Güterverkehr – wie viel auf die Schiene verlagern?
Der Brenner Basistunnel wird erst in mehr als zehn Jahren, der Nordzulauf sogar in über 20 Jahren eröffnet. Bereits heute jedoch müssen weitere Verkehre auf die Schiene verlagert werden – wo gibt es Potenzial?
Stefan Bottler, Ausgabe 02/2022
Die künftige Trasse soll bei Ostermünchen abzweigen, nördlich von Rosenheim den Inn überqueren, anschließend mehrere Gemeinden untertunneln und bei Niederaudorf im bayerischen Inntal münden. Auch den weiteren Verlauf bis zur österreichischen Grenze plant DB Netze, die Infrastrukturtochter von Deutsche Bahn (DB), fast ausschließlich unterirdisch.
Im Frühjahr 2021 schlug sie diese Trasse als künftigen zweigleisigen Nordzulauf für den Brenner Basistunnel (BBT) vor. Mit bis zu 230 Kilometern pro Stunde sollen hier einmal Güterzüge durchrauschen und die oberirdische Bestandsstrecke durch Rosenheim entlasten. Voraussichtlich 2025/26 wird der Bundestag über den Nordzulauf, der mindestens sieben Milliarden Euro kosten wird, entscheiden. Mit dem ersten Spatenstich ist nicht vor 2030, mit der Fertigstellung nicht vor 2040 zu rechnen. Manche Marktkenner erwarten den Baubeginn frühestens 2035.
Bis zu 400 Züge möglich
»Der künftige Brenner Basistunnel ist dann längst eröffnet«, prognostiziert Gerhard Wieland, Referent für Verkehrsinfrastruktur bei der IHK für München und Oberbayern. Jeden Tag könnten dann bis zu 400 Züge den 64 Kilometer langen Tunnel passieren und die Brenner-Autobahn vom Straßengüterverkehr entlasten.
2020 waren fast 2,5 Millionen Lkws auf der Autobahn unterwegs. Sie sorgen für zwei Drittel des Transportaufkommens. Die Tiroler Landesregierung möchte deshalb möglichst viele Güter von der Straße auf die Schiene verlagern. Mit einer aktuellen Tageskapazität von mehr als 250 Zügen hat dieser Verkehrsträger noch Luft nach oben.
Gern verweist Ingrid Felipe (43), Stellvertreterin des Tiroler Landeshauptmanns, auf die 2020 stark gestiegenen Zahlen für die Rollende Landstraße (RoLa), die komplette Lkws verlädt. In den ersten zehn Monaten 2021 hat Rail Cargo Austria AG (RCA), die Güterverkehrstochter der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), rund 135.000 Lkws auf der Schiene transportiert. Das sind fast 10.000 Fahrzeuge mehr als im gesamten Jahr 2020. Vor allem die RoLa-Verbindung zwischen Wörgl unweit der Grenze und dem Brenner floriert. »Die RoLa-Kapazitäten können aktuell bis zu einer Verdopplung hin ausgebaut werden«, sagt Felipe. Die hierfür notwendigen Waggons seien vorhanden und die Trassen könnten nach kurzer Vorlaufzeit aktiviert werden.
Blockabfertigungen verhindern
Auch die IHK plädiert für weitere Verlagerungen auf die Schiene. Als »Kurzfristlösung« bringt IHK-Experte Wieland eine Wiederinbetriebnahme der 2016 eingestellten RoLa-Verbindung von Regensburg nach Trient ins Spiel: »Die Terminals in beiden Standorten können ihren Betrieb schnell wieder aufnehmen.« Jetzt müsse noch ein Betreiber engagiert werden, der kurzfristig Waggons akquirieren kann. »Wenn wir Tirol keine Alternativen anbieten, werden die Blockabfertigungen immer rigider.« Für das erste Halbjahr 2022 hat die Landesregierung bereits Blockabfertigungen für 21 Tage angekündigt. Vor allem nach Wochenenden und rund um Feiertage will sie jede Stunde nur etwa 300 Lkws aus Deutschland passieren lassen. Als Folge müssen sich Verkehrsteilnehmer auf kilometerlange Staus bis hoch zum Inntal-Dreieck einstellen.
