Fachkräfte | Betrieb + Praxis

Gegen die große Erschöpfung

nicoletaionescu/Adobe Stock ©
Ausgelaugt – permanente Überlastung ist schlecht für die Leistungsfähigkeit

Fühlen sich Mitarbeitende ausgebrannt, kostet das auch die Betriebe Produktivität. Tipps, um Beschäftigte mental gesund und leistungsfähig zu halten.

Von Eva Müller-Tauber, IHK-Magazin 05-06/2023

Das Bekenntnis des Vertriebsprofis und Mittfünfzigers in gemütlicher Runde kam völlig überraschend: „Ich hatte einen beruflich bedingten Burnout und muss jetzt langsamer machen.“ Beklemmende Stille am Tisch. Ausgebrannt zu sein, das ist ein Gefühl, das offensichtlich hierzulande immer mehr Arbeitnehmer kennen. Einer Studie des Freiburger Beratungsunternehmens Auctority GmbH unter 5.000 Bundesbürgern vom Juli 2022 zufolge fühlt sich die Hälfte der Deutschen derzeit erschöpft.

Besonders betroffen sind Berufstätige zwischen 30 und 40 Jahren (73 Prozent). Ein Großteil von ihnen führt die Erschöpfung vor allem auf die Situation am Arbeitsplatz zurück. Diese Generation stecke in der Zwickmühle zwischen beruflichen, privaten und gesellschaftlichen Herausforderungen, erläutert die Wirtschaftspsychologin Christina Guthier. Sie hat die Studie fachlich begleitet. „Mit 15 Prozent befindet sich ein erheblicher Anteil dieser Gruppe bereits am Erschöpfungslimit“, warnt die Expertin. Eine Zahl, die Firmen aufrütteln sollte, gehört diese Altersgruppe doch zu den Leistungsträgern.

Interview am Textende mit Facharzt Dr. Werner Kissling, Leiter des Centrums für Disease Management, TUM
Hohe Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen

„Leider gehören die seelische Gesundheit sowie psychische Erkrankungen, obgleich sie zuletzt immer mehr zunehmen und in Unternehmen hohe Fehlzeiten verursachen, in einigen Betrieben immer noch zu den Tabuthemen“, sagt Elfriede Kerschl, IHK-Referatsleiterin Fachkräftesicherung, Arbeitsmigration, Business Women.

Doch es gibt Vorreiter, die das Problem erkannt haben und energisch gegensteuern – so wie die Motius GmbH in München. Das Unternehmen entwickelt technologiebasierte Produkte und Prototypen für renommierte internationale Kunden. „In unserer Branche herrscht ein starker Zeit- und Leistungsdruck. Um hier dauerhaft zu bestehen, brauchen wir nicht nur hoch qualifizierte, sondern auch belastbare, also gesunde Mitarbeiter, die zudem gern bei uns arbeiten“, betont Sören Gunia (31), Mitgründer von Motius und dort zuständig für Human Resources.

Webinare zu Selbstfürsorge und Stressmanagement

Daher hat die Firma, die rund 100 feste Mitarbeiter beschäftigt und mit 50 freien Entwicklern in flexiblen Projektteams zusammenarbeitet, neben der physischen auch die psychische Gesundheit ihrer Beschäftigten im Blick. „Wir bieten beispielsweise ein Tool, über das die Mitarbeiter Webinare zu Themen wie Selbstfürsorge und Stressmanagement buchen können“, erläutert Gunia. Die Veranstaltungen behandelten Fragen wie: Wie kann ich mich abgrenzen? Wie kann ich meinen Stresslevel senken?

Mitarbeiter können außerdem individuelle Sitzungen mit Coaches und Psychologen in Anspruch nehmen. „Die Nutzungsrate dieser Angebote liegt derzeit bei etwa 30 Prozent, Tendenz steigend“, sagt Gunia. Er selbst absolviert gelegentlich Achtsamkeits-Audioübungen und meditiert – auch Vorgesetze müssen übermäßigem Stress vorbeugen – und versteht sich als Ansprechpartner für betroffene Mitarbeitende.

Pflichtbewusste oft permanent am Limit

Betriebe sollten ihren Blick dafür schärfen, inwieweit ihre Mitarbeitenden überlastet sind, und im Zweifelsfall mit ihnen das Gespräch suchen, wie sich das ändern lässt, empfiehlt Aurelia Hack, Geschäftsführerin der Hack Corporate Health Consulting & Communication in München. „Denn oft sind es gerade die Pflichtbewussten, die über lange Zeit einfach nur funktionieren, obwohl sie permanent am Limit arbeiten.“ Diese fielen dann von einem Tag auf den anderen aus, „da gibt es keinen schleichenden Leistungsabfall, keine typischen Warnzeichen“, so die Expertin. Auch sei Vorsorge unabdingbar, um psychischen Erkrankungen vorzubeugen, „aber eben nicht nur Verhaltens-, sondern auch Verhältnisprävention, also der Blick darauf, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass eine Überbelastung weitmöglichst vermieden wird“.

