Freier Handel | Standortpolitik

Nähe als Standort-Plus

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Rumänien – attraktiver Produktionsstandort (im Bild: Bukarest)

Um Lieferketten gegen geopolitische Risiken abzusichern, hilft die Verlagerung ins nahe gelegenen Ausland – zum Beispiel in EU-Länder wie Rumänien und Bulgarien.

Von Mechthilde Gruber, IHK-Magazin 07-08/2023

Die zunehmenden geopolitischen Spannungen und die Störungen der globalen Lieferketten in den vergangenen Jahren belasten den Welthandel. Die bayerische Wirtschaft reorganisiert deshalb ihre internationalen Lieferketten und verlagert Prozesse, Produktion oder Dienstleistungen in näher gelegene Länder. Dieses sogenannte Nearshoring dient auch als Strategie, um sich unabhängiger von einzelnen weit entfernten Märkten zu machen.
Sichere Geschäftsbeziehungen mit verlässlichen Partnern sind gefragt.

„Besonders die Produktionsstandorte in Europa werden wieder mehr geschätzt“, sagt Sandra Dirnberger, Referentin Südosteuropa bei der IHK für München und Oberbayern. Durch den Trend zum Nearshoring ist für viele Unternehmen vor allem die südosteuropäische Region mit ihren geografisch und kulturell nahe gelegenen Ländern in den Fokus gerückt. „Für Rumänien und Bulgarien ist ihre EU-Mitgliedschaft das große Plus“, betont die IHK-Expertin. „Das Interesse an beiden Ländern ist zuletzt deutlich gestiegen.“

Rumänien gewinnt an Attraktivität

Ihren wachsenden Stellenwert als Beschaffungsmärkte zeigen die Handelszahlen. Rumänien ist auf Platz 15 der wichtigsten Wirtschaftspartner Bayerns vorgerückt. Die Einfuhren aus Rumänien sind 2022 zum Vorjahr um 17 Prozent auf 4,2 Milliarden Euro gestiegen, die Importe aus Bulgarien sogar um 24,3 Prozent auf 1,3 Milliarden Euro. Schon seit der Pandemie registriert auch die AHK Rumänien deutlich mehr Anfragen. „Deutsche Unternehmen wollen hier entweder selbst investieren und in Rumänien produzieren oder aber mit rumänischen Partnern zusammenarbeiten“, sagt Ruxandra Dumitrescu, stellvertretende Geschäftsführerin der AHK Rumänien. Häufig werde Produktion aus Asien zurückverlagert.

Rumänien, mit 19 Millionen Einwohnern der größte Markt in Südosteuropa, punktet mit vielen Standortvorteilen. „Die Nähe zum eigenen Markt ist für die meisten deutschen Unternehmen aber entscheidend, denn sie wollen lange Transportwege künftig vermeiden“, sagt Dumitrescu.

Als Nato- und EU-Mitglied bietet Rumänien auch sichere Rahmenbedingungen. Der bereits in Aussicht gestellte Beitritt zum Schengen-Raum wird Wartezeiten an den Grenzen verkürzen. Das Land zwischen Schwarzem Meer und den Karpaten hat die Möglichkeit, zu einer Drehscheibe zwischen Europa und der übrigen Welt zu werden.

Viele Standorte, weniger Kostendruck

Rumänien verfügt außerdem über eine lange Tradition als Industriestandort, auch in anspruchsvollen Branchen wie Automotive oder Luft- und Raumfahrt. Potenzial für Nearshoring gibt es besonders in der Metall-Be- und -verarbeitung, im Maschinenbau, in der Elektrotechnik/Elektronik sowie bei IT- und Logistikdienstleistungen. „Wir merken, dass die Anfragen immer anspruchsvoller werden“, sagt die AHK-Expertin. „Unternehmen suchen auch Investitionsmöglichkeiten im Forschungs- und Entwicklungsbereich.“

Dafür finden sie in Rumänien gut ausgebildete, mehrsprachige Arbeitskräfte. Neben der Hauptstadt Bukarest gibt es im ganzen Land mehr als 20 mittlere und größere Industriezentren, dazu viele Universitäten. Begünstigt durch den Ausbau von Infrastruktur und Autobahnen, produzieren bayerische Unternehmen deshalb heute nicht mehr nur im Westen, sondern auch im Süden und Osten des Landes, erklärt Dumitrescu: „Es stehen ihnen viele Standorte zur Auswahl. Das reduziert den Kostendruck.“

Kostenfrei: „marketplace romania“

Da in den westlichen Landesteilen der Wettbewerb um Arbeitskräfte auch in Rumänien bereits recht groß ist, sollten sich Unternehmen gut beraten lassen, um den für sie passenden Standort zu identifizieren – am besten mit Unterstützung der AHK.

