Standortpolitik

Angesehen, erfolgreich – und verfolgt

Bayerisches Wirtschaftsarchiv ©
Parlament der Wirtschaft – Handelskammersaal im Haus für Handel und Gewerbe (1926)

Spurensuche in der NS-Zeit – das Bayerische Wirtschaftsarchiv hat die Verdrängung der jüdischen Mitglieder der Industrie- und Handelskammer München dokumentiert.

EVA MOSER, Ausgabe 05/2022

Am Vormittag des 11. März 1933, einem Samstag, marschierte der mit Karabinern bewaffnete Sturm 2/L der Leibstandarte am Münchner Maximiliansplatz auf, um »das Banner Adolf Hitlers« auf dem Haus für Handel und Gewerbe aufzuziehen.

Dort hatten die Börse und die Industrie- und Handelskammer München seit 1901 ihren gemeinsamen Sitz. Der »Völkische Beobachter«, das Parteiorgan der NSDAP, berichtete hämisch: »Den anwesenden jüdischen Börsenbesuchern mag diese Unterbrechung ihrer ›Geschäftstätigkeit‹ recht gemischte Erfahrungen verursacht haben; man sah es ihren angstvollen Gesichtern an. – Von den verantwortlichen Stellen der Handelskammer wurde der Flaggenhissung keinerlei Widerstand entgegengesetzt: Bereitwillig öffneten sich alle Türen.«

Erfolglose Vorsprache des Handelskammer-Präsidenten

Entgegen der bösartigen Kommentierung war der amtierende Handelskammer-Präsident, Geheimer Kommerzienrat Josef Pschorr, Teilhaber der Pschorrbräu AG, von den Ereignissen in höchstem Maße alarmiert. Schon wenige Tage später sprach er beim Reichskommissar General Franz Ritter von Epp und gleich danach bei Staatskommissar Adolf Wagner vor, der als besonders antisemitisch galt. Pschorr bat dringend darum, »dass jeder Jude den gleichen Schutz, was Person und Eigentum anbelangt, genießen solle, wie jeder loyale Christ«.

Acht jüdische Firmenvertreter aktiv im Parlament der Wirtschaft

Der Appell des Kammerpräsidenten kam nicht von ungefähr. Eine Reihe jüdischer Unternehmerpersönlichkeiten war schon seit Jahren als Kammermitglied – heute heißt es Vollversammlungsmitglied – aktiv. Anfang 1933 gehörten acht jüdische Firmenvertreter dem Parlament der Wirtschaft an, das 60 Sitze umfasste.

Den Großhandel repräsentierten Kommerzienrat Adolf Einstein, Teilhaber der Bettfedernfabrik Billigheimer & Einstein, Bruno Levi, Teilhaber der Metallgroßhandlung Holl & Cie, Justin Lichtenauer, Mitinhaber der Textilagentur Julius Lichtenauer, Kommerzienrat Richard Weinberger, Teilhaber des Bankgeschäfts Herzog & Meyer, sowie Geheimer Kommerzienrat Max Weinmann, Inhaber einer Seiden-, Besatz- und Kurzwarengroßhandlung. Für den Bereich der Industrie standen Kommerzienrat Ludwig Wassermann, Inhaber der Spiritusraffinerie und Essigspritfabrik Max Wassermann, und Willi Binswanger, Direktor der Amperwerke A.G. Der Gruppe Einzelhandel war Kommerzienrat Nathan Stern, Mitinhaber des Spezialhauses für Mode und Wäsche Gerstle & Löffler, zuzurechnen.

Mehr als jeder Zweite trug Ehrentitel

Die jüdischen Kammerrepräsentanten waren arriviert, geschäftlich erfolgreich und vermögend. Sie verfügten über hohes gesellschaftliches Ansehen und waren Teil einer wirtschaftsbürgerlichen Elite. Das brachte auch der Ehrentitel eines Kommerzienrats zum Ausdruck, den mehr als die Hälfte von ihnen trug. Unerlässliche Voraussetzungen für diese Auszeichnung waren wirtschaftlicher Erfolg, Engagement für das Gemeinwohl, große Spendenbereitschaft für soziale oder kulturelle Zwecke und ein gutes Verhältnis zu den Beschäftigten.

