Standortpolitik

»Corona wirft uns zurück«

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Gerd Müller (65) ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, erklärt, warum die Coronakrise weltweit die Nachhaltigkeit stärken kann und er ein Lieferkettengesetz für notwendig hält. Er ist im September auch Keynote-Speaker des Bayerischen CSR-Tags.

Gabriele Lüke, Ausgabe 09/20

Herr Müller, das Coronavirus beutelt insbesondere die Entwicklungsländer. Welche Folgen erwarten Sie?

Neben der Gesundheitskrise führt die Pandemie bereits zu einer dramatischen Hunger- und Wirtschaftskrise weltweit: 100 Milliarden Dollar Kapital wurden in kurzer Zeit abgezogen. Globale Lieferketten brechen zusammen. Millionen Menschen haben so ihre Jobs verloren. Ohne Kurzarbeitergeld und Grundsicherung stehen sie buchstäblich auf der Straße. Viele Länder stehen kurz vor dem Staatsbankrott. Wie der Libanon, der 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. In der Sahel-Region nutzen Terroristen die Krise bereits für vermehrte Anschläge aus. Schon jetzt gibt es Unruhen und Flüchtlingsbewegungen.

Ihr Ministerium hat sofort ein Hilfsprogramm initiiert. Wo setzt es an?

Als Erstes haben wir im eigenen Haushalt Projekte umgesteuert und setzen so weltweit über eine Milliarde Euro zur Pandemiebekämpfung, Ernährungssicherung und Sicherung von Arbeitsplätzen ein. Im Irak bauen wir beispielsweise Behelfskrankenhäuser für 14.000 Patienten und verdoppeln so die intensivmedizinischen Kapazitäten im Land. In Äthiopien stellen unsere Experten die Produktion auf Millionen neuer Schutzmasken um. So bleiben Zehntausende Näherinnen in Arbeit.

Das wird aber nicht reichen, um die dramatischen Folgen der Krise abzumildern. Deswegen bauen wir das Corona-Sofortprogramm mit weiteren drei Milliarden aus. Ich bin sehr dankbar, dass diese Mittel aus dem Nachtragshaushalt gebilligt wurden. Durch Kooperationen mit der deutschen Wirtschaft verstärken wir dieses Engagement. Denn deutsche Firmen zeigen große Solidarität in der Krise. So haben wir etwa gemeinsam mit BMW und Volkswagen in Südafrika Tausende Krankenhausbetten und Hunderte mobile Sauerstoffanlagen für Covid-19-Patienten aufgebaut.

Zugleich wollen Sie der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern eine neue, nachhaltigere Qualität geben. Was heißt das genau?

Ich lege großen Wert darauf, unsere Maßnahmen und Mittel gezielt und wirksam umzusetzen. Wir können nicht überall tätig sein und müssen Schwerpunkte setzen. Deswegen steuern wir in einer Reihe von Staaten um: Einige Länder haben sich sehr positiv entwickelt und brauchen keine staatliche Unterstützung mehr. Das ist ja das Ziel unserer Arbeit.

Andere zeigen keine Fortschritte im Kampf gegen die Korruption, bei der Einhaltung der Menschenrechte oder bei guter Regierungsführung. Deswegen konzentrieren wir die Zusammenarbeit zwischen Staat und Staat auf 60 statt bisher 85 Länder.

Besteht nicht die Gefahr, dass bei der Reaktivierung der Wirtschaft die Nachhaltigkeit auf der Strecke bleibt?

Das wäre kurzsichtig. Wir können nach der Krise nicht so weitermachen wie vor der Krise. Die Ausbeutung von Mensch und Natur darf nicht die Grundlage einer globalen Wirtschaft und unseres Wohlstands sein. Das wäre ein Bumerang, der auf uns zurückschlägt. Zur Nachhaltigkeit gehören auch faire Lieferketten. Abgesehen davon, dass es hier weltweit noch viel zu tun gibt, wird das Thema jetzt in der Krise bei manch einem Unternehmen nicht unbedingt im Fokus stehen.

Zu Hause im Oberallgäu, in Lindau und Kempten, bekomme ich die Krise unmittelbar mit: Hoteliers, Busunternehmen, die vor dem Aus stehen. Es geht um Hunderttausende Arbeitsplätze, der Tourismus hat mehr Beschäftigte als die Automobilbranche. Darum hat die Bundesregierung schnell und umfassend Unterstützung bereitgestellt.

»150 Millionen Kinder schuften, obwohl es internationale Arbeitsnormen gibt.«

Wir brauchen eine starke Wirtschaft, um die globalen Herausforderungen zu meistern – etwa beim Klimaschutz oder für neue Arbeitsplätze für die Millionen jungen Menschen in Afrika. Aber die Lieferketten und Handelsbeziehungen müssen fair sein, mit Löhnen, von denen die Menschen in Entwicklungsländern auch leben können. Es kann doch nicht sein, dass noch immer weltweit 150 Millionen Kinder schuften, obwohl es international geltende Arbeitsnormen gibt. Das wollen wir ändern, mit fairen Standards in unseren Lieferketten.

