder. Estland, Lettland und Litauen haben die Herausforderungen im EU-Vergleich relativ gut gemeistert. »Die Wirtschaftsleistung ist in allen drei Staaten geringer geschrumpft als ursprünglich befürchtet«, sagt Dominic Otto, stellvertretender Geschäftsführer der AHK Baltikum. Vor allem Litauen habe sich schnell erholt.

Gut funktionierende digitale Infrastruktur - auch Vorteil im Lockdown

Die relativ hohe Krisenfestigkeit der baltischen Staaten liegt einerseits an der sehr schnellen Reaktion schon auf die erste Coroanawelle. Bereits Anfang März 2020 wurden Geschäfte, Schulen und öffentliche Einrichtun- gen geschlossen, der internationale Reiseverkehr eingestellt. Anfang Mai 2020 konnte die Wirtschaft wieder hochfahren, während Deutschland noch mit steigenden Fallzahlen kämpfte. Andererseits ermöglicht die gut funktionierende digitale Infrastruktur, dass im Lockdown vieles fast reibungslos weiterlaufen konnte.

Schon in den 1990er-Jahren ließ etwa Estland mit dem Investitionsprogramm Tigersprung die Computer- und Netzwerkinfrastruktur massiv ausbauen. Die Grundlagen für die heute so wichtige Arbeit im Homeoffice oder für den Distanzunterricht an Schulen und Universitäten wurden schon damals geschaffen. Das Tempo und die Komplexität der Lösungen haben in der Pandemie aber noch weiter zugenommen.

»Von den baltischen Staaten können wir deshalb viel lernen«, sagt Gabriele Vetter, Referatsleiterin im Bereich Außenwirtschaft bei der IHK für München und Oberbayern. »Mit baltischen Unternehmen zu kooperieren, ist eine gute Möglichkeit, Digitalisierung auch bei uns voranzutreiben und für einen Transfer von Wissen und Informationen zu sorgen.«

Basis: die digitale Bürgerkarte

Die Digitalisierung durchzieht alle Bereiche des täglichen Lebens. Während sich in Deutschland – auch wegen vieler unkoordinierter Insellösungen – die Digitalisierung im Bereich der öffentlichen Verwaltung nur langsam entwickelt, sind im Baltikum schon seit Jahren fast alle Behördengänge problemlos online zu erledigen. Allein in Estland sind 3.000 öffentliche Dienste digital, sogar notarielle Beglaubigungen werden online abgewickelt. Basis dafür ist die digitale Bürgerkarte, die zugleich Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte, Steuernummer und Gesundheitskarte ist.

So sind etwa in Litauen alle Gesundheitsdaten der Einwohner digital gespeichert, was auch die Organisation von Covid-19-Impfungen und -Testungen sehr vereinfacht hat. »Durch den geringen bürokratischen Aufwand hat die Impfkampagne in Litauen schnell und gut funktioniert«, so AHK-Experte Otto.

Robotikprojekte schon im Kindergarten

»Digitalisierung und Handynutzung sind heute in den Ländern des Baltikums ein ganz selbstverständlicher Teil des Lebens«, sagt Ina Knausenberger, Europa-Referentin bei der IHK in München. Das beginnt schon im Kindergarten, wenn neben Basteln mit Knete auch Robotikprojekte auf dem Spielplan stehen. In Schulen sind Internetzugang sowie Breitbandversorgung selbstverständlich. Schon vor Corona gab es Unterrichtsplattformen für Schüler und Eltern, über die sie Stundenpläne, Hausaufgaben, Bewertungen und andere Informationen herunterladen konnten.

Digitale Technik sorgt für stets neue Services. So hilft in Estland beispielsweise die Plattform caroom, Autoschäden virtuell zu beurteilen, sodass sie umgehend der Versicherung gemeldet werden können. Auch Werkstatttermine lassen sich damit schneller vereinbaren.

