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Aufwendige Umstellung

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Neue Regeln – Hersteller von Medizinprodukten wie etwa Orthesen müssen sich umstellen

Nach einem Jahr Aufschub tritt die neue EU-Medizinprodukte-Verordnung nun am 26. Mai 2021 in Kraft. Die Umstellung kostet Hersteller Zeit, Geld und Geduld.

Melanie Rübartsch, Ausgabe 04/2021

Zwei Jahre intensive Arbeit liegen hinter Davia Viellechner und ihrem Team. »Die neuen Vorgaben der EU-Medizinprodukte-Richtlinie (MDR) haben Auswirkungen auf zahlreiche Prozesse und Geschäftsbereiche unseres Unternehmens«, sagt die Geschäftsführerin des Inhalationsgeräteherstellers PARI GmbH. Verträge mit Distributoren und Handelspartnern in allen europäischen Märkten wurden angepasst, Prozesse für postklinische Marktbeobachtung sowie regulatorische und zulassungsrelevante Unterlagen überarbeitet und eine Vielzahl von Abläufen in Entwicklung, Produktion, Logistik und Qualitätsmanagement verändert. Parallel standen zahlreiche Schulungsveranstaltungen für das gesamte Team auf dem Programm.

Der Lohn der Mühe: Bereits im vergangenen Jahr hat PARI sein erstes Audit nach den neuen Vorgaben absolviert und wird das Zertifikat in Kürze erhalten. »Wir sind sehr erleichtert, dass wir nun wirklich sagen können: Wir sind bereit für die neue Zeit«, sagt die 40-Jährige.

Hohe Hürden für CE-Kennzeichnung

Die MDR hat die Voraussetzungen für die Erlangung der CE-Kennzeichnung, ohne die ein Medizinprodukt nicht auf den europäischen Markt darf, deutlich erhöht. Ursprünglich sollte die neue Verordnung bereits im Mai 2020 in Kraft treten. Wegen der Folgen der Covid-19-Pandemie hat die europäische Kommission den Start jedoch noch einmal verschoben: auf den 26. Mai 2021.

Die dadurch gewonnene Zeit war dringend notwendig. »Das Regelwerk beschert den Herstellern unter anderem weitergehende Vorgaben bezüglich der technischen Dokumentation, der Durchführung klinischer Bewertungen sowie ihrer Risiko- und Qualitätsmanagementsysteme oder ihrer Systeme zur Deckung einer finanziellen Haftung«, fasst Birgit Petzold, Referentin Innovation und Produktsicherheit bei der IHK für München und Oberbayern, zusammen.

Pflicht für jedes Medizintechniprodukt: Unique Device Identification Code

So müssen die Hersteller künftig zum Beispiel jedes Produkt mit einem Unique Device Identification Code (Produktidentifizierungsnummer) versehen. Um die Qualität und die Sicherheit der Produkte im Markt sicherzustellen, ist es nun erforderlich, Anwender aktiv zu befragen. Bislang war lediglich eine Dokumentation aller Rückmeldungen von Kunden notwendig.

Das System der »Benannten Stellen« bedeutet für die Hersteller dabei eine neue Unbekannte im Zulassungsprozess. Die Stellen sind EU-weit für die Zertifizierung von Medizinprodukten zuständig. Um prüfen zu dürfen, müssen sie ein nationales Notifizierungsverfahren durchlaufen haben. Im Idealfall dauert diese Neubenennung mindestens 18 Monate.

Erläuterung zu »Benannten Stellen« unten im Text

Erst sechs Benannte Stellen sind in Deutschland akkreditiert, darunter TÜV SÜD Product Service, Dekra Certification und DQS Medizinprodukte. Medizinproduktehersteller müssen sich daher auf längere Wartezeiten einstellen, wenn sie neue Produkte auf den Markt bringen wollen oder Rezertifizierungen brauchen.

Flaschenhalseffekt wegen mehr Verfahren

Der Flaschenhalseffekt wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass die verbleibenden Stellen künftig mehr Verfahren bearbeiten müssen. Das wiederum liegt an einer neuen Einteilung der Risikoklassen für Medizinprodukte. »Nur Produkte der niedrigsten Risikoklasse I benötigen keine Zertifizierung durch eine Benannte Stelle. Das sind etwa einfache Pflaster oder Rollstühle«, erläutert Petzold. »Ab Mai werden aber einige der jetzigen Klasse-I-Produkte in höhere Klassen eingestuft.« Beispiele sind wiederverwendbare chirurgische Instrumente oder stoffliche Medizinprodukte wie Nasensprays.

