Innenstädte: Es brummt wieder

Der Trend zum Onlineshopping hat ihr ebenso zugesetzt wie die Lockdowns der Coronakrise: Wie lässt sich aus der Innenstadt wieder eine pulsierende Mitte machen? Was entstehen kann, zeigt das Beispiel Neuötting.
Eva Elisabeth Ernst, Ausgabe 11/2021
Leer geräumte Schaufenster und auffällig viele »zu vermieten«-Schilder. Weil immer mehr Kunden lieber im Internet ordern, als im Laden zu kaufen, müssen in vielen Städten Einzelhändler aufgeben. Je mehr Geschäfte aber schließen, desto schwächer wird die Anziehungskraft der Innenstadt. Die Folge: Für die verbliebenen Geschäftsleute wird es noch ein Stück schwerer, genügend Kunden anzuziehen. Wie aber lässt sich eine solche Abwärtsspirale verhindern? Die Stadt Neuötting zwischen Mühldorf am Inn und Burghausen setzt auf ein ganzes Maßnahmenbündel, um die Innenstadt nicht veröden zu lassen. Sie demonstriert damit, wie das Zusammenspiel von kurz- und langfristigen Maßnahmen und die Beteiligung ganz unterschiedlicher Akteure wirken können.
Aktionen locken Besucher an
Lesungen, Kabarettaufführungen, Ferienaktionen für Kinder und viele, viele Live-Konzerte: Drei Wochen lang, von Ende Juli bis Mitte August dieses Jahres, bot die »Neuöttinger Sommerfrische« ein buntes Paket an Veranstaltungen, die alle auf dem Stadtplatz im Zentrum stattfanden. Auch wenn das Wetter in den ersten Tagen nicht ganz mitspielte, wurde das wichtigste Ziel, das sich die Stadt Neuötting für ihre Sommerfrische gesteckt hatte, erreicht: Die Innenstadt mit ihrem lang gezogenen historischen Stadtplatz war nach den langen Monaten des Lockdowns wieder voller Leben. Davon profitierte nicht zuletzt der Einzelhandel. »Wir sind derzeit sehr zufrieden – sowohl mit den Frequenzen als auch mit den Umsätzen«, freut sich Andreas Ganzbeck, Geschäftsführer des gleichnamigen Modehauses, das 1780 in Neuötting gegründet wurde.
Mit 2.200 Quadratmetern Verkaufsfläche im Stammhaus am Stadtplatz ist Mode Ganzbeck Platzhirsch und wichtiger Frequenzbringer. Schräg gegenüber betreibt Ganzbeck noch ein weiteres, kleineres Geschäft mit Wäsche und Kinderbekleidung plus Café. »Während sich die Innenstadt nach dem ersten Lockdown nur langsam wieder belebte, ging es diesmal sehr schnell«, berichtet Ganzbeck. »›Die Sommerfrische‹ war dabei sicher hilfreich. Doch es gab natürlich auch Nachholeffekte. Und die Kunden freuen sich, dass sie die Ware wieder anfassen, anprobieren und gleich mitnehmen können.«
IHK-Service: Tipps zur Innenstadt-Entwicklung
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Social media für die Kundenbindung
Während der Lockdowns hielten Ganzbeck und sein Team mit regelmäßigen Newslettern sowie Posts auf Instagram, Facebook und WhatsApp Kontakt zu den Kunden und nutzt diese Kanäle auch für den Verkauf. »Umsatzmäßig war das allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagt Ganzbeck. »Aber es hat die Kundenbindung gestärkt und dafür gesorgt, dass die Leute jetzt wieder in unsere Ladengeschäfte kommen.«
Die Mischung muss stimmen
Dass sich der Stadtplatz so rasch wieder mit Einkäufern und Passanten gefüllt hat, führt er allerdings auch auf dessen ganz besonderes Flair zurück: »Im Grunde ist der Stadtplatz mit seinen Arkaden und den barocken und klassizistischen Fassaden ein sehr schönes historisches Shoppingcenter. Es gibt Textil- und Modegeschäfte, aber auch eine Vielfalt an inhabergeführten Läden anderer Branchen, darunter gleich mehrere Magnetbetriebe«, erklärt Ganzbeck. »Und diese Mischung gefällt den Leuten.«
Wirtschafts-Interessens-Gemeinschaft Neuötting e.V. (WINN)
Einen großen Beitrag zur gesunden Neuöttinger Mischung leistet die Wirtschafts-Interessens-Gemeinschaft Neuötting e.V. (WINN), zu deren Mitgliedern über 100 mittelständische Einzelhändler, Dienstleister, Gastronomen und Handwerker zählen. »WINN ist ein ausgesprochen aktiver Verein«, sagt Modehaus-Chef Ganzbeck. Schon vor rund 15 Jahren führte der Gewerbeverein den »Winner« ein, ein gutscheinbasiertes Bezahlsystem: Jeder Winner hat einen Gegenwert von zehn Euro und kann bei den teilnehmenden Partnerbetrieben eingelöst werden. Für die Unternehmer fallen keinerlei Gebühren an. »Die Winner erfreuen sich großer Beliebtheit als Geschenk«, sagt WINN-Vorsitzende Verena Mayer. »So erhalten zum Beispiel die Einser-Abiturienten von der Stadt Neuötting Winner.«
Zudem werden Winner im Wert von 10.000 Euro bei der jährlichen Adventstombola verlost, die von WINN veranstaltet wird. Die Lose gibt es in den Geschäften, die sich über die zusätzliche Frequenz freuen. Die Erlöse kommen sozialen Projekten zugute. Äußerst beliebt ist auch der italienische Schmankerlmarkt, den WINN vor Corona jährlich auf dem Stadtplatz organisierte. Dort gab es von Freitag bis Sonntag Marktstände mit italienischen Spezialitäten, die zum Teil gleich vor Ort genossen werden konnten. Über die zahlreichen Besucher freuten sich auch die ansässigen Händler und Dienstleister, die an diesem Marktsonntag ihre Geschäfte öffnen durften.
