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Viel mehr als Pflanzen
Das junge Unternehmen Urban Gardeners testet in seinem Ladengeschäft am Münchner Marienplatz seit März innovative Konzepte für den stationären Einzelhandel – mit interessanten Ergebnissen.
IHK-Magazin 07-08/2024
Dass ausgerechnet Strelitzien zu den Rennern des Sortiments gehören würden, damit hatte Jakob Kiefl (22) wirklich nicht gerechnet. Denn die Pflanzen, die wegen ihrer extravaganten Blüten auch als Paradiesblumen bezeichnet werden, sind selbst in der kleinsten Version noch ziemlich groß. Und das Geschäft der Urban Gardeners GmbH, die Jakob Kiefl mit seinem Bruder Valentin gegründet hat, befindet sich im Münchner Rathaus, also mitten in der Innenstadt. „Eine Strelitzie auf dem Fahrrad oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu transportieren, ist durchaus eine Herausforderung“, findet Jakob Kiefl.
Doch nicht nur der überraschende Erfolg der Strelitzien sorgt dafür, dass die Unternehmer das Sortiment laufend anpassen. Auch die Verkaufszahlen der anderen Topfpflanzen, Blumensträuße, Gemüsepflänzchen und weiteren Artikel rund ums Gärtnern behält Johann Kiefl genau im Blick: „Die Sortimentsgestaltung ist für mich das größte Experimentierfeld.“
Bis Ende August können die Urban Gardeners die großzügig bemessene Ladenfläche voraussichtlich nutzen. Mit der Akzeptanz des Angebots und den Umsätzen ist der Unternehmer sehr zufrieden: „Wir haben schon nach wenigen Wochen gesehen, dass unser Konzept eines Gartencenters für Innenstadtbewohner funktioniert.“
Interaktive Screens und Chatbots helfen bei Produktauswahl
Der Laden dient dabei auch als Experimentierfeld für neue Technologien im Einzelhandel und wird von der Rid Stiftung im Rahmen ihres Förderprojekts Future Retail Store unterstützt. So können die Kunden dort etwa interaktive Screens und KI-Chatbots zur Pflanzenauswahl nutzen. Sie können dabei zusehen, wie Vasen per 3-D-Druck produziert werden, und in einer Co-Creation-Ecke im ersten Obergeschoss ihre Meinung zu Geschäft, Sortiment und weiteren Serviceleistungen wie etwa einem Lieferservice kundtun.
Frequenzmesser, mit denen die Zahl der Kunden und ihre Wege durch den Laden nachverfolgt werden können, gibt es auch. „Im Vergleich zu Großunternehmen hat der mittelständische Einzelhandel selten Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, um Innovationen zu testen“, sagt Maximilian Perez (37), der bei der Rid Stiftung für die Innovationsförderung zuständig ist. „Mit dem Future Retail Store haben wir ein neues Förderformat geschaffen, mit dem wir mittelständische Handelsunternehmen direkt dabei unterstützen, ihre Geschäftsmodelle weiterzuentwickeln und mit digitalen Technologien zu experimentieren.“
Future Retail Store: neues Förderformat für Lösungen im Praxiseinsatz
Dabei ist es der Rid Stiftung wichtig, dass neue Lösungen im Praxiseinsatz auf einer realen Einzelhandelsfläche getestet werden. „Um das für Händler und Händlerinnen risikominimiert zu ermöglichen, stellen wir nicht nur ein Budget zur Verfügung, sondern agieren auch als Sparringspartner“, so Perez.
Das Interesse des Handels an diesem Projekt war groß: Bei der bayernweiten Ausschreibung der Rid Stiftung 2023 gingen mehr als 40 hochkarätige Bewerbungen ein. Eine Jury bewertete die Konzepte nach den Kriterien Innovationsgrad, digitale Kompetenz, Nachhaltigkeitsorientierung, Experimentierfreude und Kooperationsbereitschaft. Dabei konnten sich die Kiefl-Brüder mit ihren Urban Gardeners durchsetzen.
Rückenwind von Familie und Freunden
Der Start war ein wenig holprig. Ursprünglich sollte der Store im Zwischennutzungsprojekt Lovecraft in der ehemaligen Kaufhof-Filiale am Stachus stehen, doch das eröffnete nicht. Schließlich stellte die Landeshauptstadt München kostengünstige Räumlichkeiten im Rathaus zur Verfügung.
„Anfang März 2024 haben wir den Mietvertrag unterschrieben, am 15. März fand die Eröffnung statt“, erinnert sich Jakob Kiefl. Dass es gelang, die Flächen in dieser kurzen Zeit zu gestalten und mit Ware zu füllen, führt er nicht zuletzt auf die massive Unterstützung durch Freunde und Bekannte zurück.
