Kurswechsel

Das Sozialunternehmen VerbaVoice, Onlineanbieter für Schrift- und Gebärdensprachdolmetscher, geriet ins Trudeln. Wie es dem neuen Geschäftsführer gelang, mit einer innovativen Strategie die Firma vor dem Aus zu bewahren.
Harriet Austen, Ausgabe 06/20
Das ist selten: Ein Sozialunternehmen, das einen Turnaround schafft. »Wenn solche Organisationen in eine Schieflage geraten, lösen sie sich eher auf«, sagt Peter Kremer. Er ist seit rund zwei Jahren Geschäftsführer der VerbaVoice GmbH in München, eines internetbasierten Ferndolmetscherdienstes, der Hörgeschädigten den Alltag erleichtert. Ein vom Scheitern bedrohtes Sozialunternehmen wieder flottzukriegen »ist ungleich schwieriger als in der Wirtschaft, denn bei uns geht es um eine soziale Dienstleistung für Menschen«, argumentiert Kremer.
Als er sich 2016 als kaufmännischer Leiter bei der angeschlagenen Firma bewarb, reizte ihn genau das. Unternehmen mit sozialen Leitideen »kannte ich noch nicht«. Außerdem verriet ihm ein Blick in den Bundesanzeiger, dass sich Verlustvorträge im Millionenbereich aufgehäuft hatten. »Diese Sanierung würde ich gerne anpacken«, beschloss er mutig.
Anfangs ein Innovationspreis nach dem anderen
VerbaVoice wurde 2009 als Onlineplattform für Schrift- und Gebärdensprachdolmetscher gegründet. Per Internet zugeschaltete Übersetzer wandeln Sprache in Gebärden oder Text um. Dadurch bekommen schwerhörige oder gehörlose Kunden flexiblen und ortsunabhängigen Zugang zu Wissen und Information. Mit der innovativen Idee lag das Start-up voll im Trend. Bald galt VerbaVoice als Vorzeigeunternehmen, das einen Innovationspreis nach dem anderen abräumte.
Falscher Fokus
Allerdings war es sieben Jahre nach der Gründung noch immer nicht profitabel. »Das Management war schlicht und ergreifend mit der Führung des Unternehmens überfordert«, meint rückblickend Thomas Manitta, Beteiligungsmanager bei der Bayern Kapital GmbH und als Investor neben Social-Venture-Fonds und Privatinvestoren von Anfang an mit dabei. Der Fokus auf entwicklungsintensiven und kostspieligen Technologien entpuppte sich als Fehlentscheidung. Als sich die Verluste häuften, zogen die Gesellschafter die Reißleine. Ihre Bedingung: Entweder die Zusammenarbeit beenden oder es mit einer neuen Mannschaft versuchen, erklärt Manitta.
Mit Sanierungserfahrung
Kremer erklärte sich bereit, die Geschäftsführung zu übernehmen. Der gelernte Bilanzbuchhalter brachte Erfahrung in der Sanierung eines Maschinenbauunternehmens mit und hatte als kaufmännischer Leiter bei VerbaVoice längst erfolgreich mit dem Aufräumen begonnen. Kremer führte als Erstes ein ordnungsgemäßes Buchhaltungssystem nach DATEV ein, das für eine solide Zahlenbasis sorgte, eine Cash- und Liquiditätsplanung ermöglichte und der Firma wieder erlaubte, sich mit einem realistischen Budget an Ausschreibungen zu beteiligen. Handels- und Steuerbilanzen wurden korrigiert, Altfälle aufgearbeitet. »Es lag mehr im Argen, als ich dachte«, sagt Kremer.
"Gesellschaftlich relevantes Sozialunternehmen"
Er musste die Investoren überzeugen, nochmals Geld nachzuschießen – »ein mühsamer Vorgang«. Für Bayern-Kapital-Manager Manitta eine Gratwanderung, die er so beschreibt: Einerseits habe man Verantwortung für das investierte Kapital, andererseits will man »die Menschen nicht im Regen stehen lassen« und versuchen, schwere Zeiten gemeinsam zu meistern, »vor allem, wenn es sich um ein gesellschaftlich relevantes Sozialunternehmen handelt«.
Strategiewechsel und "Explosion"
Als Geschäftsführer hatte Kremer nun die Freiheit, »ganz viel ganz anders zu machen«. Gemeinsam mit einem Interimsmanager, der für Vertrieb und Marketing zuständig war, leitete er einen Strategiewechsel ein: Er führte eine Kostendeckungsrechnung ein und nahm die Verlustquellen genau unter die Lupe. Er verstärkte Digitalisierung und Automatisierung – zum Beispiel ein Kundenportal – und konzentrierte das Geschäft auf die Kernkompetenzen: schnelle, flexible und sichere Besetzung mit einem stetig wachsenden Dolmetschernetzwerk. Er setzte mehr auf margenstarke Umsatzträger wie den Veranstaltungs- und Politikbereich, der »im letzten Halbjahr nahezu explodierte«, freut sich der 45-Jährige.
"In allen Bereichen Inklusion und barrierefreie Teilhabe"
Das Unternehmen, das selbst gehörlose Mitarbeiter beschäftigt, ist in zwei Geschäftsbereichen aktiv: Im Sektor Bildung und Beruf bietet es Hörbehinderten in Schule, Ausbildung, Uni und Unternehmen Onlinedolmetscher an und wird von Sozialleistungsträgern finanziell gefördert. Im Bereich Politik, Events und Medien wendet es sich an Firmen und politische Gremien. »Unser Ziel ist es, in allen Bereichen Inklusion und barrierefreie Teilhabe zu ermöglichen«, betont Marketingleiterin Lara Dambon.
Geschäftsführer Kremer verlagert dabei den Schwerpunkt weg von der früher anvisierten Technologieführerschaft hin zu einer System-, Kommunikations- und Informationsführerschaft. Das bedeutet in der Praxis: die Plattform kundenfreundlich ausbauen, interne Programme vereinfachen und sich vor allem nicht verzetteln, sondern solide und nachhaltig wachsen.
Die Perspektive
»Langsam sind wir da, wo wir hinwollen«, findet Kremer, der voller neuer Ideen steckt. So hat VerbaVoice mit dem tauben Gebärdensprachdolmetscher einen neuen Berufszweig mit aufgebaut. Im Zuge der Digitalisierung wurde auch »ondo« gegründet, eine Online-Community für Menschen mit Hörbehinderung. Das Marktpotenzial ist vielversprechend. In Deutschland sind 80.000 gehörlose und rund 16 Millionen schwerhörige Menschen auf zusätzliche visuelle Informationen angewiesen.
"Kreativ und souverän über sich hinausgewachsen"
Bayern-Kapital-Manager Manitta bezeichnet den neuen Geschäftsführer als kreativ und souverän, »er ist über sich hinausgewachsen«. Im vergangenen Jahr konnten sich die Investoren zum ersten Mal über schwarze Zahlen und ein Wachstum von 20 Prozent freuen. Das Geschäftsmodell funktioniert, der Turnaround ist geschafft – fast, sagt Manitta vorsichtig. Da die Investments der beiden Beteiligungsfirmen beendet sind, muss es VerbaVoice jetzt aus eigener Kraft schaffen und sich selbst am Kapitalmarkt finanzieren. Doch Geschäftsführer Kremer ist zuversichtlich: »Wir haben keine verbrannte Erde mehr und fangen jetzt praktisch wieder bei null an. «