Standortpolitik

„Startrampen statt Fallgruben“

Wolf Heider-Sawall ©
„Wir leben von der Substanz“, kritisiert Ex-Wirtschaftsminister Otto Wiesheu

Otto Wiesheu, ehemaliger Bayerischer Wirtschaftsminister, über Investitionen, Energiepolitik, De-Industrialisierung – und die wichtigsten Voraussetzungen für einen Umschwung.

Von Uli Dönch, IHK-Magazin 11-12/2024

Herr Wiesheu, die Wirtschaft wächst kaum noch: Hohe Energiepreise bedrohen die Industrie, Fachkräfte fehlen, Standortvorteile schwinden, Investoren wenden sich ab. Wie konnten wir unsere Stärken so leichtfertig verspielen?
Hier liegt vieles im Argen. Die Energiepolitik geht nicht auf, wir haben unsere Infrastruktur erodieren lassen, die Auslastung der Industrie geht zurück, die Zahl der Insolvenzen steigt und die Gefahr einer De-Industrialisierung wächst. Eigentlich müssten alle Alarmleuchten blinken.

Warum sind wir aktuell in dieser Lage?
Die Bundespolitik tut zu wenig für die Wirtschaft – und wenn doch, dann oft das Falsche. Verbaler Zuspruch allein reicht nicht aus. Gute Stimmung in den Unternehmen beruht nicht auf wohlmeinenden Worten, sondern auf Fakten. Doch die sehen leider nicht gut aus.

Wo sehen Sie die größten Defizite?
Erstens: Die Wirtschaftspolitik ist international wenig erfolgversprechend. Deutschland – und die EU – streiten sich mit den USA, legen sich mit China an und vernachlässigen Handelspartner in arabischen und afrikanischen Ländern.

Elektroantrieb ist nicht alles

Zweitens: Wir schwächen unsere traditionellen Industrien, allen voran die Automobilindustrie. Statt hier unseren Wissensvorsprung zu nutzen und innovative technologieneutrale Lösungen voranzutreiben, versteifen wir uns allein auf den Elektroantrieb.

Drittens: Unsere Energiepolitik basiert auf fragwürdigen Hoffnungen. Die Behauptung, dass die Strompreise in einigen Jahren sinken werden, ist schlichtweg falsch. Der Bundesrechnungshof hat die Regierung ermahnt, Bevölkerung und Wirtschaft darauf vorzubereiten, dass die Strompreise in Zukunft spürbar steigen werden.

Sie haben beim 2011 beschlossenen Atomausstieg gewarnt: Man könne nicht nach der Methode „Schauen wir mal, dann sehen wir schon“ Energiepolitik machen.
Deutschland hat beim Atomausstieg gesagt „Wir sind der Vorreiter“. Aber niemand ist uns nachgeritten. Im Gegenteil: Viele Länder setzen weiter auf Kernkraft oder steigen sogar völlig neu ein. Sie tun dies, um ihre Versorgung zu sichern und den CO2-Ausstoß zu senken. Wir hingegen verabschieden uns von bewährten Energieträgern, ohne rechtzeitig ausreichenden und bezahlbaren Ersatz zu haben. Damit schaden wir unserer Wirtschaft massiv.

Welche Folgen hat das für den Standort Deutschland?
In- und ausländische Unternehmen investieren immer weniger in Deutschland. Die langfristigen Konsequenzen sind bitter: Wenn das Volumen der Abschreibungen größer ist als das Volumen der Neuinvestitionen, dann sinken unsere Produktionskapazitäten und wir leben von der Substanz. Das sehen wir auch am Zustand unserer Infrastruktur – an unseren Straßen, Brücken und Schienen.

„Mehr Investitionen“

Was würden Sie jetzt tun, um Deutschland wirtschaftlich voranzubringen. Wie würde Ihr Drei-Punkte-Plan aussehen?
Als Erstes brauchen wir wieder mehr Investitionen. Wir müssen die Abschreibungsbedingungen so verbessern, dass sich Investitionen schneller rentieren. Auf diese Weise können die Betriebe, zweitens, ihre Innovationen umsetzen, um in neue Produkte einzusteigen. Drittens müssen wir die Kosten, auch die Energiekosten, unserer Unternehmen spürbar senken, damit sie international wieder konkurrenzfähiger werden.

