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Die Passionierten

Passionsspiele Oberammergau/Arno Declair ©
Abendmahl – eine Szene aus den Passionsspielen 2010

Die Oberammergau Festspiele sind auf 2022 verschoben. Für manche Einwohner ist das doppelt bitter – als Künstler und als Unternehmer.

Ausgabe 05/2020, Cornelia Knust

Anton Preisinger (51) sollte den Pilatus spielen. Der Inhaber des Hotels Alte Post in Oberammergau ist auf die Richterrolle quasi abonniert. Nun tut es dem Unternehmer besonders für seinen Sohn leid, dass die Festspiele wegen des Coronavirus erst 2022 stattfinden. Denn Anton Junior (21) hätte erstmals den Johannes gespielt. Da alle Hauptrollen doppelt besetzt sind, hätten Vater und Sohn, die 5. und 6. Generation des wohl ältesten Oberammergauer Gasthauses, sich geschickt organisiert, um die Gäste auf den 250 Plätzen im Restaurant und den 100 auf der Terrasse der Alten Post zu bedienen. Doch nun kommen nicht einmal die normalen Gäste, denn das Hotel ist wegen der Pandemie geschlossen.

Das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen hatte die Passionsvorbereitungen am 19. März 2020 in vollem Lauf gestoppt. Die Premiere soll jetzt laut Gemeinderatsbeschluss am 14. Mai 2022 stattfinden. »Das ist eine Riesenenttäuschung«, sagt Preisinger. »Man spürt eine große Leere und Lethargie. Man zwingt sich, Förderanträge auszufüllen, sonst kann man sich fast zu nichts motivieren. « Für die Preisingers gilt wie für fast alle Unternehmer in der 5.500-Einwohner-Gemeinde Oberammergau: Die »Passion« ist nicht nur ein gutes Geschäft, sie ist eine Leidenschaft.

Gutes Geschäft, aber vor allem Leidenschaft

Die meisten Menschen in diesem Ort scheinen ihr eigenes Leben im Rhythmus der zehn Jahre zu erinnern, in dem die Passionsspiele stets stattfinden. Herr über die Spiele ist die Gemeinde, die sich in Festspieljahren über eine halbe Million Besucher freut. Rund die Hälfte von ihnen bucht gleich ein Arrangement aus Ticket, Übernachtung und Menü, das einfach über die Gastgeber verteilt wird. Die Passionsspiele gehen auf die Zeiten der Pest im 17. Jahrhundert zurück, als die Bevölkerung sich zu dieser Darbietung im 10-Jahres-Abstand verpflichtete, um die tödliche Seuche abzuwenden – mit Erfolg, wie es heißt.

Das Gelübde an den Herrgott hat 2020 gegen Corona nicht gewirkt. Die rund 100 Aufführungen zwischen Mai und Oktober sind abgesagt. Die Gemeinde muss sich jetzt um die Erstattung oder Neudatierung der Eintrittskarten kümmern, den tatsächlichen Schaden beziffern (er wird genau erst 2022 feststehen) und ihre Ausfallversicherung aktivieren (maximal 24 Millionen Euro). Viele andere haben diese Chance nicht. Hotelchef Preisinger hatte nicht nur seine Rolle gelernt. Auch sein Haus war längst »auf Passion umgeschaltet«. Einige seiner 38 Zimmer hat er renoviert, das Restaurant um einen Wintergarten erweitert, Servicepersonal und Küche um 15 Personen aufgestockt. Die Investitionen von 300.000 Euro, die teils aus den erwarteten Umsätzen getilgt werden sollten, muss er jetzt umfinanzieren. Die 15 Zusatzkräfte hat er entlassen, die Stammbelegschaft ist in Kurzarbeit.

Die Gagen für die Darsteller der Passion fließen ebenfalls nicht. Verschwunden ist zudem das schöne Gemeinschaftsgefühl, das bei den vielen Proben entsteht. Immerhin spielt die engste Truppe auch außerhalb des Festspielbetriebs Stücke und Opern unter dem Dach der privaten Passionstheater GmbH. Keiner weiß, wann solche Großveranstaltungen wieder möglich sein werden.

