Einzelhandel: Zwangsläufig mehr digital, Perspektiven bis 2021
Corona belastet den Einzelhandel – aber nicht in allen Sparten. Die BBE Handelsberatung wagt Prognosen zur Umsatzentwicklung bis 2021. Geschäftsführer Joachim Stumpf erklärt, welche Konsequenzen Mittelständler daraus ziehen sollten.
Eva Elisabeth Ernst, Ausgabe 07/20
Herr Stumpf, die BBE Handelsberatung hat die Geschäftsaussichten verschiedener Einzelhandelssparten beleuchtet. Was waren für Sie die erstaunlichsten Ergebnisse?
Die Eindeutigkeit, mit der zu erkennen ist, dass die Coronakrise bestehende Strukturen nicht verändert, sondern den bereits vorher existierenden Strukturwandel beschleunigt, hat uns überrascht. Die Branchen mit den schwächsten Prognosen vor Corona, nämlich Spielwaren und Bücher, vor allem aber Mode und Schuhe, sind nun auch die größten Verlierer. Zudem gibt es keine Handelsbranche, die vor der Krise eine negative und durch die Krise nun eine positive Zukunftsprognose aufweist.
Gewinner sind die Branchen, die auch vor Corona eine positive Umsatzprognose hatten. Allerdings ist das Segment Bau-/Gartenmarkt/Do-it-yourself durch die Krise nun eindeutig besser gestellt. Denn der Lockdown hat bei vielen Menschen zu einer Rückbesinnung auf die eigenen vier Wände sowie Garten und Balkon geführt. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, branchen- und lagenspezifisch zu analysieren und nicht den gesamten Einzelhandel über einen Kamm zu scheren.
Wie hat sich Corona denn auf das Einkaufsverhalten der Kunden ausgewirkt?
Wir beobachten zwei gegenläufige Trends. Einerseits befassen sich seit Corona mehr Menschen mit den Möglichkeiten des Onlineeinkaufs. Andererseits stellen wir fest, dass die Wertschätzung für den stationären Einzelhandel als Kommunikationspunkt mit Servicequalität steigt. Kurzfristig fördert die Krise daher ohne Zweifel einen weiteren Digitalisierungsschub im Einzelhandel. Auch Akteure, die bislang skeptisch oder zögerlich waren, müssen nun umdenken. Sowohl die Verzahnung der Kanäle als auch das Aufladen von stationären Erlebnissen gewinnt an Bedeutung.
Grafik: Weniger Kunden, weniger Umsatz
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für klassische mittelständische Ladengeschäfte?
Zwangsläufig muss mehr Digitalisierung stattfinden. Dabei ist der Onlineverkauf aber nicht zwangsläufig nötig und richtig. Gerade Marktplätze sind unter Rentabilitätsaspekten schwierig. Daher ist es wichtig, etwaige Geschäftsmodelle in Abhängigkeit von der Branche und den eigenen Möglichkeiten genau zu prüfen. Die Digitalisierung bietet Optimierungsmöglichkeiten entlang der gesamten Wertschöpfungskette: von der Beschaffung über Hintergrundprozesse bis hin zum Controlling – aber vor allem im Bereich der Kundenservices und -kommunikation ergeben sich Chancen zur Profilierung.
Worauf sollten Multichannel-Händler achten?
Die große Herausforderung ist und bleibt die Orchestrierung und Integration der Kanäle. Auch hier ist die Frage, welche strategischen Ziele verfolgt werden. Der Onlinekanal ist nicht immer nur Vertriebsweg und kann auch nicht immer rentabel betrieben werden. Viele mittelständische Unternehmen nutzen diesen Kanal als digitales Schaufenster, was ihnen in der Phase des Lockdowns natürlich genützt hat.
Wie können mittelständische Händler Umsatzeinbrüche von bis zu 23 Prozent, die Sie im laufenden Geschäftsjahr zum Beispiel für den Schuhhandel prognostizieren, überleben?
Es hat sich schon in der Finanzkrise gezeigt, dass unsere mittelständische Struktur insgesamt relativ robust ist. Große Filialsysteme sind mitunter anfälliger. Gleichwohl werden viele Betriebe aus dem Markt scheiden. Die Krise beschleunigt den Ausleseprozess. Dies wiederum bietet all den Händlern Opportunitäten, die ihre Hausaufgaben machen. Denn unabhängig von der Branche entscheiden gute individuelle Konzepte und Standorte auch weiterhin über den Erfolg. In diesen dynamischen Zeiten ist zudem eine vorausschauende Planung wichtig. Viele der aktuellen Instrumente wie Kurzarbeit, Stundungen, Valutenverlängerungen helfen ebenfalls – aber meist nur für eine gewisse Zeit, in der die Kosten aufgeschoben werden. Hier sind rechtzeitig auch nachhaltige Kostenanpassungen nötig.
Grafik: Prognose zum Einzelhandel unter Corona-Einfluss
Wie können Händler ihre Widerstandsfähigkeit gegen Krisen verbessern?
Ein exogener Schock wie Corona lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Doch auch in diesen Fällen sind die generelle Resilienz eines Unternehmens und eine größtmögliche Flexibilität wichtig. Auch in guten Zeiten müssen die Strukturen fortlaufend auf Effizienz und Effektivität überprüft werden. Selbst wenn die Stammkundschaft womöglich den persönlichen Kontakt und die Beratung vor Ort schätzt, zeigt die aktuelle Krise, dass eine funktionale Unternehmenswebsite als alternativer Vertriebskanal Gold wert sein kann. Darüber lassen sich Kunden im Übrigen auch über neue Öffnungszeiten oder Schutzmaßnahmen informieren.
Sinnvoll können auch Zusammenschlüsse mit anderen Händlern, etwa im selben Straßenzug oder in der Nachbarschaft, sein. Erst im Krisenfall schnell eine Website oder ein Bündnis zum Standortmarketing aus dem Boden zu stampfen, ist mehr als schwierig.
Wie können Betreiber von Shoppingcentern und Vermieter von Handelsimmobilien den Einzelhandel jetzt unterstützen?
Sie sollten nicht warten, bis Einzelhändler in Not den schweren Schritt wagen und um Mietreduzierungen bitten. Stattdessen sollten sie aktiv das Gespräch suchen, bei dem sowohl kurzfristige als auch grundsätzliche Fragen geklärt werden: Passen Immobilie und Händler langfristig zueinander? Welche Unterstützung über Mietstundungen hinaus ist sinnvoll? Möglich sind zum Beispiel stärkere Umsatzkomponenten in den Mietverträgen, kostenlose Werbemöglichkeiten am oder im Objekt sowie kreative Flächenzwischennutzungen oder Sonderverkaufsaktionen.
Zur Person
Joachim Stumpf (58) ist seit 1988 Unternehmensberater und seit 2007 Geschäftsführer der BBE Handelsberatung GmbH in München, die über Niederlassungen in Hamburg, Berlin, Köln, Leipzig und Erfurt verfügt. Zudem ist er Geschäftsführer und Gesellschafter der IPH Handelsimmobilien GmbH und der elaboratum New Commerce Consulting GmbH.