Das falsche Signal

Die Bundesregierung bricht mit einem zentralen Versprechen: Statt Firmen zu entlasten, baut sie mit dem Bundestariftreuegesetz weiter Bürokratie auf.
Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 10/2025
Israel, Trump, Migration – fast hatte man schon vergessen, dass sich die Bundesregierung auch um die Wirtschaft kümmern wollte. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erinnerte vorsorglich am 4. August im „ZDF-Morgenmagazin“ an den Anspruch, mit dem die schwarz-rote Koalition angetreten war: die „Regelungswut“ und „übertriebene Bürokratie“ zu beenden. „Wir geben diesem Land, den Unternehmen, den Menschen wieder die Freiheit zurück“, versprach der CDU-Mann.
Das Versprechen hielt 2 Tage. Am 6. August 2025 beschloss das Bundeskabinett den Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz. Bundesaufträge ab 50.000 Euro sollen künftig nur noch zu Tarifbedingungen vergeben werden. Lediglich Beschaffungsaufträge für die Bundeswehr bleiben ausgenommen. Eine neue Prüfstelle soll die Umsetzung überwachen. Das klingt jetzt nicht nach Freiheit. Es ist auch nicht klar, wie sich das vertragen soll mit dem Vergabebeschleunigungsgesetz, das vom Bundeskabinett am gleichen Tag beschlossen wurde.
Rund 100 Milliarden € für öffentliche Aufträge
Die Öffentlichkeit interessiert das wenig, obwohl es um viel Geld geht. Mit rund 38 Milliarden Euro pro Jahr sorgt der Bund für den dicksten Brocken bei den öffentlichen Aufträgen. Die Länder vergeben rund 31 Milliarden Euro, die Kommunen knapp 35 Milliarden Euro. Im Rahmen des Sondervermögens Infrastruktur sollen jetzt viele Projekte vom Bund zusätzlich ausgeschrieben werden.
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) macht daher klar: „Das Gesetz kommt genau zur richtigen Zeit.“ Sie argumentiert, in den bestehenden Vergabeordnungen sei der günstigste Preis das entscheidende Kriterium. Die Unternehmen, die fair und nach Tarif bezahlten, seien die Dummen. Man müsse dieses „Lohndumping mit Steuergeld“ endlich beenden.
Echter „Bürokratiehammer“
Im Bundesarbeitsministerium hält man den Aufwand, den das neue Gesetz für die Firmen bedeutet, für minimal. Die Erfüllungskosten lägen demnach bundesweit bei nur 400.000 Euro im Jahr. In der IHK glaubt man nicht daran. Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl spricht von einem neuen „Bürokratiehammer“. Leidtragende der Regulierung seien erneut mittelständische Firmen.
Die tun sich ohnehin schwer, mit dem Staat ins Geschäft zu kommen. Laut einer Studie des Bonner Instituts für Mittelstandsforschung erfahren kleine und mittlere Unternehmen „in jeder Phase des Vergabeprozesses Hemmnisse“. Bundesaufträge gehen zu über 90 Prozent an Großunternehmen. Deshalb betreiben die IHKs gemeinsam mit den Handwerkskammern das Auftragsberatungszentrum Bayern.
Neu: Haftung für Nachunternehmen
Als Unterstützung bietet die IHK-Organisation bundesweit die „Präqualifizierung“ an, die den Firmen viel Aufwand erspart. Sie müssen ihre Eignung für öffentliche Aufträge nicht mehr für jedes einzelne Projekt nachweisen. Es genügt, wenn sie das gegenüber ihrer IHK einmal tun. Sogar der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB lobt, die Präqualifizierung habe sich vor allem bei Bauaufträgen gut bewährt.