Ausbau von kombinierten Verkehren
Das Bayerische Verkehrsministerium reagiert allerdings skeptisch auf eine Neuauflage der RoLa-Strecke Regensburg– Trient. »Die lange Strecke führt zu hohen Betriebskosten, was höhere Subventionen notwendig macht«, sagt ein Sprecher. »Auch stehen in Deutschland kaum RoLa-Waggons zur Verfügung.« Das Ministerium setzt deshalb auf einen Ausbau von kombinierten Verkehren (KV), die Container und andere standardisierte Ladeeinheiten transportieren. Im Gegensatz zum RoLa-Transit fahren hier keine Lkw-Fahrer mit, am Zielort übernimmt ein neuer Fahrer den weiteren Transport.
An KV-Angeboten herrscht kein Mangel. Allein der Marktführer Kombiverkehr GmbH & Co. KG – DB Cargo und 225 Speditionen sind hier beteiligt – bietet wöchentlich 180 Abfahrten in beide Richtungen ab München und acht weiteren deutschen sowie vier italienischen Terminals an. Hinzu kommen Verkehre der österreichischen RCA und anderer Anbieter. Die Züge seien »hoch ausgelastet«, meldet Kombiverkehr. Weil jedoch manche Trassen kaum zusätzliche Verkehre aufnehmen können und Terminals vor allem in Süddeutschland aus allen Nähten platzen, sieht Kombiverkehr für Neuverkehre wenig Spielraum.
Neue Umschlagstechnologien in allen Terminals nötig
IHK-Experte Wieland verweist auf ein anderes Hindernis: »Viele Sattelauflieger, die mit dem KV transportiert werden könnten, sind nicht kranbar.« Für Abhilfe könnten die neuen Umschlagstechnologien Nikrasa und Cargobeamer sorgen, die allerdings erst in einzelnen Terminals installiert sind. Beide Lösungen arbeiten sehr unterschiedlich: Das von der Logistik-Kompetenz-Zentrum (LKZ) Prien GmbH mitentwickelte Nikrasa-System lädt die Auflieger vertikal mit einer Transportplattform auf die KV-Waggons. Der von einem Leipziger Unternehmen konzipierte Cargobeamer ermöglicht einen vollautomatischen Umschlag horizontal von der Seite.
Brenner Basistunnel 2032 fertig?
Unterdessen laufen die 2006 begonnenen Bauarbeiten für den Brenner Basistunnel weiter. 2021 wurde unter anderem der symbolträchtige Tunnelanstich in der Stillschlucht bei Innsbruck realisiert. Jeder kann jetzt den künftigen Tunneleingang im Norden sehen. Spätestens 2032 soll das Jahrhundertbauwerk fertig sein. Dann werden sicher deutlich mehr KV- und RoLa-Züge fahren als heute.
Brenner-Korridor: deutlich mehr Verkehr erwartet
Wie viele Züge werden tatsächlich über den Brenner rollen? Mitte Dezember 2021 wurden erstmals länderübergreifend abgestimmte Prognosen zum Zugverkehr für den 435 Kilometer langen Brenner-Korridor zwischen München und Verona veröffentlicht. Die Zahlen untermauern die Notwendigkeit eines viergleisigen Ausbaus der Schieneninfrastruktur.
Im Güterverkehr ist bis 2030 mit einer Steigerung des Transportvolumens um 53 bis 95 Prozent zu rechnen. Die Vorausschau bis 2040 geht sogar von Erhöhungen um bis zu 215 Prozent aus. Dies ist das Ergebnis von Studien der Brenner Corridor Platform (BCP). In diesem Gremium sind Vertreter Deutschlands, Österreichs und Italiens, der Regionen Bayern, Nordtirol, Südtirol, Trentino und Verona, der Eisenbahnbetreiber der drei betroffenen Staaten, der BBT SE und der Aktionsgemeinschaft Brennerbahn vertreten.
Mit der BCP-Prognose liegen erstmals Ergebnisse vor, die auf einer grenzübergreifend anerkannten Datengrundlage und einer abgestimmten Methodik beruhen. Sie sollen Grundlage für weitere Investitionen in die Schieneninfrastruktur sein.