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Den Acker neu denken

Organic Garden AG ©
Von Fischzucht bis zum Gewächshaus – das Konzept der Biofarmen

Mit der Organic Garden AG will der Investor und Digitalexperte Martin Wild nichts weniger als die Landwirtschaft revolutionieren: Sie soll biologischer, nachhaltiger und smarter werden.

Gabriele Lüke, Ausgabe 05/2021

Er habe drei Leidenschaften, sagt Martin Wild (42), Vorstandschef der Organic Garden AG: gut essen und die Welt nachhaltiger und digitaler machen. Mit dem im September 2019 gegründeten FoodTech-Start-up Organic Garden verknüpft er diese drei Leidenschaften. Wild, der zuletzt als Innovationsvorstand der MediaMarktSaturn AG einen disruptiven Relaunch verpasste, wurde von dem Finanzexperten Martin Seitle (49) in das Projekt eingeladen – und sagte sofort zu. Darum geht es den beiden: Organic Garden soll die Menschen einer Region rund ums Jahr mit gesunden, frischen Lebensmitteln versorgen – und zwar in Bioqualität, nachhaltig und CO2 -neutral produziert, dabei smart unterstützt.

Wie das gelingen soll? Auf rund 20 bis 30 Hektar großen Farmen werden nach biologischen Vorgaben in klassischen Gewächshäusern und modernen Regalsystemen Gemüse, Obst und Pilze angebaut. In Aquakulturen wachsen Fische – Lachs und Zander – heran. Des Weiteren gibt es eine Algenzucht und ein Erdenwerk.

Wertstoffkreislauf

Die nötige Energie für diese und alle weiteren betrieblichen Prozesse wird komplett regenerativ in einem Holzkraftwerk sowie über Photovoltaik gewonnen. Wasser wird schonend eingesetzt, indem etwa das Reinigungswasser der Fischzucht zum Gießwasser fürs Gemüse wird. Alle Abfälle wie die Aschen aus dem Verbrennungsprozess oder die Grünabfälle werden zu Dünger oder Erde und fließen in den Wertstoffkreislauf zurück.

Auch die Weiterverarbeitung, Verpackung und der Transport der Waren sollen umweltfreundlich geschehen. Damit das alles funktioniert, werden sämtliche Prozesse digital gesteuert, überwacht und können so auch fortwährend optimiert werden. Dabei ist Wild wichtig: »Wir tun, was wir ankündigen – und machen dies überprüfbar, indem wir alles transparent veröffentlichen.«

Farmbeginn für 2023 geplant

2023 sollen die ersten Farmen ihren Betrieb aufnehmen. Jeweils bis zu 120 Mitarbeitende produzieren dann dort pro Jahr 2.000 Tonnen Gemüse und 500 Tonnen Fisch, so der Plan. Verkauft wird im Hofladen vor Ort, aber auch online, über Flagshipstores und Kooperationspartner. »Wenn wir insbesondere angesichts der klimatischen Entwicklung auch in Zukunft ganzjährig eine gesunde, gute und ausreichende Ernährung sicherstellen wollen, müssen wir neue Wege gehen«, sagt Wild.

Auch die Landwirtschaft brauche in diesem Sinne einen disruptiven Ansatz, der gängige Vorgehensweisen regional, nachhaltig und digital erneuere. »Wir bilden den Lebensmittelkreislauf ganzheitlich neu ab – von der Entstehung bis zum Verzehr. Gemüse aus ökologisch und sozial verheerendem Anbau, das noch dazu über lange Strecken importiert wird, muss obsolet werden«, fordert er.

Nachhaltige, abfallfreie Kreisläufe - keine neue Idee

Das, was Wild plant, ist nicht grundsätzlich neu. Schon die Azteken kombinierten Gemüseanbau und Fischzucht in nachhaltigen und abfallfreien Kreisläufen. Auch die ebenfalls Pate stehenden Indoor-, Vertical- und Smart-Farming-Konzepte, die den Gemüseanbau in geschlossene Container oder auf Hochregale verlegen und digital steuern, gibt es schon länger.