Wartezeiten verkürzen

Die Anzahl der Zulassungsanfragen hat sich bei der TÜV SÜD Product Service GmbH bereits spürbar erhöht, bestätigt Unternehmenssprecher Dirk Moser-Delarami. »100 Bescheinigungen haben wir mittlerweile auf Grundlage der MDR ausgestellt.« Zu den konkreten Bearbeitungszeiten lasse sich aktuell nichts Belastbares sagen. Sie seien nämlich nicht nur von der Art des Zulassungsverfahrens, dem Produkt und der Verfügbarkeit der weltweit verteilt operierenden Experten abhängig, so Moser-Delarami. »Auch die Möglichkeit, in die weltweiten Produktionsstätten zu reisen, um die gesetzlich vorgeschriebenen On-Site-Audits dort durchzuführen, ist wegen der Pandemie gerade eingeschränkt.« Wartezeiten könnten aber auf jeden Fall dadurch verringert werden, dass erforderliche Unterlagen strukturiert, vollständig und in der von der jeweiligen Zulassungsstelle vorgegebenen Sprache eingereicht würden.

Gültigkeit bis 2023

Die einjährige Verlängerung der Übergangszeit haben einige Unternehmen genutzt, um ihre Produkte noch einmal nach der alten Richtlinie, der Medical Device Directive (MDD), rezertifizieren zu lassen. Diesen Weg ist die HP Medizintechnik GmbH gegangen. Das Oberschleißheimer Unternehmen produziert unter anderem mobile Krankenhaussysteme und Sterilisatoren für Container und Zelte, zum Beispiel für die Bundeswehr.

Die aktuell erworbene MDD-Zertifizierung hält nun erst einmal bis 2023. »Allerdings haben wir im Zuge des Verfahrens sehr bewusst schon viele Maßnahmen ergriffen, die auf die MDR-Zukunft vorbereiten«, sagt Geschäftsführer Sandro Schmalzl. Spätestens für verschiedene Neuentwicklungen, an denen das Unternehmen gerade arbeitet, sei schließlich die Zulassung nach der MDR erforderlich.

Hoffnung auf klaren Wettbewerbsvorteil

»Viel Zeit ist vor allem in die Umstellung der technischen Dokumentationen geflossen«, sagt der 36-Jährige. Die zusätzlichen Kosten unter anderem für den externen Berater, klinische Bewertungen und zusätzlichen Personalaufwand schätzt er auf rund 70.000 Euro im Jahr. »Wir müssen jetzt einmal konzentriert alle neuen Prozesse automatisieren, dann wird sich der Zeit- und Kosteneinsatz reduzieren«, kalkuliert er. Dann, so seine Hoffnung, habe man auch einen klaren Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Marktteilnehmern: »Nicht alle Unternehmen werden den erhöhten Aufwand, den die MDR mit sich bringt, stemmen können.«

Längere Zulassungverfahren wären Nachteil für die Branche

Dass die zusätzlichen regulatorischen Anforderungen insbesondere Niedrigpreisanbieter ohne systematisches Qualitätsmanagement aus dem Markt halten können, erwartet auch PARI-Geschäftsführerin Viellechner. »Zugleich verlangen die mit der Richtlinie gestiegenen Kosten und Risiken von allen Anbietern eine stärkere Fokussierung auf wenige Projekte.« Auch PARI hat sein Portfolio angepasst und sich von vielen kleineren Produkten verabschiedet.
Viellechner hofft nun vor allem, dass sich die Dauer der Zulassungsverfahren nicht signifikant verlängern wird: »Das wäre ein großer Nachteil für die Branche in Deutschland.«

Stichwort: »Benannte Stelle«

In der EU dürfen Produkte nur vertrieben werden, wenn sie bestimmten (Sicherheits-) Anforderungen genügen. Einige Produkte, darunter die Medizinprodukte, müssen die Einhaltung solcher Anforderungen
durch die CE-Kennzeichnung anzeigen. Der Hersteller ist für die Konformitätserklärung verantwortlich.

Die Bewertung der Konformität kann der Hersteller entweder selbst durchführen oder durch eine Benannte Stelle durchführen und zertifizieren lassen. Für einige Produkte fordern die spezifischen geltenden
Richtlinien und Verordnungen zur CE-Kennzeichnung das sogar explizit: In diesem Fall muss der Hersteller die Konformitätsbewertung durch die Benannte Stelle durchführen lassen.

Benannte Stellen sind staatlich notifizierte und überwachte private Prüfstellen, die im Staatsauftrag die Zertifizierung von Herstellern und Produkten übernehmen. Welche Stellen in Deutschland bereits für
die »Regulation (EU) 2017/745 on medical devices« zugelassen sind, ist auf dieser EU-Webseite zu finden unter: –> NANDO-IS –> Country –> Germany –> Regulation (EU) 2017/745 on medical devices

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