Problemlöser WYE: Die Natur als Vorbild
Das Start-up WYE hat einen Werkstoff für Möbel entwickelt, der sich komplett recyceln lässt. Die beiden Gründer arbeiten an einem geschlossenen Kreislaufsystem – ohne Müll.
Von Sebastian Schulke, IHK-Magazin 10/2023
Am Rand von Weilheim. Zwischen Lagerhallen, alten Fabrikgebäuden und kleinen Schuppen steht ein Bürohaus. Auf Klingeln folgt zunächst keine Reaktion, die Tür bleibt verschlossen. Dafür kommt plötzlich ein Mann über den Parkplatz gelaufen. Er heißt Ferdinand Krämer und hat zusammen mit Franziskus Wozniak 2019 die WYE GmbH gegründet.
Mit ihrem selbst entwickelten Werkstoff Neolign sorgen die beiden für einigen Wirbel in der Möbelbranche. „Zu unserem Lager geht es hier lang“, sagt Krämer und läuft voraus. Über eine große Zufahrtsrampe führt der Weg ins Untergeschoss des Bürogebäudes. Schwer beladene Paletten stehen hier und warten darauf, in einem Lastwagen verstaut zu werden. Durch eine Eisentür gelangt man schließlich in eine große Halle. In langen, breiten Regalen stapeln sich hier Sitzkissen aus Kokosfasern und Holzplatten für Tische, Bänke und Hocker – allesamt aus Neolign gefertigt. Dazu Küchenbretter, Seifenschalen und Kleiderhaken, ebenfalls aus diesem Material. Nur die Beine der Möbelstücke sind aus Stahlblech.
Sämtliche Bauteile recyclebar
„Bei uns dreht sich alles um Kreisläufe. Die Natur ist unser großes Vorbild. Sämtliche Bauteile und Materialien sind wiederverwertbar“, sagt Krämer. „Es entsteht also kein Müll während der Produktion.“ Und auch nicht später. Denn Käufer können alte WYE-Möbelstücke an das Start-up zurücksenden. Der alte Tisch oder die ausgemusterte Bank landen dann in einem Schredder und werden zu Granulat verarbeitet, aus dem wieder Holzplatten für neue Möbel entstehen – ein ganzheitliches und nachhaltiges Konzept. Die Kunden erhalten eine Gutschrift von 40 Prozent beim Kauf eines neuen WYE-Produkts.
Im Gegensatz zu einer klassischen Spanplatte kommt Neolign ganz ohne Leim und Klebstoffe aus. Die Platten bestehen zu 83 Prozent aus Holzspänen, die aus Nebenprodukten der industriellen Holzverarbeitung stammen. Dafür muss also kein Baum gefällt werden. Die restlichen 17 Prozent bestehen zu einem Teil aus organischen Farbpigmenten. So wird das Holzbrett nicht nur oberflächlich, sondern vollständig gefärbt. Das erspart den Einsatz von Lackfarben und ermöglicht bei Reparaturen ein Abschleifen ohne Farbverlust.
Kunststoff als umweltfreundlicher Klebstoff
Zu den Holzspänen und den Pigmenten werden schließlich noch Polymere, also Kunststoffe, gemischt. „Das hört sich zunächst nicht gerade umweltbewusst an“, meint Krämer. „Doch der Kunststoff ist unser umweltfreundlicher Klebstoff, der nicht aushärtet, sondern sich unter Temperaturen um 100 Grad immer wieder verformen lässt und somit kein Abfallprodukt ist, sondern im Kreislauf bleibt. Er verleiht unseren Holzplatten die nötige Festigkeit und Stabilität, ist immer wieder verwertbar.“ Das mache Neolign zu einem Werkstoff, der sich zu 100 Prozent recyceln und granulieren lässt.