Als Sie 1993 Bayerischer Wirtschaftsminister wurden, war die Lage im Freistaat sehr angespannt: Die Krise bedrohte nicht nur Chemie-, Automobil- und Textilindustrie, sondern generell die Wirtschaft. Was haben Sie damals getan?
Wir konnten auf den tiefgreifenden strukturellen Wandel Anfang der 1990er-Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mit einem klassischen Konjunkturprogramm reagieren. Wir hatten nicht ein konjunkturelles, sondern ein strukturelles Problem durch die Billiglohnkonkurrenz in der östlichen Nachbarschaft und die fortschreitende Globalisierung. Wir haben daraufhin eine Doppelstrategie entwickelt.

„Globalisierung nutzen, nicht erdulden“
Teil eins war die „Bestandspflege“: Wir haben – neben vielen anderen Initiativen – zum Beispiel Betriebe, die in Schwierigkeiten gekommen sind, mithilfe der Banken, nicht mit staatlichem Geld, unterstützt, soweit sie sanierungsfähig und sanierungswürdig waren, um ihre unternehmerische Substanz zu erhalten.

Teil zwei war das Thema „Erneuerung, Innovation“: Wir haben die bayerischen Unternehmen mit Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen vernetzt, damit neue Produkte entwickelt und neue Betriebe gegründet werden konnten. Und wir haben dazu beigetragen, die Globalisierung nicht zu erdulden, sondern durch die Erschließung neuer Märkte für den Mittelstand und den Export zu nutzen.

Woher hatte Bayern die Finanzmittel?
Ministerpräsident Edmund Stoiber hat mit seiner Privatisierungsinitiative, also dem Verkauf von Staatsanteilen zum Beispiel an Energieversorgungsunternehmen, beachtliche Finanzmittel mobilisiert. Diese Erlöse waren die Basis für die „High-Tech-Offensive Bayern“.

Es konnte viel Geld in den Ausbau der Hochschulen und von außeruniversitären Forschungseinrichtungen und auch in wirtschaftspolitische Initiativen investiert werden. Das hat Bayern vorangebracht.

Ausländische Firmen erwünscht

Hat Ihre Wirtschaftsstrategie auch international funktioniert?
Neben Start-ups konnten wir viele ausländische Unternehmen für Bayern gewinnen. Wir haben auch diese Investoren intensiv unterstützt – bei direkten persönlichen Kontakten, Hochschulkooperationen, Behördengängen und Arbeitserlaubnissen. Ich habe den Interessenten klar gesagt: „Wir möchten, dass Sie sich in Bayern heimisch fühlen. Und wenn das so ist, dürfen Sie das auch gern Interessenten, die zu uns kommen wollen, weitererzählen.“

Würden diese Reformrezepte auch heute noch funktionieren?
Ich denke, ja. Unsere damaligen Initiativen und neu gegründeten Institutionen gibt es auch heute noch wie Bayern Innovativ, Bayern International, Bayern Kapital und Invest in Bavaria. Das sind alles Dienstleister für die Wirtschaft.

Ökonomische Kooperation baut Brücken

Und in ganz Deutschland?
Unsere erfolgreiche Zusammenarbeit beim Know-how-Transfer zwischen Hochschulen und Unternehmen ließe sich sinnvollerweise auf die Bundesrepublik übertragen. Und im Bereich der Außenwirtschaft sollten wir möglichst offen mit anderen Ländern umgehen. Das ist gerade für eine Exportnation wie Deutschland wichtig. Der erhobene Zeigefinger ist da meistens nicht hilfreich.

Im Klartext: Wir müssen auch mit autokratisch regierten Ländern ökonomisch kooperieren. Wirtschaftliche Zusammenarbeit war und ist in der Regel auch eine gute Brücke für ein besseres gegenseitiges Verständnis.  

Zur Person: Otto Wiesheu

Otto Wiesheu (80) saß lange Jahre für die CSU im Bayerischen Landtag und hatte zahlreiche politische Ämter inne. Von 1993 bis 2005 war er Bayerischer Wirtschaftsminister. Anschließend wechselte der Jurist in den Vorstand der Deutschen Bahn AG.

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