Vor Enttäuschung »umgehauen«

Spielleiter Christian Stückl, im Hauptberuf Chef des Münchner Volkstheaters und gebürtiger Oberammergauer, wünschte sich nach der Absage der Spiele vor lauter Trauer nach Indien. Seit 30 Jahren sind mit ihm Profis am Werk. Obwohl Laien spielen, ist der Anspruch hoch. Und der religiöse Unterbau fehlt auch nicht: Die 21 Hauptdarsteller brechen im September vor Probenbeginn traditionell zu einer Reise ins Heilige Land auf. Schon vorher, seit Aschermittwoch, gilt der »Haar- und Barterlass«. Dann lassen alle Teilnehmer alles wachsen.
Nun ist das hinfällig. Doch wegen Corona haben die Friseure bis voraussichtlich 4. Mai geschlossen.

Im Friseursalon Kretschmar, den Katharina Daisenberger (33) vor drei Jahren von ihrer Mutter übernommen hat, gibt es gerade kein Schneiden, Färben und Strähnen. Ein pensionierter Mitarbeiter hat vor der Coronakrise an ausgewählten Tagen sogar Bartpflege angeboten – mit Messerrasur. Verlassen hängt das Foto von 1934 an der Wand. Da stehen an einem Herbsttag die haarigen Burschen bei Urgroßvater Kretschmar (1925 aus Schlesien eingewandert) Schlange und strömen auf der anderen Seite mit Kurzfrisur wieder aus dem Laden. »Das ist immer so eine tolle Stimmung, so eine besondere Zeit«, bedauert Mutter Daisenberger den nun ausbleibenden Ansturm im Herbst. Sie hofft auf die Treue der Stammkunden: »Es laufen noch etliche herum mit ihrer Matte.« Die Enttäuschung habe sie regelrecht umgehauen, wollte sie doch selbst im »Volk« mitspielen und habe »gehofft und gehofft«.

Doch schon die Proben mit mehreren Hundert Menschen wurden unmöglich. Auch Orchester (55 Instrumentalisten) und Chor (100 Personen) konnten nicht mehr gemeinsam probieren. Und in den Werkstätten für Kostüme und Bühnenbilder an der Rückseite vom Festspielhaus, dort wo ausschließlich Einheimische unentwegt nähten, malten, formten und klebten, zog schrittweise Stille ein. Barbara Lampe hingegen macht in ihrer Werkstatt eisern weiter. Die Familie der 71-jährigen Keramikerin lebt seit fünf Generationen in Oberammergau. Nicht immer fühlte sie sich zugehörig. Etwa als die Festspielleitung 2010 die Krüge für die Tempelszene nicht bei ihr anfertigen ließ, sondern in Griechenland fertig einkaufte.

Die Töpferei arbeitet weiter

Dieses Jahr hat sie den Auftrag wieder, und will ihn erfüllen. 130 Amphoren zum Zerschmeißen, Stückpreis 230 Euro. Jesus höchst persönlich wird die kostbare Handarbeit Abend für Abend zerstören – nun eben erst ab Mai 2022. Lampe und ihre Söhne Tobias (eigentlich Forstwirt) und Benjamin (gelernter Kfz-Mechaniker und Töpfer) sind schon seit 22. Januar dieses Jahres im Produktionsmodus. Jede Nacht heizt der Brennofen hoch. Die Söhne heben morgens die getrocknete Amphore vom Vortag ins Regal. Dann schneiden sie wieder neuen Ton in dicke Scheiben und drücken ihn mit ihren Fäusten in die zweiteilige, metallverstärkte Gipsform.

»Es ist toll, Teil von diesem Projekt zu sein«, sagt mit leiser Wehmut Barbara Lampe, die ihre Werkstatt in diesem Jahr aufgeben will. »Ich liebe es zu spüren, dass man zusammen etwas bewirken kann. « Sie verkennt nicht die großen Probleme, aber sie schätzt auch die Stille, die Langsamkeit, die dieses Virus zeitigt: »Es zeigt uns: Wir sind verbunden und voneinander abhängig«, glaubt sie. »Für mich ist das der Anfang von einem Paradigmenwechsel. « Sie müsse gerade immerzu an die Szene in der Passion denken, wenn Jesus nach Jerusalem einzieht und ruft: »Denkt um!«

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