»Juden seien Feinde der Wirtschaft«

Der Vorstoß von Kammerpräsident Pschorr bei den neuen Machthabern blieb ohne Erfolg. Der eigens eingesetzte Sonderkommissar für die Kammer München, Georg Sturm, hatte gleich zu Beginn den jüdischen Vollversammlungsmitgliedern das Betreten des Kammergebäudes verboten: Juden seien Feinde der Wirtschaft, denen der Kampf angesagt werden müsse.

Er machte auch deutlich, dass bei den anstehenden Neuwahlen der Kammer die Nationalsozialisten mehr als die Hälfte der Mitglieder stellen sollten. Sonst drohte die Zwangsverwaltung. Kommerzienrat Pschorr musste Platz machen für Albert Pietsch, den Vorstand der Elektrochemischen Werke in Höllriegelskreuth, einen sogenannten »alten Kämpfer« wie langjährige Förderer der NSDAP hießen.

Auch die Hauptgeschäftsführung der Kammer wurde auf Linie gebracht. Als erste Amtshandlung hatte der Sonderkommissar den bisherigen Chefsyndikus Edmund Simon, der mit einer Jüdin verheiratet war, entlassen. Für ihn kam der Wirtschaftsredakteur des »Völkischen Beobachters« Hans Buchner, der mit 26 Jahren in die NSDAP eingetreten war und auch am Hitlerputsch teilgenommen hatte.

Nicht nur Ehrenamt verloren

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten verloren die jüdischen Vollversammlungsmitglieder nicht nur ihr Ehrenamt in der Kammer. Schritt für Schritt folgte der Ausschluss aus dem Wirtschafts- und aus dem öffentlichen Leben. Am Ende standen Verfolgung, Exil und Tod. Willi Binswanger und Kommerzienrat Richard Weinberger starben Mitte der 1930er-Jahre. Auch Kommerzienrat Adolf Einstein und Justin Lichtenauer erlebten die Schrecken der sogenannten Reichskristallnacht in München nicht mehr.

Nathan Stern gelang die Flucht nach England. Ludwig Wassermann emigrierte in die Schweiz und Bruno Levi nach Uruguay. Kommerzienrat Max Weinmann nahm sich 1940 zusammen mit seiner Frau das Leben. Sie fanden auf dem Neuen Jüdischen Friedhof ihre letzte Ruhe.

1955 erstmals wieder jüdisches Mitglied in IHK-Vollversammlung

1955 wurde erstmals nach 1933 wieder ein prominentes Mitglied der jüdischen Gemeinde München in die IHK-Vollversammlung gewählt: Konsul Otto Bernheimer, persönlich haftender Gesellschafter der Kunst- und Antiquitätenhandlung L. Bernheimer KG. Er war nach dem Exil in Venezuela gleich nach Kriegsende in seine Heimatstadt zurückgekehrt.

Auch wenn der Titel in der jungen Bundesrepublik offiziell nicht mehr existierte, setzte Otto Bernheimer gewissermaßen die Tradition der jüdischen Kommerzienräte fort. Für seine großen Verdienste um Staat und Gesellschaft war er noch in der Weimarer Republik mit diesem Titel ausgezeichnet worden.

Spurensuche im Bayerischen Wirtschaftsarchiv

In den Beständen des Bayerischen Wirtschaftsarchivs haben die Vorgänge um die Verdrängung der jüdischen Unternehmer aus der Industrie- und Handelskammer München ihren dokumentarischen Niederschlag gefunden. Aufgabe dieser Gemeinschaftseinrichtung der bayerischen Industrie- und Handelskammern ist es, unersetzliche Quellenzeugnisse aus der Geschichte des bayerischen Wirtschaftslebens zu sammeln, dauerhaft zu bewahren und für interessierte Bürger ebenso wie für die Forschung zugänglich zu machen.

Mehr Informationen, wie das »Exponat des Monats« auf der Website des Bayerischen Wirtschaftsarchivs.

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