Aktion »Wir erstatten das Trinkgeld«
Um die Gastronomie zu unterstützen, startete WINN gemeinsam mit der Stadt Neuötting die Aktion »Wir erstatten das Trinkgeld«, die im September in die zweite Runde ging. Die Stadtverwaltung brachte 1.000 Stempelkarten in Umlauf, die Gäste bei den teilnehmenden Gastronomen vorlegen können. Pro zehn Euro Umsatz gibt es einen Stempel. Ist die Stempelkarte voll, kann sie bei der Touristinformation Neuötting gegen einen Winner im Wert von zehn Euro eingetauscht werden. Auch während der Lockdowns war WINN nicht untätig, wie die Vorsitzende betont. »Wir haben viel unternommen, um die Kunden unserer Mitglieder über Social Media zu erreichen.« Darüber hinaus organisierte der Gewerbeverband eine Sendung beim Lokalfernsehen und bewarb sich erfolgreich beim Coachingprogramm »Stadtmarketing« der Rid Stiftung, bei dem Händlergemeinschaften ein ganzes Jahr lang von einem erfahrenen Projektleiter der CIMA Beratung und Management GmbH begleitet werden.
Coronabedingt fand das Coaching vor allem online statt. »Bei der Analyse der aktuellen Situation und der Bedürfnisse für das Coaching zeigte sich sehr schnell, dass großes Interesse am Thema Digitalisierung besteht«, sagt Michael Seidel, Partner der CIMA München, der WINN im Auftrag der Rid Stiftung unterstützt. Als Hilfe zur Selbsthilfe ist zunächst eine Seminarreihe für die Mitgliedsunternehmen geplant. »Um Innenstädte lebendig zu halten, ist es wichtig, dass Händler und Dienstleister auch virtuell präsent sind«, betont Seidel. »Denn viele Kunden informieren sich vor dem Einkauf online – und zwar nicht nur über das Angebot und Aktionen vor Ort, sondern auch über Veranstaltungen, Verkehrsverbindungen und Parkmöglichkeiten.« Auch die Vorbereitung geplanter Käufe, so Seidel weiter, finde immer mehr im Internet statt: Die Kunden lesen dort Bewertungen, schauen sich Videos an und googeln bei Interesse nach Bezugsquellen in ihrer Region.
Die Läden sind online präsent
Aus dem CIMA-Coaching entstand die Idee, eine 450-Euro-Kraft einzustellen, die sich seit September dieses Jahres um die Social-Media-Kanäle von WINN kümmert. »Für uns als Verein ist das durchaus eine finanzielle Herausforderung. Aber es ist eben auch wahnsinnig wichtig, sich online gut zu präsentieren – und zwar nicht nur Schnäppchen, sondern auch Wissenswertes rund um die Stadt, inklusive Sport- und Kulturveranstaltungen«, sagt Mayer. Auch ihr Unternehmen Hut Mayer ist längst mit einer Website sowie auf Instagram und Facebook im Netz vertreten. »Wir machen viel mit Social Media und werden immer wieder auf einzelne Posts angesprochen«, sagt die Unternehmerin. »Das zeigt uns, dass wir unsere Kunden damit auch erreichen.«
Mayer leitet das Fachgeschäft für Kopfbedeckungen in dritter Generation. Seit der Gründung durch ihre Großmutter befinden sich Laden und Atelier, in dem auch eigene Kollektionen und Sonderanfertigungen hergestellt werden, am Stadtplatz.
Sehr zufrieden mit Onlinemarktplätzen
Die Lockdown-Monate nutzten sie und ihr Team, um den Onlineshop zu starten. Zudem verkauften sie auf Onlinemarktplätzen. Mit den Umsätzen aus dem E-Commerce ist Mayer sehr zufrieden. »Aber wir sind alle sehr froh und dankbar, dass wir jetzt wieder analog verkaufen können und unsere Kunden uns treu geblieben sind.« Die Frequenz auf dem Stadtplatz sei fast noch höher als vor der Pandemie, findet die Unternehmerin.