Planungstool macht Arbeitsbelastung sichtbar

Das sieht Unternehmer Gunia ähnlich: „Wir müssen die Ursachen von negativem Stress, soweit möglich, reduzieren“, betont er. „Daher machen wir in einem Planungstool die Arbeitsbelastung für alle sichtbar.“ So lässt sich im Detail planen und rechtzeitig gegensteuern, um eine dauerhafte Überbelastung zu vermeiden. Zudem wird Mitarbeitern, die gerade erst ein umfangreiches Projekt gewuppt haben und eine Pause brauchen, wenn möglich nicht gleich ein neues Großprojekt übertragen.

Im wöchentlichen firmenweiten Meeting ist eine Wertschätzungsrunde etabliert, flexible Zeitarbeits- und Teilzeitmodelle nutzen die – zu 75 Prozent männlichen – Mitarbeiter bereits. Auch mehrmonatige Sabbaticals ermöglicht das Unternehmen.

Wer sich nicht kümmert, verliert Mitarbeiter

Die Coronazeit habe das Thema psychische Gesundheit noch einmal stärker in den Fokus gerückt, sagt Gunia. Ein Mitarbeiter habe unter Depressionen gelitten, vor allem die gesellschaftlich nicht so integrierten internationalen Mitarbeiter hätten sich häufig allein gefühlt. Den Bedarf in der Belegschaft fragt die Führungsriege des Unternehmens unter anderem über ein Mitarbeiter-Engagement-Tool ab, in dem auch Fragen zur Work-Life-Balance gestellt werden. „Wir bewegen uns in einem Markt, in dem wir unter anderem mit Großunternehmen um Fachkräfte buhlen. Wenn wir uns nicht umfassend um unsere Mitarbeiter inklusive ihrer psychischen Gesundheit kümmern, sie aktiv mitnehmen, wertschätzen, wechseln sie zur Konkurrenz.“

Führungskräfte als Vorbilder

Vor dieser Gefahr warnt auch Expertin Hack: „Wir haben einen Arbeitnehmermarkt. Wer nicht oder nur fachlich führt und nicht menschlich, wird viele Mitarbeiter auf Dauer nicht halten können.“ Sie sieht die Führungskräfte in einer Schlüsselrolle. „Sie müssen offen und regelmäßig kommunizieren, individuelle Erwartungen klären, wie etwa eine gelungene Projektarbeit gestaltet werden kann, Strukturen hinterfragen und anpassen.“

Und sie sollten ein Klima schaffen, in dem Mitarbeiter sagen können, dass sie sich überlastet fühlen. Oft hilft es bereits, wenn Vorgesetzte selbst berichten, wenn ihr Stresslevel mal höher ist, weil sie schlecht geschlafen haben. Führungskräfte seien Vorbilder, „die Grenzen setzen, indem sie etwa sagen: Ich will nicht, dass ihr am Wochenende eure Mails checkt, und ich tue das auch nicht“, sagt Hack.

Empathisch führen, nicht nur fachlich

Führungskräfte spielten eine entscheidende Rolle, bestätigt auch Doris Beisenherz, Senior Vice President Talent & Management Development bei der ProSiebenSat.1 Media SE in Unterföhring: „Sie brauchen jedoch entsprechendes Wissen, Mut und Empathie. Wir sprechen in diesem Zusammenhang gern von empathischer Führung.“ Es sei wichtig, Führungskräfte für das Thema zu sensibilisieren und zu befähigen.

So hatte das Unternehmen bei seinem letzten Mental Health Day auch eine Veranstaltung für Führungskräfte angeboten. Thema: wie man erkennt, ob Mitarbeitende Unterstützung bei Themen der mentalen Gesundheit brauchen und wie diese Unterstützung aussehen kann.

Seelische Verfassung auf Gesprächsagenda setzen

In einer hybriden Arbeitswelt sei es für Vorgesetzte häufig nicht mehr so leicht zu erfassen, wie es einer Person tatsächlich geht und wie viel sie gerade auf dem Tisch hat, beobachtet Beisenherz. „Das ist in einer Präsenzkultur deutlich einfacher.“ Der Austausch zu solchen Themen müsse deshalb bewusster organisiert werden und Teil der regelmäßigen Gesprächsagenda zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden sein. „Dann bekommt man auch mit, wie hoch das Arbeitspensum bei einzelnen Kolleginnen und Kollegen ist, und kann bei Bedarf gemeinsam repriorisieren.“

Beisenherz’ Fazit: Niemand stelle heute noch bestimmte Arbeitsschutzmaßnahmen im Rahmen der physischen Gesundheitsprävention infrage. „Wir müssen uns als Arbeitgeber heute genauso selbstverständlich um die mentale Gesundheit unserer Mitarbeitenden kümmern, wie wir Sportangebote machen oder gesundes Essen in der Kantine anbieten.“


Experten-Interview: Gesundheitsmanagement zahlt sich aus

Wie Unternehmen individuelle Stressauslöser ihrer Mitarbeiter ermitteln und gezielt gegensteuern, erklärt Werner Kissling, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter des Centrums für Disease Management der TU München.

