Standortpolitik

Essen hat Wert

etepetete GmbH ©
Retten krummes Obst und Gemüse – Etepetete-Gründer Georg Lindermair (l.) und Christopher Hallhuber

Viele Lebensmittel sind zu gut für die Tonne – und landen doch im Abfall. Die Bundesregierung will dies verhindern. Erfinderische Unternehmen liefern die Lösungen dazu.

Gabriele Lüke, Ausgabe 06/2021

Rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland pro Jahr auf dem Müll. Viel zu viel, befand 2019 das Bundesernährungsministerium und entwickelte die Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung.

Diese Strategie versteht sich als Beitrag zur UN-Nachhaltigkeitsagenda und hat zwei Ziele: Bis 2030 will sie auf Einzelhandels- und Verbraucherebene die Pro-Kopf-Menge der weggeworfenen Lebensmittel halbieren und zudem für weniger Lebensmittelabfälle entlang der Produktions- und Lieferkette sorgen. Um die nötigen Maßnahmen zu entwickeln, berief das Ministerium Dialogforen entlang der gesamten Wertschöpfungskette ein: für die Primärproduktion, die Verarbeitung, den Groß- und Einzelhandel, die Außer-Haus-Verpflegung sowie für die privaten Haushalte.

Erster Zwischenbericht von 22 führenden Unternehmen

Das Dialogforum Groß- und Einzelhandel, an dem 22 Unternehmen – darunter alle großen Lebensmittelketten – teilnehmen, hat nun den ersten Zwischenbericht vorgelegt. »Auch wenn noch Luft nach oben ist – es werden schon einige praktische Ideen umgesetzt und entfalten Dynamik«, urteilt Nora Brüggemann (43), Autorin des Berichts und Projektkoordinatorin bei der Collaborating Centre on Sustainable Consumption and Production gGmbH (CSCP) in Wuppertal. Groß- und Einzelhandel haben sich unter anderem folgende Maßnahmen vorgenommen: Der Handel

  • optimiert die Warenverfügbarkeit und Mengenplanung in Hinblick auf Abfallvermeidung,
  • testet neue Verfahren, um Lebensmittel auf natürliche Art haltbarer zu machen,
  • versucht, die Bereitschaft der Verbraucher zu erhöhen, krummes Gemüse oder Lebensmittel nah am Mindesthalt-barkeitsdatum zu kaufen,
  • verstärkt die Weitergabe noch haltbarer Lebensmittel an Bedürftige etwa über soziale Organisationen wie die Tafeln.

Wie das konkret funktioniert, zeigt zum Beispiel die Rewe Group: In Rewe- und Penny-Märkten helfen moderne digitale Bestellsysteme zusammen mit der kaufmännischen Erfahrung der Mitarbeiter, das Angebot und die Beschaffung besser zu disponieren, um weniger wegwerfen zu müssen. Lebensmittel, die nicht mehr verkauft, aber noch gut verzehrt werden können, gehen kostenlos an die Tafeln.

Zudem sensibilisiert das Unternehmen die Verbraucher mit Tipps zur Lagerung von Lebensmitteln und zur Resteverwertung. Produkte aus dem Frische- und Convenience-Bereich mit nahendem Mindesthaltbarkeitsdatum werden entsprechend gekennzeichnet und reduziert angeboten.

Besonders innovative Ideen, um die Vernichtung von Essbarem zu stoppen, kommen von einigen jungen Unternehmen, die zum Teil ebenfalls Mitglieder im Dialogforum Groß- und Einzelhandel sind:

Etepetete GmbH: Krummes Gemüse

Auf die Rettung von Obst und Gemüse, dessen Aussehen nicht gängigen Normen entspricht, hat sich die Münchner etepetete GmbH spezialisiert. Ihre Gründer kaufen Bio-Bauern krummes, aber auch unsortiertes Gemüse ab, vermarkten es online und liefern es nachhaltig verpackt und klimaneutral aus. Mittlerweile hat das Unternehmen schon viele Gemüseretter überzeugt und konnte so seit 2015 rund 3,5 Millionen Tonnen Obst und Gemüse davor retten, wegen vermeintlich ästhetischer Mängel aussortiert und vernichtet zu werden. »Indem wir Wahrnehmungs- und Kaufgewohnheiten verändern, reduzieren wir auch Verschwendung«, freut sich Mitgründer Georg Lindermair (31).

