Fachkräfte | Standortpolitik

Mit Handicap und Potenzial

Anna Schaffelhuber ©
Grenzen austesten – Teilnehmer und Betreuer beim Anna Schaffelhuber Grenzenlos Camp

Auf der Suche nach Azubis kann es sich für Unternehmen lohnen, neue  Zielgruppen anzusprechen – zum Beispiel junge Menschen mit Behinderung.  Viele Firmen machen gute Erfahrungen.

Sabine Hölper, Ausgabe 04/20

Der Spezialist für Rollstühle RolliWorld GmbH beschäftigt 18 Mitarbeiter, neun davon sind schwerbehindert. Seit September 2018 bildet das Unternehmen mit Sitz in Kirchheim bei München den ersten schwerbehinderten Azubi aus. »Es war die logische Schlussfolgerung«, sagt Sylvia Niemann (52), die im Unternehmen für Personalwesen zuständig ist. Ein junger gehbehinderter Mann absolviert eine Ausbildung zum Kaufmann für Büromanagement. Niemanns Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahre: Die Ausfallquote sei wegen Arztbesuchen etwas höher als bei den nicht behinderten Azubis. Ansonsten gestalte sich die Ausbildung »nicht schwieriger«. Der 20-Jährige bringe gute Leistungen.

Darlehen, Zuschüsse, Prämien

Dass ein Unternehmen, das Produkte für Behinderte anbietet, einen Auszubildenden mit Handicap beschäftigt, ist nachvollziehbar. Aber auch für Firmen anderer Branchen kann es sinnvoll sein, sich neuen Bewerberkreisen zu öffnen. Dazu zählen auch junge Menschen mit Behinderung. »Unternehmen sollten Azubis mit Behinderung auf keinen Fall unterschätzen«, sagt Gabriele Lüke, Referentin für Chancengerechtigkeit bei der IHK für München und Oberbayern. Sind Einschränkungen vorhanden, können Hilfen der Arbeitsagentur oder des ZBFS-Inklusionsamts (Zentrum Bayern Familie und Soziales) diese kompensieren.

Unternehmen, die schwerbehinderte Menschen ausbilden, können sich beraten lassen sowie finanzielle Leistungen in Form von Darlehen, Zuschüssen und Prämien erhalten.

Zur Verfügung stehen etwa Investitionskostenzuschüsse für die Schaffung von neuen, geeigneten Ausbildungsplätzen. Zudem sind Prämien von bis zu 10000 Euro im Rahmen des Bund-Länder-Programms Initiative Inklusion sowie Zuschüsse zu den Ausbildungskosten, etwa zu Lernmaterialien oder Personalkosten (für Ausbilder), von bis zu 2000 Euro pro Ausbildungsjahr möglich.

»Es gibt viel Unterstützung«, sagt Florian Novak (43) vom ZBFS und appelliert an die Firmen: »Sie sollten die Angst vor dem Unbekannten überwinden. « Hat ein Unternehmen erst einmal Erfahrungen mit einem behinderten Azubi gesammelt, so sein Eindruck, fallen die Vorbehalte in sich zusammen. »Es gibt meist keine Probleme.«

Manchmal allerdings sind zunächst einige Hürden zu beseitigen. Gisela van der Heijden, Kreisgeschäftsführerin des Bayerischen Roten Kreuzes in Erding, bildet seit vergangenem September eine junge, mehrfach schwer körperbehinderte Frau zur Fachpraktikerin für Bürokommunikation aus. Dazu muss das Büro am Firmensitz barrierefrei werden: Es wird ein Treppenlift installiert, außerdem gilt es, eine neue Toilette einzubauen. Dass die Auszubildende zur Toilette im gegenüberliegenden Gebäude begleitet wird, soll nur eine vorübergehende Notlösung sein. Einfach sei die Organisation der Umbaumaßnahmen nicht, räumt van der Heijden ein, trotz der vorgesehenen Hilfen.

Der Geschäftsführerin ist es jedoch wichtig, dass die junge Auszubildende so schnell wie möglich integriert wird, dass sie »endlich arbeiten kann«, so van der Heijden. Dabei gehe es in erster Linie nicht um Produktivität. Die Geschäftsführerin wünscht sich, dass die junge Frau Selbstvertrauen gewinnt. Vielen behinderten Menschen mangle es daran. »Wir Unternehmer können es ihnen durch eine sinnstiftende Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt geben«, sagt van der Heijden.

Barrierefreier Neubau

Mehr behinderte Menschen, ob Fachkraft oder Azubi, will auch das Gesundheitsunternehmen MSD Sharp & Dohme GmbH einstellen. »MSD möchte sich zum bevorzugten Arbeitgeber, auch für Menschen mit Behinderung, entwickeln«, sagt Wolfgang Stenger (59), Director Employee Experience bei MSD.

Bislang hat das Pharmaunternehmen kaum Bewerbungen aus dieser Zielgruppe erhalten. Das liegt auch daran, dass der aktuelle Standort in Haar für Körperbehinderte nicht leicht zugänglich ist. Im nächsten Jahr aber verlegt MSD seinen Firmensitz nach Berg am Laim und dieser wird barrierefrei gestaltet, »weit über die gesetzlichen Anforderungen hinaus«, sagt Stenger.

Um möglichst viele Menschen mit Handicap anzusprechen und zu lernen, wie Inklusion gut funktionieren kann, kooperiert MSD mit dem Anna Schaffelhuber Grenzenlos Camp. Die querschnittsgelähmte Schaffelhuber ist mehrfache Goldmedaillengewinnerin bei Paralympischen Spielen und Weltmeisterschaften und hat das sportorientierte Camp für 14- bis 17-Jährige ins Leben gerufen, um Behinderte zur Teilhabe am (Arbeits-)Leben zu motivieren.

»Natürlich kann nicht jeder Jugendliche mit einer Behinderung jede Ausbildung machen«, sagt die 27-Jährige. »Aber ich denke, dass viele Unternehmen die Möglichkeit, einen Jugendlichen mit Ein-schränkung auszubilden, zu wenig oder noch gar nicht in Betracht ziehen.« Die junge Skifahrerin möchte die Firmenchefs zum Umdenken bewegen.

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