Eine freiwillige Selbstverpflichtung für fairere Lieferketten ist keine Option?

Genau das war der Ansatz der Bundesregierung, als wir 2016 angefangen haben, die UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte umzusetzen. Aber nach zwei groß angelegten Befragungen von Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitenden ist klar: Freiwilligkeit führt nicht zum Ziel. Nur ein Fünftel der Unternehmen kennt seine Lieferketten – und die Risiken, die in ihnen stecken.

Jetzt erarbeiten wir in der Bundesregierung eine gesetzliche Regelung, um entlang der Lieferketten Kinderarbeit auszuschließen und grundlegende soziale Menschenrechtsstandards zu sichern. Das schafft gleiche Bedingungen für alle. Die Wirtschaft ist eingeladen, sich offen und konstruktiv einzubringen. Wir schützen so auch die vielen Vorreiterunternehmen in Bayern und Deutschland, die Standards schon jetzt umsetzen. Bei unserem staatlichen Textilsiegel "Grüner Knopf" machen beispielsweise große Einzelhändler wie Aldi, Lidl und Tchibo, aber auch Mittelständler wie Trigema oder Vaude mit und zeigen: Mindeststandards und zukunftssichere Arbeitsplätze – das passt zusammen!

Strengere Regeln gefährden die, die noch nicht fair und nachhaltig agieren, womöglich in ihrer Existenz – und ihre Partner in den Entwicklungsländern gleich mit. Wie lässt sich ein Übergang gestalten?

Eines ist klar: Wir gehen mit Augenmaß vor. Eine gesetzliche Regelung schafft keine unverhältnismäßigen Zusatzbelastungen. Das Gesetz soll für größere Unternehmen gelten. Es wird sicherlich auch Übergangslösungen geben. Und wir werden jedes Unternehmen, das dies möchte, beraten und unterstützen. Unternehmen sollten auch die Chancen sehen: Stabile, faire Lieferketten sind auch ein Weg aus der globalen Krise heraus.

Unterm Strich konstatiert die UN bei den globalen Nachhaltigkeitszielen, den SDG noch viel Nachholbedarf. Was kann Deutschland tun?

Die Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele geht viel zu langsam voran – und Corona wirft uns zurück. Ein Beispiel: Zum ersten Mal seit 30 Jahren steigt die extreme Armut wieder an. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit kann die Umsetzung der SDGs allein nicht leisten.

»Fairer Handel löst die größten Entwicklungssprünge aus.«

Deswegen setze ich auf vier Säulen: Erstens ist Eigeninitiative der Partner der Schlüssel für erfolgreiche Entwicklung. Zweitens fördern wir verantwortungsvolle Privatinvestitionen, denn neun von zehn Jobs schafft die Wirtschaft. Drittens setzen wir mit der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit Leuchttürme beim Innovations-und Technologietransfer – wie mit dem Bau des modernsten Solarkraftwerkes in Marokko. Die vierte Säule ist fairer Handel. Damit lösen wir die größten Entwicklungssprünge aus.

Mehr Infos und Anmeldung zum Bayerischen CSR-Tag hier.

Das Lieferkettengesetz - die Sicht der Wirtschaft

Das geplante Lieferkettengesetz soll zu mehr Schutz von Menschen und Umwelt in der globalen Wirtschaft führen und zum Beispiel Kinderarbeit, Ausbeutung, Diskriminierung oder Umweltzerstörung verhindern. »Die Ziele, die hinter einem Lieferkettengesetz stehen, teilen wir in der deutschen Wirtschaft«, sagt Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK). Zahlreiche Unternehmen fürchten in neuen gesetzlichen
Vorgaben jedoch bürokratische und finanzielle Belastungen.

Das gelte besonders jetzt, da viele Firmen mit den Folgen der Coronakrise zu kämpfen haben. Einige Unternehmen fordern eine gesetzliche Regulierung. Andere Unternehmen sind eher skeptisch und befürchten, die Erwartungen nicht seriös erfüllen zu können. »Wenn ein deutsches Unternehmen aus dem Mittelstand rechtlich verbindlich in Verantwortung dafür genommen wird, dass es noch zig Sublieferanten von Lieferanten kontrollieren soll, dann wird es das nicht leisten können«, so Schweitzer.

Überdies hätte ein Lieferkettengesetz möglicherweise Auswirkungen auf das Engagement deutscher Firmen in Afrika. Die rechtlichen Risiken könnten so hoch werden, dass noch mehr Unternehmen von einem Afrika-Engagement abgeschreckt werden«, warnt der DIHK-Präsident.

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