Zudem haben die beiden Brüder familiären Rückenwind: Ihre Eltern betreiben ein großes Gartencenter in Gauting bei München. Die Idee zu einem Pendant speziell für Innenstadtbewohner verfolgte Jakob Kiefl, der während seines KMU-Management- und Entrepreneurship-Studiums im Familienunternehmen arbeitete, schon länger.
Aufwendige Administration
Das Förderprojekt der Rid Stiftung motivierte ihn dazu, das Konzept gemeinsam mit seinem Bruder umzusetzen. Sein bisheriges Fazit: „Wir haben es uns deutlich leichter vorgestellt, einen Laden zum Laufen zu bringen“, sagt Kiefl. „Allein die Administration rund um Bestellungen, Lieferscheine, Rechnungen und die ganzen Genehmigungen ist schon sehr aufwendig.“
Da sie den Betrieb mit vielen studentischen Hilfskräften stemmen, freuen sich die beiden Gründer über den digitalen „Plantfinder“, der mit generativer künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattet ist. An diesem Terminal erhalten Kunden nicht nur Informationen über das Sortiment des Stores, sondern können sich auch Pflanzen empfehlen lassen, die zu den Lichtverhältnissen am künftigen Standort, dem gewünschten Pflegeaufwand und dem jeweiligen gärtnerischen Know-how passen.
Fraunhofer IIS als Mentor
Dank der Einbindung von Chat-GPT, eingeschränkt auf das Thema Pflanzen, erhalten Kunden sogar direkte Antworten auf ihre Fragen. Den „Plantfinder“ hat Valentin Kiefl, der BWL und Multimedia Technology studierte, komplett in Eigenregie programmiert. Das Programm ist mittlerweile auch in den Onlineshop der Urban Gardeners integriert.
Das KI-gestützte Tool werde von Mitarbeitenden wie Besuchern gut angenommen, bestätigt Nadja Hoßbach-Zimmermann (42), Abteilungsleiterin Innovation und Transformation am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS. Das Fraunhofer IIS begleitet das Projekt wissenschaftlich und bewertet es im Hinblick auf die Relevanz für andere Einzelhändler.
Fraunhofer-Experten sind daher 2 bis 3 Tage pro Woche im Laden, um die Akzeptanz der neuen Technologien und innovativen Konzeptbausteine zu erfassen. Sie beobachten die Kunden und führen auch Interviews mit ihnen. „Das Feedback der Kunden führt dann wiederum zu Anpassungen des Technologieeinsatzes und der Konzepte“, erklärt Hoßbach-Zimmermann das Vorgehen.
Laufkundschaft und Insta-Follower
Aufgrund der kurzen Praxisphase kann das Fraunhofer IIS zwar noch nicht mit wissenschaftlich validen Erkenntnissen aufwarten. „Als Zwischenfazit können wir jedoch festhalten, dass sich die Kunden gefreut haben, Pflanzen und Gartenzubehör in der Innenstadt zu finden, und weder beim „Plantfinder“ noch beim 3-D-Drucker Berührungsängste hatten“, sagt Hoßbach-Zimmermann.
Parallel zur Ladeneröffnung baute eine Freundin der Kiefls einen Instagram Account auf, der mittlerweile rund 3.500 Follower hat. Künftig will das Fraunhofer IIS die Urban Gardeners noch mit Analysen von Inhalten der Online-Community unterstützen. „Rund um die Themen Zimmerpflanzen und Gärtnern in der Stadt gibt es im Netz regen Austausch“, sagt Hoßbach-Zimmermann. „Mit unserem Social-Media-Tool werden wir künftig Themen und Trends analysieren, die dort diskutiert werden, und damit die Sortimentsgestaltung erleichtern.“
Auf der Suche nach bezahlbaren Ladenflächen
Ein optimiertes Sortiment könnte für die Urban Gardeners künftig noch wichtiger werden. Sie sind auf der Suche nach einer neuen Ladenfläche, die aufgrund der hohen Mietpreise durchaus etwas kleiner als die aktuelle ausfallen dürfte. Weitermachen möchten die Kiefls auf jeden Fall. Dann werden sie auch weiter rund um die Zukunft des Handels experimentieren – und in der Innenstadt Strelitzien verkaufen.
IHK-Info: Einzelhandel
Umfassende Informationen zum Einzelhandel liefert die IHK-Homepage, darunter Empfehlungen zum Strukturwandel in Innenstädten.