Blick ins All

ESO ©
So soll das weltgrößte optische Teleskop am La-Silla-Observatorium der ESO in Chile aussehen (Simulation).

Die Europäische Südsternwarte ESO in Garching bei München baut gerade das größte Teleskop der Welt – in der Atacama-Wüste in Chile. 

Cornelia Knust, Ausgabe 06/20

Fernando Comerón ist ein neugieriger Mann. Der 55-jährige Astronom aus Barcelona befriedigt aber vor allem die Neugier anderer Leute. Wer als Forscher von 2025 an einmal drei oder vier Nächte durch das größte Teleskop der Welt ins All blicken möchte, der kommt an Comerón und seinen Kollegen in Garching bei München nicht vorbei. Hier befindet sich die Europäische Südsternwarte, kurz: ESO für "European Southern Observatory". Hinter der Mathematikfakultät der Technischen Universität und dem Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik steht ein seltsam geschwungener Bau aus den 1970er-Jahren: Franz Josef Strauß, der raumfahrtbegeisterte bayerische Ministerpräsident, hatte ihn der ESO damals zum Geschenk gemacht – auf dass sie ihren Sitz von Genf nach Garching verlagere.  

Standortvorteil Wüste: nachts extrem dunkel und trocken

Das erzählt Comerón, der seit 25 Jahren für die ESO arbeitet und heute stellvertretender Forschungsdirektor ist. Stolz deutet er auf das neu errichtete Planetarium nebenan. Von einer Sternwarte, einem Observatorium, ist hier allerdings weit und breit nichts zu sehen. Im lichtverschmutzten Europa mit seinem häufig wolkenverhangenen Himmel kann man nur schlecht in ferne Welten schauen. Die »Augen« der Wissenschaftler und Ingenieure, die hier arbeiten, befinden sich in Chile, in den Bergen der nachts extrem dunklen und stets trockenen Atacama-Wüste.

"Urform menschlichen Wissensdursts"

16 europäische Staaten betreiben und finanzieren die ESO mit rund 200 Millionen Euro im Jahr. Seit der Gründung 1962, zunächst in Genf, angedockt an den Teilchenbeschleuniger CERN, sind immer wieder neue Länder dazugekommen, zuletzt Polen und Irland. Das neueste Projekt der Organisation, das Extremely Large Telescope (ELT), wird rund 1,3 Milliarden Euro verschlingen. Comerón findet das nicht sehr teuer und vergleicht die Kosten mit dem Aufwand, den sein Heimatverein FC Barcelona betreibt: »Der investiert jedes Jahr fast ein ELT in Fußball«, sagt er lächelnd und macht seine persönlichen Prioritäten deutlich: »Astronomie ist die älteste Wissenschaft der Welt. Sie repräsentiert die Urform menschlichen Wissensdursts. Sie hat enorme Auswirkungen auf unser Selbstverständnis als Menschen, auf Philosophie und Religion.«

Die ESO sei mehr als nur ein Hilfsmittel, um etwas Astronomie zu betreiben, sagt Comerón. Man schaffe die Voraussetzungen für spektakuläre Entdeckungen wie schwarze Löcher, Supernovas, Exoplaneten, vielleicht irgendwann außerirdisches Leben. Das sei »kulturelles Kapital«. Man treibe mit dieser Forschung außerdem technische Entwicklungen und industriellen Fortschritt voran. Man begeistere junge Menschen für die Wissenschaft und inspiriere Künstler zu neuen Werken.

Stundensatz 5.000 bis 10.000 Euro

Die Organisation entscheidet zweimal im Jahr, welche Forscher mit welchen Projekten Zugang zu den Observatorien erhalten – Kostenpunkt 5.000 bis 10.000 Euro pro Stunde. Nach einem Jahr stehen die Daten aus diesen Forschungen der ESO frei zur Verfügung, die ESO-Wissenschaftler forschen aber auch selbst. Mehrere Observatorien an drei Standorten wurden seit 1962 errichtet, zuletzt das Very Large Telescope (VLT) in Paranal, das 1999 eingeweiht wurde. Nur 20 Kilometer davon entfernt, auf dem abgesprengten Kegel eines 3.000 Meter hohen Bergs, entsteht nun das neue Prestigeprojekt ELT.

