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Die Vermesser des Raums

NavVis ©
Die NavVis-Gründer und ihre Entwicklung – Georg Schroth mit dem mobilen Scanner, Robert Huitl, Sebastian Hilsenbeck und Felix Reinshagen (v.l.)

NavVis hat eine Technologie entwickelt, die Gebäude auf wenige Millimeter genau abscannt. Die junge Firma zeigt, wie sich ein erklärungsbedürftiges Produkt erfolgreich finanzieren und vermarkten lässt.

SABINE HÖLPER, Ausgabe 03/2022

Neun Kilogramm wiegt das Gerät, das man sich um Bauch und Rücken schnallt. Das ist weniger als ein vollgepackter größerer Rucksack und somit für Frauen wie Männer ohne Probleme eine Zeit lang zu tragen. Und genau das – transportabel und relativ leicht – ist eine Revolution in der Vermessungstechnik.

Die 2013 in München gegründete NavVis GmbH hat sie ausgelöst. Leicht war der Weg dahin allerdings nicht. Eine bahnbrechende Technologie wird nicht über Nacht geboren. Die dazugehörige Hardware schon gar nicht. »Uns war anfangs nicht klar, wie wichtig die Hardware ist und wie viel Zeit und Geld in diese Entwicklung fließen würden«, sagt Felix Reinshagen (43), einer der NavVis-Gründer und -Geschäftsführer.

Ein Google Maps für Gebäude

Jeder kennt Google Maps. Die Kartendienste sind aus dem Alltagsleben nicht mehr wegzudenken. Einfach erklärt, hat NavVis ein Google Maps für Gebäude und Innenräume erschaffen. »Der anfängliche Gedanke war, dass es doch toll wäre, wenn man in großen Gebäuden wissen würde, wo man sich befindet«, sagt Reinshagen.

Über diese Idee sprach er, damals noch Berater bei McKinsey & Company, mit dem Experten Georg Schroth, der an der TU München als Postdoc Grundlagenforschung zu solchen Themen betrieb. Die beiden kannten sich schon lange. Sie intensivierten den Austausch über neue Möglichkeiten, um Innenräume genau zu vermessen, und machten 2013 schließlich Ernst. Sie gründeten ihr Start-up. Finn Boysen (CRO) und Jeno Schadrack (CFO) stießen kurz darauf dazu. Das Team war nun komplett: ein Führungsquartett, das die unterschiedlichsten Disziplinen abdeckt, vom Programmierer über den Mathematiker bis zum Wirtschaftswissenschaftler.

Schon früh sehr international

Heute beschäftigt das Unternehmen gut 200 Mitarbeiter an mehreren Standorten weltweit. Bereits 2015 eröffnete NavVis die erste Dependance in New York, ein Jahr später folgte China, 2021 Los Angeles. »Wir hatten uns zuerst in Deutschland nach potenziellen Kunden umgeschaut«, sagt Reinshagen. Aber schnell wurde klar, dass der Markt global ist, die Abnehmer sich untereinander kennen. »Daher haben wir uns recht früh entschieden, in den wichtigsten Märkten Europas, Asiens und der USA eigene Niederlassungen zu gründen.« Es soll zügig weitergehen mit der Internationalisierung. Noch in diesem Jahr will das Unternehmen nach Großbritannien expandieren, danach steht Japan auf dem Plan.

Die Kunden rund um den Globus sind Ingenieur- und Vermessungsbüros, die wiederum als Dienstleister für verschiedenste Branchen tätig sind und Fabrikhallen, Baustellen, Universitäten, Kliniken und andere gewerbliche Gebäude vermessen. Die zweite Kundengruppe ist die Automobilindustrie inklusive Zulieferer.