Weltweit erfolgreiche Anwendungen

Weltweit erfolgreich sind die virtuellen Assistenten des KI-Spezialisten Tilde aus Riga. Die mehrsprachigen, selbstlernenden Chatbots entlasten Mitarbeiter im Kundensupport. Auch außerhalb des Baltikums viel genutzt wird die App QTicket, mit der man Termine buchen und Tickets kaufen kann, ohne Schlange stehen zu müssen.

»Während der Pandemie stark an Fahrt aufgenommen hat der Essenslieferservice«, sagt AHK-Experte Otto. Supermärkte bringen Lebensmittel entweder ins Haus oder sie können an günstig gelegenen Pick-up-Plätzen abgeholt werden. Eine brandneue Erfindung ist Robo Eatz, der autonome Küchenroboter eines lettischen Start-ups. Er kocht und serviert nicht nur eine breite Palette von Gerichten, sondern reinigt und desinfiziert sich auch selbst.

Baltisch-bayerische Zusammenarbeit

Bereits bei einer Reihe von Projekten arbeiten Unternehmen aus Bayern und dem Baltikum zusammen. Ein Beispiel ist die Kooperation von Trafi, einem Start-up aus Litauen, mit der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) bei der MobilitätsApp MVGO  (Projekt-Einblick unten).

Nicht nur die bayerischen Unternehmen profitieren jedoch von der Zusammenarbeit. In den baltischen Staaten gebe es durchaus Bereiche mit Nachholbedarf, sagt AHK-Experte Otto: »Deutschland und Bayern sind stark in Zukunftstechnologien, an denen die baltischen Staaten sehr interessiert sind.«

Geostrategisch attraktiver Standort für bayerische Firmen

Wenn es um Prozessoptimierung bei Industrie 4.0, die Sicherheit der digitalen Infrastruktur oder um Umweltschutz geht, bestehen für bayerische Unternehmen gute Geschäftschancen. Auch wenn es nur kleine Märkte sind, seien die baltischen Staaten durchaus interessant, betont IHK-Außenhandelsexpertin Gabriele Vetter: »Ihre stabile politische Situation und ihre geografische Lage zwischen Mitteleuropa und Skandinavien sowie ihre Nähe zu Russland und der Ukraine machen sie auch als Standort attraktiv.«

Geglückte Zusammenarbeit: Das bayerisch-litauische Projekt MVGO

Die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) hat ihre Mobilitäts-App MVGO mit dem Technologieanbieter Trafi aus Litauen entwickelt. Mit MVGO können Nutzer alle ihre Fahrten mit U- oder S-Bahn, Bus, Tram, Leihrad oder E-Scooter in München planen, buchen und bezahlen. Die App vereint dafür sowohl die öffentlichen Verkehrsmittel des Personennahverkehrs als auch private Mobilitätsdienste. Das Pilotprojekt ist seit Februar 2021 freigeschaltet.

Schneller Markttest für Münchner dank Kooperation

Entwickelt wurde die Mobility-as-a-Service-Lösung von der MVG gemeinsam mit dem litauischen Technologieanbieter Trafi. »Trafi hat bereits viel Erfahrung in Großstädten wie Oslo, Rio de Janeiro und auch Berlin«, sagt Sinaida Cordes (40), Leiterin Mobilitätsentwicklung bei der MVG. »Durch die Kooperation konnten wir mit einem Pilotprojekt schnell am Markt sein, um zu testen, ob von den Münchnern eine App wie diese angenommen wird.« Die Zusammenarbeit im Entwicklungsteam sei extrem professionell und angenehm gewesen.

Nach einem ersten gemeinsamen Workshop musste der Austausch coronabedingt komplett virtuell stattfinden. »Durch diverse Kollaborationstools konnten wir trotzdem sehr eng kommunizieren. Auch dabei haben wir von der Erfahrung der Litauer profitiert«, sagt Cordes. Die Zusammenarbeit endet planmäßig im Februar 2022. Den Kontakt mit Litauen will die MVG aber halten: »Wir konnten dabei viel lernen und Erfahrungen sammeln«, sagt die Mobilitätsexpertin. »Auch jenseits des Fachlichen war es eine gute Partnerschaft, die wir in Zukunft bei kleineren Themen fortsetzen wollen.«

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