In den Vereinigten Staaten, in Asien und auch in Europa entstehen sogar immer mehr solcher Farmen, berichtet Sabine Wittmann (34), Wissenschaftlerin am Institut für Gartenbau der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. Dahinter stehen in den USA Firmen wie AeroFarms oder Plenty, in China YesHealth, in Singapur ComCrop. In Europa sind das englische Bridge Vertical Farming oder das dänische Nordic Harvest Anbieter. Das Münchner Dax-Unternehmen Infineon Technologies AG bringt sich als Zulieferer ins Spiel und bewirbt auf seiner Website LED-Konzepte für Indoor-Farmen. Das Berliner Start-up Infarm GmbH hat zudem die Idee vertikaler Minifarmen entwickelt, die direkt in oder an Supermärkten zu installieren sind.

Kreative Alternativen zur herkömmlichen Landwirtschaft

»Durch den Klimawandel, aber auch durch eine wachsende Erdbevölkerung gewinnen solche Konzepte zunehmend an Relevanz«, sagt Expertin Wittmann. Sie ergänzen die regionale Frisch- und Nahversorgung von immer stärker verdichteten Großstädten. Wo Böden trocken oder kontaminiert sind, stellen sie eine Alternative zur herkömmlichen Landwirtschaft dar.

Aber auch darüber hinaus bieten die neuen Ansätze pragmatische Lösungen: Singapur als Nationalstaat mit geringer eigener Fläche setzt neben konventionellem Vertical Farming auch auf den Anbau an Hauswänden und ermöglicht so seiner Bevölkerung eine von Importen unabhängigere, regionale Versorgung mit Gemüse und Obst. Für die Lebensmittel- oder die pharmazeutische Industrie können Indoor-Konzepte, weil sie witterungsunabhängig sind, Zutaten von stets gleichbleibender Qualität liefern.

»Zugleich können die Ansätze einen Beitrag zu Nachhaltigkeit leisten«, ergänzt Wissenschaftlerin Wittmann. Die Energie, die sie verbrauchen, kann in der Regel dezentral und regenerativ direkt vor Ort erzeugt werden, Pestizide sind überflüssig und Bioabfälle können im Optimalfall direkt in den Kreislauf zurückgeführt werden. Wittmann: »Indoor- oder vertikale Systeme sind also gut geeignet, die bestehende Lebensmittelversorgung gesund und relativ nachhaltig aufzustocken.«

Biobauern als Kooperationspartner gewinnen

Organic-Garden-Chef Wild hat in seinem Ansatz diese Konzepte noch weitergedreht. Dabei sieht er sich als Partner und nicht als Wettbewerber insbesondere der Biolandwirte: »Wir führen bereits Gespräche, wir möchten die Biobauern als Kooperationspartner gewinnen. Ihre und unsere Produktpaletten können sich ergänzen, insbesondere im Winter gleichen wir aus, was sie im Freien nicht erzeugen können; sie können ihre Produkte über unsere Vertriebskanäle verkaufen.«

Gespräche mit potenziellen Investoren laufen ebenfalls bereits. Eine Farm wird einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag kosten, insgesamt 50 Farmen sollen in Deutschland entstehen. »Investoren und auch Gemeinden oder Grundstücksbesitzer treten an uns heran«, freut sich Wild. Für drei Farmen stehe er in konkreten Verhandlungen mit den Flächeninhabern. Nicht zuletzt klopfen schon potenzielle Mitarbeiter und grüne Start-ups an, die ihre Zusammenarbeit anbieten.