Herr Kissling, aktuelle Studien zeigen: Die Hälfte der Bundesbürger fühlt sich erschöpft. Einer der Hauptstressoren ist die Arbeit. Was läuft da falsch?
Krieg, Pandemie, Energieknappheit, Fachkräftemangel, Inflation, Lieferkettenprobleme, Klimawandel – wir erleben hierzulande gerade tatsächlich eine Zeit mit mehr gleichzeitig auftretenden massiven Stressoren als jemals zuvor in den vergangenen 70 Jahren. Das wirkt sich natürlich auch auf die Arbeit aus. Da Menschen Stress subjektiv sehr unterschiedlich empfinden, lassen sich die Hauptursachen hierfür aber nur individuell für eine Person beziehungsweise Familie und für jeden einzelnen Arbeitsbereich identifizieren und reduzieren.

Gelingt das in der Praxis?
Am Arbeitsplatz über die gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen, die Unternehmen regelmäßig durchführen müssen. Wenn ein Betrieb diese mit einem wissenschaftlich fundierten Befragungsinstrument bei allen Beschäftigten in allen Arbeitsbereichen absolviert, wird sehr schnell deutlich, wo welche überdurchschnittlich ausgeprägten psychischen Belastungen bestehen.

Maßnahmen eruieren, schnell umsetzen

Und wie geht es dann weiter?
Auf Basis der Ergebnisse kann und muss der Arbeitgeber zusammen mit seinen Mitarbeitern dieses Bereichs erarbeiten, wodurch sich die Belastungen reduzieren lassen. Und diese Maßnahmen müssen sie dann rasch umsetzen und ihre Wirksamkeit überprüfen. Das ist mit Abstand die wirksamste Methode, um Stress und psychische Belastungen zu reduzieren.

Manche Unternehmen ermöglichen ihren Mitarbeitern zudem, ihre persönlichen Stressoren zu analysieren – zum Beispiel in Stressmanagement- oder Resilienz-Workshops – und individuell erforderliche Maßnahmen umzusetzen. Das macht sie dann generell widerstandsfähiger, also resilienter, gegen Stressbelastungen im privaten Bereich wie am Arbeitsplatz.

Warum sind trotz dieser Möglichkeiten bei uns alle so gestresst?
Leider setzen Firmen diese Maßnahmen derzeit noch seltener um als in ruhigeren Zeiten, obwohl sie nie so notwendig waren wie jetzt. Zitat eines bayerischen Automobilzulieferers: „In diesen Zeiten haben wir weder Zeit noch Geld, uns mit solchen Psychothemen zu beschäftigen.“ Wenn man bedenkt, dass die Gesundheit der Mitarbeiter derzeit in einem nie da gewesenen Ausmaß gefährdet ist, die Fehltage einen Höchststand erreichen und Fachkräftemangel herrscht, erscheint diese Begründung allerdings nicht besonders rational.

Fehltage durch Krankheit harte betriebswirtschaftliche Größe

Es wird übersehen, dass Krankheiten und die daraus resultierenden Fehltage und Produktivitätsdefizite enorm wichtige, „harte“ betriebswirtschaftliche Größen sind. Und es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass viele Maßnahmen des Gesundheitsmanagements einen hohen Return-on-Investment haben.

Einige Betriebe unterschätzen also immer noch die betriebswirtschaftliche Relevanz der Gesundheit ihrer Mitarbeiter?
Ja, und es herrscht zum Teil auch noch Unsicherheit, welche Maßnahmen für welche Zielgruppen nötig und wirksam sind. Wir haben deshalb eine bundesweite kostenlose Beratungshotline für Unternehmen installiert, bei der die Nachfragen in den vergangenen zwei Jahren – gerade auch von Firmen aus Oberbayern – drastisch zugenommen haben.

Aktuell sind besonders diejenigen Tipps gefragt, wie sich Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen methodisch richtig durchführen lassen. Ebenso Hinweise zu Workshops für Führungskräfte, in denen diese lernen, mit psychisch belasteten Mitarbeitern richtig umzugehen, und zu E-Learning-Programmen, die diese Themen aufgreifen.
Mehr Informationen auf der Website des Centrums für Disease Management (CfDM)

Verwandte Themen