In Weilheim befindet sich das WYE-Lager, die Produktion der Neolign-Platten übernimmt ein Fertigungsunternehmen an einem anderen Standort. „Da haben wir in Deutschland einen Betrieb gefunden, der sich bestens mit Kunststoffen auskennt“, sagt Krämer. „Bei der Entwicklung von Neolign haben die uns sehr geholfen.“
Das „große Ganze“ im Blick
Seinen Anfang nahm das Projekt bereits vor knapp 10 Jahren: Damals studierten Krämer (Produktdesign) und Wozniak (Wirtschaftsingenieurwesen) in München, lebten gemeinsam in einer großen Wohngemeinschaft und dachten bereits darüber nach, wie man Holzspäne nachhaltig nutzen könnte. „Das spukte uns einfach so im Kopf herum“, sagt Krämer. „Wir hatten immer schon viel Respekt und Demut gegenüber der Natur und jedem Lebewesen. Wir sehen das große Ganze. Und Holzspäne sind ein sehr interessantes Material, gerade auch für mich als Designer. Da geht es nicht nur um Formen und Oberfläche. Die Funktion und das Innere sind bei einem Produkt noch viel wichtiger.“
2018 wurde es dann konkret. Krämer und Wozniak gewannen mit ihrer Idee von vollständig wiederverwertbaren Holzbrettern den „Strascheg Award“ der Hochschule München. Mit dem Preisgeld konnten sie weiter experimentieren und mithilfe eines Schreiners, den sie kannten, erste Prototypen erstellen. „Die Laborpresse der TU München brachte uns dann noch einen Schritt weiter“, sagt Krämer. „Unsere Idee nahm immer mehr Gestalt an. Schließlich gründeten wir 2019 unser Start-up WYE.“
Die Abkürzung WYE steht für „Well-being for You and the Earth“, auf Deutsch etwa Wohlbefinden für Mensch und Planet. In der Aussprache leite sich WYE direkt vom Englischen „why“ ab, erklärt Krämer. „Die Frage nach dem Warum steht für uns für das Hinterfragen, das Aufbrechen von Konventionen, das Neudenken von Prozessen, Produkten und Althergebrachtem. Im Klartext: die Kernfrage vor dem Start für alles Neue.“
Als Award-Gewinner die Branche aufgemischt
Die Branche konnte mit dem ganzheitlichen WYE-Konzept zunächst nicht viel anfangen. „Die Strukturen und Lieferketten sind in der Möbelindustrie sehr festgefahren. Da ist es schwer, neue Ideen zu starten“, meint Krämer. Auch Corona habe vieles erschwert, Investoren zurückhaltender werden lassen. Doch 2021 gewann das Start-up den German Design Award sowie den Deutschen Nachhaltigkeitspreis.
Auch in den sozialen Medien wurde das Projekt immer bekannter. Mittlerweile hat das Start-up 31.000 Follower. Mehr als 50 Händler in Deutschland, Holland und Belgien verkaufen die Möbelstücke aus Neolign. Das umweltfreundliche und nachhaltige Kreislaufsystem kommt offenbar an.
„Die Awards und die sozialen Medien haben uns sichtbar gemacht“, sagt Krämer. „Sie halten unser Onlinegeschäft, das 80 Prozent unserer Verkäufe ausmacht, in Schwung. Wir brauchen kein eigenes, klassisches Möbelgeschäft.“ Die Qualität der WYE-Bausets spreche für sich. Und die digitale Vernetzung mit den Kunden laufe sehr gut und erleichtere auch eine spätere Rücknahme.
Geschäftsführung virtuell
Zurück nach Weilheim in die Lagerhalle. Ein elektrischer Hubwagen steht vorn neben der Eisentür. Große Fenster sorgen in dem Tiefparterre für Sonnenlicht und angenehme Arbeitsbedingungen. Am einzigen Schreibtisch sitzt Lagerchefin Anna Stephan, die sämtliche Bestellungen und Bestände von WYE im Blick hat. „Ein Büro haben und brauchen wir nicht“, erklärt Krämer. „Ab und zu treffen wir uns alle. Doch das meiste läuft über Homeoffice. Nur unsere Mitarbeiter fürs Lager sind hier konstant vor Ort.“
Momentan besteht das WYE-Team aus 13 Personen, die sich um Marketing, Social Media, Produktentwicklung, Händler und vor allem die Kunden kümmern. Krämer, der von Utting am Ammersee aus arbeitet, ist vor allem fürs Design zuständig. Wozniak, der in München sitzt, fungiert als Geschäftsführer, hat Logistik und Vertrieb im Blick.
Rosa Teilchen für geschlossenes Kreislaufsystem
Zukünftig sollen die Tische, Bänke, Hocker und vielleicht auch Stühle voll und ganz aus Neolign gefertigt werden – ohne Metallbeine. Das wäre ein nächster Schritt. Krämer zieht eine Plastiktüte hervor. Kleine rosafarbene Teilchen sind darin, die an Würmer erinnern – so sieht das Neolign-Granulat aus. „Das kommt dabei heraus, wenn wir die Holzspäne mit dem Polymer und den Pigmenten in großen Maschinen bei unserem Hersteller vermischen, erhitzen und schreddern“, sagt Krämer. Oder wenn alte WYE-Holzplatten geschreddert werden. Der Werkstoff werde so zu einer Art Rohstoff und bilde ein geschlossenes Kreislaufsystem, das keinen Müll verursache und die Umwelt schone.
Darin sieht Krämer auch die Zukunft: „Alle industriellen Wirtschaftsbereiche müssen langsam, aber sicher umdenken – und in Kreisläufen arbeiten. Nur so können wir dem Klimawandel begegnen und gesunde Produkte für Mensch und Natur herstellen. Alles andere führt in eine Sackgasse.“
Die Problemlöser: Clevere Ideen für große Herausforderungen
Knappe Rohstoffe, Klimaschutz, Energiekrise – das sind nur einige der gewaltigen Probleme, vor denen wir aktuell stehen. In Oberbayern gibt es zahlreiche Unternehmen, die diese Herausforderung annehmen: Sie entwickeln kluge Lösungen für die drängenden Aufgaben unserer Zeit.
Das IHK-Magazin stellt diese Problemlöser in einer Serie vor.