Vom Händler zum Gastgeber

Die einstige Eisenwarenhandlung hat sich in 222 Jahren zu Deutschlands größtem Fachgeschäft für hochwertige Küchen- und Tischkultur entwickelt. Und der Wandel geht weiter.
Eva Elisabeth Ernst, Ausgabe 12/20
Manchmal ist es einem Zufall zu verdanken, wenn sich ein Unternehmen ein neues Geschäftsfeld erschließt. Bei Kustermann war dieser Zufall ein Wasserschaden im historischen Firmengebäude. Bei der Reparatur stießen Handwerker in der dritten Etage hinter abgehängten Decken der ehemals zweckmäßigen Büros auf prachtvolle alte Bausubstanz. Daraufhin beschlossen die Geschäftsführer Susanne Linn-Kustermann (63) und Caspar-Friedrich Brauckmann (60), die Räume zur Veranstaltungslocation für Firmenevents und Privatfeiern umzugestalten.
Nach umfassender Renovierung wurden sie im Januar 2020 eröffnet – inklusive offener Eventküche, Bar- und Loungebereich mit Blick auf den Viktualienmarkt und einer Außenterrasse mit Grillfläche. Brauckmann sieht im neuen Geschäftsfeld mehr als ein zusätzliches Standbein: »Unsere Eventlocation, in die wir auch unsere Kochschule integriert haben, ist eine weitere Bereicherung unseres Kustermann-Blocks und zugleich ein Statement, wie wir den modernen Einzelhandel interpretieren«, sagt er. »Wir sehen uns nicht mehr nur als Warenverteiler mit Verkäufern und Kunden, sondern haben uns längst zum Gastgeber entwickelt.«
Flexibel im Geschäft von Brückenbauteilen bis Gullydeckeln
Die Historie des Hauses Kustermann belegt, dass stetiger Wandel eine wesentliche Voraussetzung für den langjährigen Fortbestand eines Unternehmens bildet. Anno 1798 eröffnete Franz Seraph Kustermann seine Eisenwarenhandlung in München. Knapp 60 Jahre später wurde der Handel um eine Eisengießerei und eine Stahlbauabteilung erweitert, die beim Bau einiger Münchner Brücken und dem Wiederaufbau des Hauptbahnhofs nach 1945 beteiligt war. Kustermann goss zudem Gullydeckel, die auch heute noch in München im Einsatz sind.
Das größte deutsche Fachgeschäft seiner Art
Ab 1972 fokussierte sich das Unternehmen wieder ausschließlich auf den Handel, erweiterte das Sortiment jedoch um Produkte rund um die Einrichtung. Seit rund 20 Jahren konzentriert sich Kustermann als klassischer Vollsortimenter auf hochwertige Tischkultur und Heimwerken. Mit über 80.000 Artikeln, die auf rund 5.000 Quadratmetern Verkaufsfläche präsentiert werden, ist Kustermann nicht nur eine Münchner Einzelhandelsinstitution, sondern auch das größte deutsche Fachgeschäft seiner Art. Trotz der wechselnden geschäftlichen Ausrichtung ist das Unternehmen nach wie vor komplett im Familienbesitz und wird in siebter Generation von Familienmitgliedern geführt. »Wir sind schon ein bisschen stolz darauf, dass es uns seit über 20 Jahren gelingt, innerhalb der Familie eine konstruktive Atmosphäre des Miteinanders zu gestalten«, betonen Susanne Linn-Kustermann und Caspar-Friedrich Brauckmann unisono.
Getrennte Aufgabenbereiche für die beiden Geschäftsführer gibt es nicht. »Wir schätzen es, uns zu allen wichtigen Themen auf Augenhöhe abzustimmen und Entscheidungen gemeinsam nach dem Vieraugenprinzip zu treffen«, sagt Linn-Kustermann (63). Wegen Corona musste natürlich auch Kustermann ab Mitte März geschlossen bleiben, durfte allerdings wie Baumärkte und Gartencenter bereits am 20. April wieder öffnen. »Uns hat es daher nicht ganz so hart getroffen wie andere Handelsunternehmen«, sagt Linn-Kustermann. »Doch auch wenn wir mit den Verkaufszahlen seit der Wiedereröffnung sehr zufrieden sind, werden wir den für 2020 geplanten Jahresumsatz nicht mehr erreichen.«
Selbst konzipiertes elektronisches Einlassmanagement
Die Wochen des Lockdowns nutzte das Führungsteam zur Ausarbeitung eines Hygienekonzepts mit selbst konzipiertem elektronischem Einlassmanagement, das die Behörden offenbar überzeugte. »Wir sind eng am Puls des Geschehens und können sehr schnell und flexibel auf neue Entwicklungen reagieren«, betont Brauckmann. Dies sieht er derzeit als großen Vorteil eines Familienunternehmens mit einem einzigen Standort. Die Kustermann-Eventlocation, die nach der Eröffnung bestens gebucht war, musste wegen Corona nun bereits zwei Mal vorübergehend schließen. Susanne Linn-Kustermann geht davon aus, dass die Räumlichkeiten ab Dezember 2020 zumindest für kleinere Veranstaltungen wieder gebucht werden können. »Wir haben auch dafür ein akribisches Covid-Konzept entwickelt«, sagt sie. »Durch zwei weitere Räume und den Außenbereich mit Terrasse verfügen wir über gute Voraussetzungen zur Einhaltung von Hygiene-und Abstandsregeln.«
»Münchens Erste Häuser«
Mit vier weiteren traditionsreichen Einzelhändlern der Landeshauptstadt ist Kustermann über die Kooperation »Münchens Erste Häuser« verbunden. Unter diesem Dach haben Kustermann, Hirmer, das Sporthaus Schuster, Hugendubel und Bettenrid zusammengefunden, um gemeinsam ihr Verständnis von Einkaufsund Servicekultur zu stärken, voneinander zu lernen und Kompetenzen zu bündeln.
Auch als »Erlebnisunternehmen« mit Webshop dabei
Während des Lockdowns arbeitete man im Hause Kustermann jenseits der Hygienekonzepte noch an zwei weiteren Projekten: »Nachdem es durch Corona einen starken Schub zum Digitalen gab, haben wir einen Onlineshop installiert«, berichtet Brauckmann. Dieser zusätzliche Absatzkanal läuft gut an. Bis damit eine gewisse Größenordnung erreicht wird, erfolgt das Kommissionieren der Bestellungen durch die Mitarbeiter im Laden. »Wir sind natürlich schon seit Jahren online aktiv. Unsere Internetpräsenz hatte bislang allerdings das Ziel, die Frequenz am Standort zu erhöhen«, sagt Brauckmann. »Wir sehen uns als Erlebnisunternehmen und leben davon, dass die Gäste zu uns ins Ladengeschäft kommen.«
Portionierte Feierlichkeiten trotz Pandemie
Darüber hinaus beschlossen die beiden Geschäftsführer, das Anfang des Jahres geplante 222-jährige Firmenjubiläum trotz Pandemie zu feiern. Ende August gab es daher ein Jubiläumsmagazin, ein Gewinnspiel und besondere Angebote im Ladengeschäft und im Onlineshop. Auch mit den Mitarbeitern soll gefeiert werden – aber erst, wenn das Geschäft wieder in ruhigeren Bahnen verläuft. Nicht nur Susanne Linn-Kustermann und Caspar-Friedrich Brauckmann hoffen, dass dies möglichst bald der Fall sein wird.