»Gleiche Ziele und Werte«

Vom Seiler zum Taschenproduzenten und Großhändler – das Unternehmen Heinrich Sieber hat sich in 370 Jahren grundlegend verändert. Kontinuität garantiert die Gründerfamilie, die den Betrieb in elfter Generation führt.
EVA ELISABETH ERNST, Ausgabe 04/2022
Die Reise damals war ein strategisch sehr kluger Schritt, findet Oliver Brosche, Geschäftsführer der Sieber & Co. GmbH & Co. KG. Sein Großvater und sein Vater hatten sich vor mehr als 50 Jahren erstmals nach Asien aufgemacht, um Produktions- und Importmöglichkeiten auszuloten. »Sie zählten zu den ersten deutschen Unternehmern unserer Branche, die dort Kontakte knüpften und die günstigen Einkaufskonditionen nutzten«, berichtet Brosche. Mit Erfolg: Sieber hat sich seither zu einem der größten Taschengroßhändler Europas entwickelt. Absatz pro Jahr: rund fünf Millionen Taschen.
Rund Hälfte Umsatz als Großhändler
Auch heute bezieht das Unternehmen nahezu das komplette Sortiment an Taschen, Koffern, Rucksäcken, Einkaufsnetzen, Trolleys, Shoppern und Handtaschen aus China. Zu den Kunden zählen überwiegend Handelsunternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie in den Beneluxländern. Mit dem klassischen Fachhandel erwirtschaftet Sieber etwa ein Viertel des Umsatzes. Auf große Handelsorganisationen, darunter Warenhäuser, SB-Märkte, Drogerieketten und Discounter, entfällt die Hälfte.
Merchandising als weiteres Standbein
Ein weiteres wichtiges Standbein mit 25 Prozent Umsatzanteil bildet das Merchandising. Hier gestaltet Sieber nach den Wünschen und dem Corporate Design von Unternehmen Produkte und lässt sie herstellen. Abnehmer sind bekannte Unternehmen wie etwa der FC Bayern, die BMW AG, der italienische Süßwarenhersteller Ferrero, die Red Bull Deutschland GmbH oder die Milchwerke Berchtesgadener Land eG. Die Kunden verschenken die Merchandisingartikel entweder oder verkaufen sie über ihre eigenen Kanäle.
Comic-Hunde als Lückenfüller
Anders sieht es bei den Lizenzprodukten aus: Dafür erwirbt Sieber Lizenzen von Marken wie Fossil, Chiemsee oder Mustang, um unter diesen Markennamen Taschen, Rucksäcke & Co. zu entwickeln und auf eigenes Risiko zu verkaufen. »Das Design erfolgt in Abstimmung mit den Eigentümern der Marken«, erklärt Oliver Brosche. Ende 2018 endete eine langfristige Zusammenarbeit mit Disney. Die Lücke füllen nun die Comic-Hunde der Kinderserie »Paw Patrol«. »Dieses Sortiment läuft ähnlich gut wie unsere Serien der Modemarke Bench«, sagt Brosche zufrieden. Mit Fabrizio, Best Way und Punta entwickelte das Unternehmen auch eigene Marken.
Reibungsloser elfter Generationswechsel
Oliver Brosche, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, trat 1994 als 28-Jähriger ins Familienunternehmen ein. Sein Cousin Holger Brosche (50), der ebenfalls Betriebswirtschaft studiert hat, kam 1999 in die Firma. Wie die bisherigen zehn Generationswechsel verlief auch dieser Übergang reibungslos.
»In den 370 Jahren seit der Firmengründung haben wir es bis auf eine Ausnahme immer wieder geschafft, dass es in der Familie einen Sohn gab, der das Unternehmen weiterführen wollte«, sagt Oliver Brosche. »Ein einziges Mal wurde vom Vater auf den Schwiegersohn, nämlich an unseren Großvater Walter Brosche, übergeben.«
»Wir haben die gleichen Ziele und Werte«
Die familieninterne Regelung, dass von jedem Familienstamm nur ein Nachkomme Gesellschafter werden darf, hat offenbar viel zur Kontinuität beigetragen. Derzeit halten Oliver und Holger Brosche jeweils die Hälfte der Unternehmensanteile. Ihre Zusammenarbeit bezeichnen beide als ausgesprochen harmonisch. »Wir haben die gleichen Ziele und Werte und wir verstehen und ergänzen uns gut«, betont Holger Brosche. Er verantwortet die Kollektionsstrategie, Oliver Brosche Personal und Finanzen. Die Betreuung von Großkunden haben sie unter sich aufgeteilt, um die Beschaffung kümmern sie sich gemeinsam.
Die beiden führen ein Unternehmen mit langer Tradition. Anno 1652 wurde der einstige Seilerhandwerksbetrieb erstmals urkundlich erwähnt – in der Stadtchronik des damaligen Reichenberg, heute Liberec, in Böhmen. Acht Generationen lang, bis 1945, war das Unternehmen dort tätig.
Neubeginn mit Heimarbeit
1947 wagte die Familie in Bad Reichenhall den Neubeginn, zunächst mit einem Großlager für die Hanfindustrie. Kurz danach startete das Unternehmen mit der Produktion von Einkaufsnetzen. In den 1960er-Jahren stellte es auf die Produktion von Taschen um. Bis in die 1980er-Jahre hinein produzierten Heimarbeiter in der Region die Sieber-Taschen. Design und Zuschnitt der Materialien erfolgten am Firmensitz in Bad Reichenhall. »In Spitzenzeiten haben bis zu 500 Heimarbeiterinnen für uns genäht«, sagt Oliver Brosche.
Je mehr Produkte im Ausland hergestellt wurden, desto bedeutender wurde die Logistik für Sieber. Heute bildet die hohe Lieferfähigkeit inklusive Filialbelieferung einen wichtigen Wettbewerbsvorteil. Große Ladungen erhalten die Sieber-Kunden aber auch direkt per Container aus Asien.
Lieferengpässe lassen Lager schrumpfen
Für spontane Bestellungen lagern am Firmensitz in Bad Reichenhall sowie in einer weiteren großen Halle bei Freilassing normalerweise rund eine Million Teile. »Wegen der pandemiebedingten Lieferengpässe in China sind unsere Lagerbestände mittlerweile allerdings deutlich geschrumpft«, berichtet Oliver Brosche.
Explodierende Kosten
Durch massive Einsparungen inklusive Kurzarbeit gelang es dem Unternehmen, die Coronazeit »mit einem blauen Auge« zu überstehen, wie der Geschäftsführer sagt. Allerdings ging der Umsatz um mehr als ein Drittel zurück. Der Ertrag schrumpfte ebenfalls, doch das Unternehmen arbeitet nach wie vor profitabel.
Sieber reagiert auf die veränderte Situation. Die explodierenden Kosten für Seefracht, die mittlerweile fast zehnmal so hoch sind wie vor Corona, das steigende Lohnniveau in China sowie die anhaltenden Lieferkettenengpässe erhöhen die Attraktivität alternativer Produktionsstandorte.
»Bereits Kontakte in Tschechien und der Türkei geknüpft«
»Wir haben bereits Kontakte in Tschechien und der Türkei geknüpft«, sagt Oliver Brosche. »Dort können wir zudem kleinere Mengen ordern, die per Lkw transportiert werden.« Nach 50 Jahren chinesischer Produktion überlegen die beiden Geschäftsführer daher nun, ob sich das Zurückholen der Herstellung nach Europa nicht als nächster strategisch kluger Schritt in der Firmengeschichte erweisen könnte.