Bei der Suche nach Partnerunternehmen ist es wichtig, sich über die besonderen Gegebenheiten in Rumänien zu informieren. Um deutschen Firmen die Lieferantensuche zu erleichtern, hat die AHK die kostenlose Onlineplattform „marketplace romania“ entwickelt, auf der sich rumänische Anbieter mit ihren Produkten und Dienstleistungen präsentieren. „Deutsche Unternehmen können hier selbst recherchieren und sich dann für weitere Unterstützung an uns wenden“, erklärt Dumitrescu.

Bulgarien: nah, günstig, fähige Fachkräfte

Im Vergleich zu Rumänien ist Bulgarien mit knapp sieben Millionen Einwohnern ein kleiner Markt. Wie das Nachbarland hat es aber auch nach dem EU-Beitritt 2007 einen wirtschaftlichen Aufschwung genommen. Als Nearshoring-Destination bietet das Land viele Chancen, sagt Mitko Vassilev, Hauptgeschäftsführer der AHK Bulgarien und zugleich bayerischer Repräsentant: „Mit seinen niedrigen Steuern und Lohnkosten, seinen qualifizierten Fachkräften und der günstigen geografischen Lage kann Bulgarien vom Prozess der Verkürzung der Lieferketten profitieren.“

„Überdurchschnittlich gute Einbindung“

Deutsche und bayerische Unternehmen gehören zu den führenden Investoren im Land. „Die im EU-Vergleich überdurchschnittlich gute Einbindung der Wirtschaft in die internationale Wertschöpfung macht Bulgarien als Standort für sie attraktiv“, sagt der AHK-Experte. Der größte Teil des Geldes fließt in den Aufbau neuer Produktionsstandorte, meist in exportorientierten Branchen wie etwa der IT-, Elektro- sowie Automobilindustrie. Ein Netz aus Industriezonen rund um die Großstädte Sofia, Plovdiv, Varna, Burgas oder Russe bietet dafür eine gute Infrastruktur.

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Produktion in Rumänien – Praxisbericht der Lipsticks GmbH, Dachau

„Ein erfahrenes Management und ein breites Netzwerk, das sind wichtige Grundlagen für unseren Erfolg in Rumänien“, sagt Siegfried Pertramer, der zusammen mit Sohn Moritz die Lipsticks GmbH in Dachau führt. Das Familienunternehmen entwickelt und produziert wiederverwendbare Montagesysteme und Verpackungen für die Automobilindustrie, die die Kunden hauptsächlich für Kabelbäume und Bordnetzsysteme einsetzen.

Kurze Transportzeiten

Schon 2006 entschloss sich Lipsticks, eine Produktion im rumänischen Brasov zu eröffnen. „Ausschlaggebend für den Standort Rumänien waren vor allem die kurzen Lieferzeiten nach Deutschland und der bevorstehende EU-Beitritt“, betont der Firmenchef. „Unsere Kunden bestellen oft sehr kurzfristig, dann eilt es. Aus Rumänien beträgt die Transportzeit wenige Tage, aus unseren anderen Standorten in China und Mexiko hingegen mehrere Wochen.“

Dass der Aufbau der Produktion relativ reibungslos gelang, verdankt Lipsticks auch einer rumänischen Geschäftspartnerin, die sich um die behördlichen Abläufe kümmert, sagt Pertramer. „Dadurch hatten wir bei den offiziellen Stellen ein ganz anderes Standing.“ Trotzdem sei der Verwaltungsaufwand groß gewesen. „Man braucht Geduld. Jede einzelne Baumaßnahme muss beispielsweise staatlich überwacht und freigegeben werden.“

Native Speaker in Schlüsselfunktion

Dass die Geschäfte in Rumänien gut laufen, liege vor allem in der Verantwortung des dortigen Managements. Der Geschäftsführer, ein Rumäne, hatte bereits in Dachau bei Lipsticks gearbeitet, er kennt die Unternehmenstradition, spricht beide Sprachen und ist mit den Gepflogenheiten in seinem Heimatland vertraut. Auf enge Kommunikation wird im Familienunternehmen viel Wert gelegt. „Dank Digitalisierung funktioniert das heute sehr gut. Wir sind aber auch immer wieder selbst vor Ort“, betont der Seniorchef.

Der Fachkräftemangel könnte in Zukunft zum Problem werden, befürchtet Pertramer, da viele gut ausgebildete Junge in den Westen abwandern. Der Lipsticks-Standort Brasov, in der Mitte des Landes, habe damit aber weit weniger zu kämpfen als Städte an der Grenze im Westen.  

Networking als A&O

Gut vernetzt zu sein, ist in Rumänien fast noch wichtiger als anderswo, glaubt Siegfried Pertramer. Unterstützung erhält das Unternehmen auch von der AHK in Bukarest. Vor allem bei der Suche und Auswahl zuverlässiger Partnerfirmen hat sich die Zusammenarbeit bewährt. „Die AHK sichtet für uns das Angebot und filtert. Selbst können wir das in einem fremden Land kaum leisten.“

Mit dem Erfolg in Rumänien ist der Firmengründer zufrieden und will deshalb weiter in den Standort investieren. Eine dritte Produktionshalle ist bereits in Planung.

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