»Sinnstiftendes Investieren und Arbeiten«

»Es geht mehr und mehr – und das hat Corona letztendlich bestärkt – um sinnstiftendes Investieren und Arbeiten. Wir bieten dazu die Möglichkeit«, so Wild. »Deshalb sind wir überzeugt, dass wir trotz der wirtschaftlich schwierigen Lage durch die Pandemie genügend Unterstützer und Mitarbeiter finden und den Starttermin 2023 halten werden.«

Flagshipstore am Viktualienmarkt mit Sternekoch

Einen einflussreichen neuen Weggefährten gibt es bereits: Der Sternekoch Holger Stromberg (49) hat im Januar 2021 die Funktion des Chief Culinary Officer übernommen. Er hat den ersten Flagshipstore am Viktualienmarkt in München mitvorangetrieben, der in diesem Frühjahr eröffnen und mit gesunden veganen Hotdogs einen Vorgeschmack auf die Qualität von Organic-Garden-Produkten geben soll. Gemeinsam arbeiten Wild und Stromberg auch an Konzepten für eine bessere Verpflegung in Schulen, Pflegeeinrichtungen und Unternehmenskantinen. Stromberg ist wie Wild überzeugt: »Gemeinsam können wir eine Ernährung etablieren, die gleichermaßen Mensch und Natur zugutekommt.«

IHK-Service: Was ist was? Alternative Farming-Konzepte

Der übergreifende Begriff für die neuen Konzepte ist Urban Farming. Hierunter fallen alle Anbaumethoden im städtischen Raum: im Freien oder in Räumen, in Gärten, auf dem Dach, an Hauswänden oder wo auch immer.

  • Unter Indoor Farming ist der Pflanzenanbau in geschlossenen Containern, Lagerhallen und im Gewächshaus auf primär einer Ebene zu verstehen.
  • Vertical Farming steht dagegen für den Anbau in mehrlagigen Systemen wie Hochregalen oder pyramidenartigen Strukturen.
  • Indoor Vertical Farming kombiniert den Anbau in geschlossenen Räumen (Lagerhallen, Containern) mit mehrlagigen Systemen.
  • Smart Farming bedeutet, dass der Anbau mit digitaler Technik unterstützt wird. »Seit Erfindung der LED-Beleuchtung vor rund 30 Jahren können insbesondere Indoor-Konzepte ihr Potenzial neu entfalten«, erläutert Sabine Wittmann, Wissenschaftlerin am Institut für Gartenbau der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. »Das LED-Licht liefert den Pflanzen in geschlossenen Räumen die nötige Helligkeit inklusive des je nach Wachstumsphase passenden Lichtspektrums. Auch die im Gegensatz zu älteren Belichtungssystemen mit hoher Wärmeabstrahlung geringere Wärmeabgabe bei LED ist vorteilhaft für den Anbau.«
Stichwort: Indoor Vertical Farming - es sprießt im Supermarkt

Dass frisches Grün sogar im Supermarkt wachsen kann, will die &ever GmbH zeigen. Das Münchner Unternehmen hat sich auf Indoor Vertical Farming spezialisiert, ist seit 2015 auf dem Markt und betreibt eine große Vertical-Farming-Anlage in Kuwait. Weitere sind im Bau.

In einer neuen Edeka-Filiale in Unterföhring hat das Unternehmen kürzlich einen sogenannten
Grow Tower in Betrieb genommen. In der Anlage wachsen auf etwa 70 Quadratmetern auf mehreren Ebenen Salate, Kräuter und Kressen. Der Grow Tower ist voll klimatisiert, soll ohne Pestizide auskommen und bis zu 95 Prozent weniger Wasser brauchen als der Anbau auf dem freien Feld.

Erntereife Pflanzen wandern in der Anlage automatisch nach außen und werden in den Verkaufsraum gebracht. Die Kunden können das frische Grün in kleinen Töpfen kaufen und zu Hause ernten. Der Preis soll auf dem Niveau von Bioprodukten liegen. Die Anlage in Unterföhring ist die Erste ihrer Art in Europa.

 

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