Fotorealistische digitale Zwillinge

Was sie alle brauchen und woran es bislang noch mangelt, sind aktuelle Daten der Gebäude und Innenräume. Diese aber sind für Planung, Konstruktion und Betrieb vonnöten. Insbesondere wenn Abläufe optimiert und die Wirtschaftlichkeit verbessert werden soll, ist verlässliches Datenmaterial unabdingbar. Mit der NavVis-Technologie bekommen sie dieses auf wenige Millimeter genauen 3-D-Karten der Innenräume, sogenannten fotorealistischen digitalen Zwillingen.

Sie ermöglichen den Nutzern von jedem Ort aus einen immersiven Zugang zu den Gebäuden: Mithilfe von Augmented Reality (AR) tauchen sie sozusagen in den Raum ein. »Wir haben mehrere Jahre gebraucht, um die Technologie zu entwickeln«, sagt der Informatiker und promovierte Wirtschaftswissenschaftler Reinshagen. »Die Programmierung ist aufwendig, es handelt sich um komplexe Algorithmen.« Anfangs dachte das Team, dass dies der entscheidende Meilenstein sei. Sie glaubten, die Software bringe den Kunden den größten Nutzen.

Auf die Hardware kommt es an

Aber bevor man Daten auswerten und verwenden kann, »muss man erst einmal Fotos von den Gebäuden machen, 3-D-Modelle«, sagt der NavVis-Gründer. Das Team musste folglich eine Hardwarelösung entwickeln, die das erledigt und dabei dem aktuellen Standard überlegen ist. Bislang waren nur Standscanner auf dem Markt, recht umständlich zu bedienen. Es kostete die NavVis-Macher »viel Blut, Schweiß und Tränen«, außerdem eine Menge Geld, eine erste Version einer Hardwarelösung zu kreieren: ein Wägelchen.

2018 brachten sie eine neue, verbesserte Variante heraus, eine Art Trolley. Dieser konnte nun auch auf unebenen Böden fahren, selbst Treppen waren kein Hindernis mehr. 2020 gelang den Bayern der Coup mit der dritten, aktuellen Version, dem Gerät, das sich um den Körper schnallen lässt. Damit kommt man problemlos in jeden Winkel eines Gebäudes, zum Beispiel in Tiefgaragen oder Innenhöfe.

Beides zusammen, Soft- und Hardware, soll den Kunden Vorteile im Vergleich zu herkömmlichen Lösungen bringen, zum Beispiel bei den Kosten. »Wir konnten den Preis pro Quadratmeter um den Faktor zehn reduzieren«, sagt Reinshagen.

Anfangs wenig Geduld bei Risikokapitalgebern

Bis ein Start-up an einen solchen Punkt gelangt, muss es in der Regel viel Geld in die Hand nehmen. Sind die Investoren von der technologischen Innovation überzeugt, geben sie es gern. NavVis erhielt in mehreren Finanzierungsrunden insgesamt 85 Millionen Euro Kapital, hauptsächlich Eigenkapital, aber auch eine Fremdfinanzierung. »Wir haben Investoren gefunden, die Geduld und Interesse hatten«, sagt Reinshagen. Leicht war das anfangs allerdings nicht. Denn Geduld wollten die wenigsten aufbringen. »Unser Produkt war sehr erklärungsbedürftig, Deep-Tech damals noch weit weg«, sagt er. Kein Wunder, dass etliche potenzielle Risikokapitalgeber abwinkten.

Eines der bestfinanzierten Deep-Tech-Start-ups in Europa

Das Blatt hat sich gewendet. Erst im Dezember vergangenen Jahres sammelten die Münchner 25 Millionen Euro neues Eigenkapital ein. NavVis gilt nun als eines der bestfinanzierten Deep-Tech-Start-ups in Europa. Mit den frischen Mitteln will das Unternehmen nicht nur weiter expandieren, sondern vor allem die Forschungs- und Entwicklungsabteilung ausbauen, um die technologische Führungsposition weiter zu stärken. Insbesondere auf die Weiterentwicklung der Software wolle man sich künftig konzentrieren. Das Ziel dabei ist klar: Die NavVis-Technologie soll zum neuen Standard werden.

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