Für umso unverständlicher hält es DIHK-Juristin Hildegard Reppelmund, dass die Bundesregierung den Vergabeprozess mit dem neuen Gesetz wieder erschwert. „Das ist das Gegenteil von Bürokratieentlastung, die den Unternehmen versprochen wurde. Und es ist das Gegenteil von dem, was unserer Wirtschaft aus der Krise hilft“, kritisiert sie. Die Juristin wirft der Regierung vor, selbst jene Firmen zu belasten, die man in Berlin fördern will: „Auch tarifgebundene Unternehmen kostet das mehr Zeit, Aufwand und Geld. Sie sind ebenfalls nachweispflichtig und haften künftig für ihre Nachunternehmen.“
Gesetz verkleinert Bewerberkreis
Hinzu kämen schädliche gesamtwirtschaftliche Effekte. Reppelmund macht die Rechnung auf: Mehr Bürokratie und neue Nachweispflichten machen den Bewerberkreis kleiner. Das bedeute weniger Wettbewerb und steigende Preise auf Kosten der öffentlichen Haushalte und Steuerzahler. „Im Ergebnis ist das ein Beschaffungskosten-Steigerungsgesetz.“
Oliver Barta, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg, sieht das ebenso: Zu viel Bürokratie schrecke die Unternehmen schon heute ab. Für 30 Prozent der Ausschreibungen des Bundes gebe es nur noch einen Bewerber. Alles, was der Bundesregierung dazu einfalle, sei: noch mehr Bürokratie.
Aufwand für Betriebe nicht abschätzbar
Zumindest im Bau, einer Branche, in der immer wieder von „Lohndumping“ die Rede ist, könnte man Zustimmung für das geplante Gesetz erwarten. Udo Pauly, Kommunikationschef des Münchner Bauunternehmens PORR GmbH & Co. KGaA, äußert sich differenziert. Natürlich erhoffe sich PORR als tarifgebundenes Unternehmen im Bieterverfahren mit der Pflicht zur Tariftreue Vorteile. Nur sei nicht klar, welchen Aufwand das Gesetz bedeute.
„Mich erinnert das an das Lieferkettengesetz. Man hat ein gutes Ziel, aber mit der Zeit stellt sich heraus, wie kompliziert die Umsetzung wird“, sagt Pauly. Für ihn ist entscheidend, wie die Tariftreue der Nachunternehmen nachgewiesen werden soll. „Irgendjemand muss die Daten liefern. Man kann nur hoffen, dass es dafür einen schlanken, möglichst digitalen Prozess geben wird.“
Rechtslage wird unübersichtlicher
In Münchens Weltkonzern Siemens AG kennt man sich mit Staatsaufträgen für Schlüsselbranchen bestens aus. Eine Konzernsprecherin macht klar, wie wenig ihr Haus von dem Gesetz hält. Es sei „überflüssig“, „bürokratisch belastend“ und mache die Prozesse komplizierter und teurer. Siemens fordert eine „deutliche Anhebung des Schwellenwerts“ und eine Begrenzung der Haftung für Nachunternehmer.
Bedenken gibt es selbst dort, wo man es nicht vermutet. „Was kann das Bundestariftreuegesetz?“ Diese Frage diskutierte man 2024 in der DGB-eigenen Hans-Böckler-Stiftung. Liest man die Zusammenfassung, kann von Euphorie keine Rede sein. Der Tarifexperte Thorsten Schulten machte klar, wie schwierig die Umsetzung werde. So wüssten die Vergabestellen häufig nicht, welche Tarifverträge gelten würden. Das neue Bundesgesetz mache die Rechtslage noch unübersichtlicher.
Unterschiedliche Regelungen in den Ländern
Das Problem: Nur Sachsen und Bayern haben kein Tariftreuegesetz. Alle anderen Bundesländer haben eine Regelung oder arbeiten an einer. Es gibt Unterschiede bei den Schwellenwerten, in einigen Ländern gelten Vorgaben nur für bestimmte Branchen, andere schreiben vergabespezifische Mindestlöhne vor. In den meisten Bundesländern mit Tariftreueregelung wird für den Verkehrssektor eine umfassende Tariftreueerklärung verlangt. Auf Anhieb blickt da keiner durch.