»Auf unserem Stadtplatz brummt’s wieder«, sagt auch Christoph Obermeier (60), Leiter Kultur und Stadtmarketing der Stadt Neuötting. Damit wurde das wichtigste Ziel der »Sommerfrische«, die von der Kommune in Abstimmung mit WINN entwickelt wurde, erreicht. Zur Finanzierung des dreiwöchigen Events war zunächst geplant, einen Zuschuss aus dem Sonderfonds »Innenstädte beleben« (mehr im Kasten unten) zu nutzen. »Leider kam der Genehmigungsbescheid nach dem Kampagnenstart, sodass wir die Mittel dafür nicht verwenden konnten«, bedauert Obermeier. Nun entscheidet ein Lenkungsausschuss, für welche Maßnahmen der mittlere fünfstellige Betrag ausgegeben wird.
Ideen dafür dürfte es auch bei WINN geben. Die Wirtschaftsgemeinschaft entstand aus dem Zusammenschluss von drei lokalen Gewerbeverbänden. »WINN ist für die Einkaufsstadt Neuötting elementar wichtig«, betont Obermeier. »Und zwar nicht nur für die Unternehmer in der Innenstadt, sondern auch für die Betriebe an der Peripherie und im Inn-Center.« Dabei handelt es sich um ein Einkaufszentrum mit Fachmärkten und großen Filialisten, das vor knapp 20 Jahren eröffnet wurde.
30 Minuten Autofahrt in Kauf nehmen für Einkaufserlebnis
Nahezu parallel dazu wurde der Stadtplatz aufwendig saniert. Entgegen den Erfahrungen in anderen Kommunen zog das Shoppingcenter auf der grünen Wiese keine Verödung der Innenstadt nach sich. »Stadtplatz und Inn-Center ergänzen sich«, sagt Obermeier. Dies bestätigt auch Modehaus-Unternehmer Ganzbeck. Er stellt fest, dass die Kombination aus inhabergeführten Fachgeschäften am Stadtplatz und dem Inn-Center mit seinen großflächigen Fachmärkten die Position Neuöttings als Einkaufsstadt in der Region stärkt. »Wie groß die Anziehungskraft ist«, so Ganzbeck, »belegt eine aktuelle Erhebung der BBE Handelsberatung. Sie ergab, dass die Kunden aus der Region bis zu dreißig Minuten Autofahrt in Kauf nehmen, um in Neuötting einzukaufen.«
Also alles perfekt in der Neuöttinger Innenstadt? »Natürlich nicht«, sagt Stadtmarketing-Leiter Obermeier. »Auch wir haben unsere Herausforderungen mit Durchgangsverkehr, Parkplätzen und Dauerparkern.« Und selbst am Stadtplatz gebe es einzelne leer stehende Ladengeschäfte. »Das liegt aber vorwiegend an deren Eigentümern, die unrealistische Mieten verlangen, nicht investieren oder auch gar nicht mehr vermieten möchten«, so Obermeier. »Mietinteressenten gäbe es durchaus.«
Sonderfonds »Innenstädte beleben«
Das Bayerische Wirtschaftsministerium unterstützt Kommunen im Freistaat bei der Belebung und Stärkung ihrer Innenstädte nach der Pandemie. Im Sonderfonds »Innenstädte beleben« stehen dafür 100 Millionen Euro zur Verfügung. Damit werden nicht nur Bauprojekte zur Steigerung der Aufenthaltsqualität gefördert, sondern auch städtebauliches Innenstadtmanagement mit Maßnahmen wie etwa Events von Standortgemeinschaften oder Verbesserungen der Stadtmöblierung.
Selbst die vorübergehende Anmietung leer stehender Räumlichkeiten durch die Kommune, Machbarkeitsstudien für die Restrukturierung von Einzelhandelsgroßimmobilien und bauliche Investitionen für Zwischennutzungen können mit Geldern aus diesem Projektfonds finanziell unterstützt werden. Weitere Informationen zum Sonderfonds zur Belebung der Innenstädte hier.
Studie »Elasticity«
Mehr als nur einkaufen
Wie muss eine Innenstadt aussehen, damit Menschen sie attraktiv finden? Aufenthaltszonen, kleine unterschiedliche Läden und Gastronomie gehören dazu, ergab eine aktuelle Umfrage.Im Rahmen der Studie »Elasticity« befragte das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation 1.200 Menschen, was sie sich von einer Innenstadt erwarten. 72 Prozent gaben an, dass sie sich auf jeden Fall eine Veränderung wünschten. Vorhandene Angebote wie Einzelhandel und Gastronomie sollten zwar fester Bestandteil der City bleiben. Es zeige sich aber, so die Studie, »dass die Mehrheit der Befragten sich vor allem kleine, auf bestimmte Themen spezialisierte Läden wünscht«. Es wachse außerdem die Nachfrage nach flexiblen Einkaufskonzepten, die »rund um die Uhr« verfügbar sind, und nach Abholstationen für vorbestellte Waren. Für fast die Hälfte der Befragten sind mehr Gastronomieangebote in der Innenstadt wichtig, dazu gehören neben Cafés und Restaurants auch Take-away-Angebote.