Dörrwerk GmbH: Lebensmittel upcyceln

Ob schief gewachsenes Gemüse oder Lebensmittelreste, die in der Produktion etwa beim Wechsel von glutenhaltigen auf glutenfreie Nudeln oder von Zartbitter- auf Vollmilchschokolade anfallen – die Dörrwerk GmbH in Berlin kauft die Reste auf und macht daraus neue Lebensmittel, die sie unter dem Markennamen »Retter-gut« mittlerweile in vielen Handelsketten verkauft. Von Drinks über Streichcreme und Suppen bis zu Mixschokolade.

Seit der Gründung 2019 bewahrte das Unternehmen durch dieses Upcycling bereits mehr als 150 Tonnen Lebensmittel vor der Vernichtung. »Wir freuen uns über neue Lieferanten, um noch vielen weiteren aussortierten, aber noch verwertba-ren Lebensmitteln zu neuem Format zu verhelfen«, betont Firmensprecher Philip Koloczek (37).

»Du bist hier der Chef! Die Verbrauchermarke« e.V.: Eigene Marken entwickeln

Wie Lebensmittel hergestellt werden – fair und bio – und wie viel sie kosten sollten, dies bestimmt beim Portal »Du bist hier der Chef! Die Verbrauchermarke« e.V. die (wachsende) Community selbst. Ist das Voting abgeschlossen, sucht der Verein Erzeuger und Hersteller, die die Lebensmittel wie gewünscht produzieren, und bringt sie dann als Verbrauchermarke »Du bist hier der Chef!« in den Handel. In Deutschland gibt es Milch, bald auch Eier unter dem Label.

In Frankreich, woher die Idee stammt, sind es bereits über 30 Basis-lebensmittel. »Mehr und mehr Verbraucher wollen genauer wissen, was sie eigentlich essen, und sind bereit, für besseres Essen mehr zu bezahlen. Hier setzen wir an«, erklärt der Vereinsvorsitzende Nicolas Barthelmé (46). »Eine solche Haltung steigert zudem die Wertschätzung für die Lebensmittel – und senkt die Verschwendung.«

Sirplus GmbH: Shops für gerettete Waren

Eine eigene Handelsstruktur für gerettete Lebensmittel baut seit 2017 Raphael Fellmer (37) auf. Er betreibt in Berlin mit seiner Sirplus GmbH einen Onlineshop und mehrere stationäre Rettermärkte. Dort finden Verbraucher Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeit teilweise zwar abgelaufen ist, die aber geprüft wurden und noch bestens genießbar sind, oder die vernichtet worden wären, weil das Design veraltet ist. Sirplus bezieht die Ware von knapp tausend Großhändlern und Herstellern. »Lebensmittelrettung muss, damit sie wirkt, ein Mainstreamthema werden.

Dazu braucht es aber auch einen Zugang zu den Lebensmitteln. Über unseren Onlineshop ermöglichen wir jedem in Deutschland, von zu Hause aus mitzuretten«, sagt Fellmer. »Die Tafeln, die Bedürftige versorgen, gehen jedoch immer vor. Sirplus ergänzt deren wichtige Arbeit nur.«

Kapuzinerhof: Speisekarte gemäß Prinzip »Von der Nase bis zum Schwanz, vom Blatt bis zur Wurzel«

Der Chefin des Seminar- und Kongresshotels Kapuzinerhof in Laufen, Sina Fingerhut (60), ist Nachhaltigkeit schon lange ein Anliegen. Ihre Küche bietet seit jeher Speisen aus saisonalen und regionalen Lebensmitteln an. Nun wird sie zudem das Prinzip »Von der Nase bis zum Schwanz, vom Blatt bis zur Wurzel« umsetzen, vom Tier, Obst und Gemüse alles zu verwenden, was möglich ist. Fingerhut kauft bei ihrem Landmetzger also nicht mehr nur Filet, sondern gleich das ganze Rind oder Schwein. Und aus dem Grün etwa von Möhren macht sie noch schmackhaftes Pesto. »Weggeworfen und verschwendet wird nichts mehr. Die Speisekarte passe ich entsprechend an.«

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