Zudem fehlt es an Transparenz und Personal, um zu prüfen, ob und wie im jeweiligen Bundesland die Tariftreueregelung auch umgesetzt wird. Der Berliner Senat konnte 2024 die Frage nicht beantworten, ob das landeseigene „Ausschreibungs- und Vergabegesetz“ ein Erfolg ist. Dafür fehlte die Datengrundlage. Ob der Aufwand für die Tarifbindung etwas bringt, ist zweifelhaft. In Nordrhein-Westfalen, das seit Jahren Tariftreueregelungen hat, ist die Tarifbindung der Betriebe seit 2014 von 36,6 auf 25 Prozent gesunken.
Wettbewerbsfähigkeit gefährdet
Mit dem Bundestariftreuegesetz reguliere Berlin die Vergangenheit, kritisiert Adél Holdampf-Wendel, Arbeitsrechtsexpertin beim Digitalverband Bitkom. In der IT-Branche werde nachweislich gut bezahlt, nur eben ohne Tarifvertrag. Das Gesetz werde es IT-Firmen schwer machen, an Bundesaufträge zu kommen. Die Bundesregierung müsse sich daher fragen, mit welchen Partnern sie Digitalisierung und E-Government vorantreiben wolle.
„Realitätsfern“ – so urteilt Philipp Bryxi über den Gesetzentwurf. Bryxi ist Mitglied des IHK-Regionalausschusses Landkreis München und des Fachausschusses Industrie und Innovation. In den Sitzungen dort werde kaum noch über die Höhe von Gehältern gesprochen. „Das große Thema ist heute die Wettbewerbsfähigkeit“, stellt Bryxi fest.
Gesetz nicht mehr zeitgemäß
Er sieht in dem Gesetzentwurf den Versuch der Regierung, tarifliche Vergütungsstrukturen „durch die Hintertür“ durchzusetzen. Für Bryxi ist das nicht mehr zeitgemäß. Nur wer entsprechend gute Gehälter bezahle, habe überhaupt noch die Chance, qualifizierte Fachkräfte zu bekommen. Für den Knackpunkt des Gesetzes hält Bryxi die Tatsache, dass es heute kaum noch möglich sei, die Vergütungsmodelle der Unternehmen miteinander zu vergleichen. „Das funktioniert allenfalls mit einem aufwendigen ‚Job-Grading-System‛“, sagt Bryxi.
Bundesrat: Wie votiert Bayern?
Ihm bleibt die Hoffnung auf den Bundesrat, der dem Tariftreuegesetz zustimmen muss. Spannend ist die Frage, wie sich Bayern dort verhält. Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) hat das Gesetz in gewohnter Schärfe als „wirtschaftsfeindlich“ kritisiert. Aus der Staatskanzlei hört man bislang nichts. Die CSU hat in den Koalitionsverhandlungen viel erreicht: Mütterrente, Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie, Steuerbefreiung für den Agrardiesel, mehr Pendlerpauschale. War jetzt die Union der SPD einen Gefallen schuldig?
Adidas schert aus
Die Welt dreht sich aber in die andere Richtung. Einen Tag nachdem die Regierung das Gesetz beschlossen hatte, scherte die Adidas AG aus dem Tarifsystem aus. Der Grund ist eher das Gegenteil von Lohndumping. Der Sportartikelhersteller gilt als Top-Arbeitgeber. Der Konzern erklärte, man beschäftige die besten Leute der Branche. Die seien nur zu halten mit „außergewöhnlichen“ Gehältern und Entwicklungschancen. Dafür seien Gewerkschaftstarife nicht flexibel genug.
IHK-Info: Bundestariftreuegesetz
Weitere aktuelle Informationen gibt es
- beim Bundesarbeitsministerium
- beim Auftragsberatungszentrum Bayern e.V. unter „Aktuelles“ und auf der Bundestariftreuegesetz-Seite inklusive Checkliste unten, die einen kostenfreien ersten Selbstcheck ermöglicht
- sowie auf der Website der IHK für München und Oberbayern