Ein Teleskop der Superlative

Mit 39 Metern Durchmesser wird es das größte optische Teleskop der Welt sein. 798 bewegliche Primärspiegel, hergestellt bei Schott-Glas in Mainz, werden das Licht aus dem All einfangen. Vier weitere dünnere, in sich biegsame Spiegel werden Störungen aus der Atmosphäre ausgleichen, mit einer Taktzahl von 1.000 pro Sekunde. Eine Vielzahl von Instrumenten wird es erlauben, die Informationen aus diesem Licht und einem Teil der Infrarotstrahlung auszulesen: Spektrografen, Detektoren, Kameras, verbunden mit jeder Menge Software.

Zulieferkonsortien aus Europa fertigen die Komponenten dieser Instrumente. In Garching werden sie zusammengefügt und aufwändig getestet. Danach kommen sie, zerlegt, in Kisten und reisen nach Chile. Auf der Basisstation am Fuße der Observatorien werden sie wieder zusammengesetzt und dann eingebaut. Einen weiteren Stützpunkt unterhält die ESO in der Hauptstadt Santiago de Chile. In den Büros werden die Kontakte zur Regierung und zu Forschungseinrichtungen gepflegt. Comerón war dort fünf Jahre als ESO-Repräsentant. Die politischen Unruhen der jüngsten Zeit in Chile beunruhigen ihn nicht übermäßig: »Da haben wir in der Geschichte der ESO dort noch ganz andere Dinge erlebt.«

Deutsche Pioniere

Dass die ESO überhaupt gegründet wurde und dann ausgerechnet Chile als Standort für die Observatorien wählte, hängt eng mit deutschen Wissenschaftlern zusammen. Walter Baade (1893– 1960), ein bekannter deutscher Astronom, war in den 1930er-Jahren nach Kalifornien ausgewandert und forschte am Mount Wilson-Observatorium. Andere Wissenschaftler folgten, sodass die in Europa gelegten wissenschaftlichen Grundlagen den USA zugutekamen, wo private Stiftungen über die nötigen Finanzmittel zum Bau von Observatorien verfügten.

Baade soll nach dem Zweiten Weltkrieg angeregt haben, dass die Europäer ihr eigenes Observatorium bauen, und zwar für die noch wenig erforschte südliche Hemisphäre. Als die ESO sich tatsächlich formiert hatte, wurde ein Deutscher, Otto Heckmann (1901–1983), der erste Direktor der Organisation. Heckmanns Freundschaft mit dem Leiter der deutschen Schule in Santiago de Chile soll die Standortwahl für das erste gemeinsame Observatorium stark beeinflusst haben. Es wurde La Silla in Chile (drei Meter Durchmesser, 1969 eingeweiht).

Heute arbeiten mehr als die Hälfte der 700 ESO-Mitarbeiter in Chile. Allein in Paranal beim Very Large Telescope (VLT) harren immer zehn bis 20 Astronomen aus. Comerón erinnert sich, wie er vor 22 Jahren im Vorfeld der Inbetriebnahme des VLT ein paar Nächte ganz allein da oben war. »Ich sah mich als Pionier und war voller Dankbarkeit, das erleben zu dürfen.«

Dankbarkeit und Staunen

Was mit dem Nachfolger ELT ab 2025 genau erforscht werden solle, wisse noch keiner. »Wir könnten nur sagen, was wir erforschen würden, wenn es uns jetzt schon zu Verfügung stünde«, erklärt Comerón. Die Frage, was er denn empfinde, wenn er in das endlose Universum hinausschaue, beantwortet er so: »Ich fühle das Wunder, dass das so komplexe ›System Mensch‹ in diesen im Grunde einfachen, fast langweiligen Strukturen des Alls enthalten gewesen sein muss. Das war alles schon da.«

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