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Der Wert der Inklusion

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Stärken betonen, nicht Einschränkungen

Menschen mit Behinderungen sind wertvolle Mitarbeitende. Sie werden noch viel zu selten direkt rekrutiert. Wie Unternehmen das ändern können.


Von Gabriele Lüke, IHK-Magazin 09/2025

Die auticon Deutschland GmbH ist auf Dienstleistungen in der IT spezialisiert. Die Suche nach geeigneten Fachkräften ist für sie – wie für die gesamte IT-Branche – eine permanente Herausforderung. Das Unternehmen meistert sie auf ganz eigene Weise: Es sucht neue ITler ausschließlich unter Autisten. „Autismus ist bei uns, neben der IT-Kompetenz, Einstellungsvoraussetzung“, sagt Unternehmenssprecherin Ursula Schemm.

Bei Autismus handelt es sich um eine neurologische Entwicklungsstörung. „Das Gehirn vieler Autisten kann bestimmte Reize kaum filtern und priorisieren. Das stresst sie und schränkt sie ein, zugleich erkennen sie dadurch aber auch Fehler und Chancen in Projekten und Prozessen viel schneller“, erklärt Schemm. „Für uns sind sie ideale Mitarbeiter. Sie brauchen oft lediglich ein paar andere Bedingungen, um ihr ganzes Potenzial auszuleben.“

Aktive Rekrutierung

Unternehmen wie auticon sind ein gutes Beispiel dafür, dass es sich lohnt, die Stärken von Menschen zu betonen und nicht etwaige Einschränkungen. Tatsächlich haben Menschen mit Behinderung es auf dem ersten Arbeitsmarkt jedoch schwerer als Personen ohne Handicap: Laut Inklusionsbarometer 2024 der Förderorganisation Aktion Mensch e.V. sind sie mit einer Quote von rund 11 Prozent deutlich häufiger arbeitslos. Lediglich 39 Prozent der Arbeitgeber besetzen alle Pflichtarbeitsplätze für Schwerbehinderte und zahlen keine Ausgleichsabgabe. „Damit lässt die Wirtschaft in Zeiten des Fachkräftemangels Potenziale liegen“, sagt IHK-Fachkräftereferent Tobias König. Er plädiert dafür, Menschen mit Behinderung ganz bewusst auf den Rekrutierungsplan zu setzen.

Für Johannes Magin, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Integrationsfachdienste Bayern (LAG ifd Bayern e.V.), liegen die Vorteile auf der Hand: Menschen mit Behinderung sind oft gut ausgebildet, gleichen ihre Einschränkungen durch Stärken in anderen Bereichen aus oder bringen Spezialbegabungen mit. Sie ändern durch ihre Einschränkungen den Blick auf Prozesse und Produkte, was zu Innovationen führen kann. Sie verbessern das Teambuilding, weil sie die Teammitglieder lehren, fürsorglicher und flexibler miteinander umzugehen. Magin ist überzeugt: „Unternehmen profitieren auf vielfältige Weise.“

Von- und miteinander Lernen

Diese Erfahrung macht auch die Calida Group Digital GmbH in Bruckmühl, Tochter des Schweizer Nacht- und Unterwäscheherstellers Calida. Sie beschäftigt Menschen mit kognitiven Einschränkungen in der Logistik. „Zum einen verdanken wir ihnen einen ganz neuen Teamzusammenhalt. Die Teammitglieder unterstützen sich mehr, nehmen mehr Rücksicht aufeinander, arbeiten so auch besser miteinander“, sagt Carina Lettenbichler, HR Business Partner bei Calida. „Zum anderen haben sich durch die neuen Mitarbeitenden auch unsere Prozesse verbessert. Sie haben uns zum Beispiel auf die schlecht lesbaren Bezeichnungen von Regalen hingewiesen. Daraufhin haben wir auch andere Abläufe noch einmal angeschaut. Nun arbeiten wir insgesamt effektiver.“

Das Unternehmen musste seine Mitarbeitenden mit Einschränkungen zwar etwas länger einarbeiten, die Betreuung ist etwas intensiver. „Aber wir bekommen zugleich so viel zurück“, so die Personalmanagerin.

Unterstützung für Unternehmen

Aktuell haben in Deutschland rund acht Millionen Menschen einen Schwerbehindertenstatus. Rund drei Prozent der Behinderungen sind angeboren oder treten im ersten Lebensjahr auf, die restlichen 97 Prozent entstehen im Laufe des (Berufs-)Lebens durch Erkrankungen, Unfälle und anderes.

„Dadurch müssen sich Unternehmen, wenn sie Mitarbeiter nicht verlieren wollen, ohnehin mit Inklusion auseinandersetzen. Sie müssen die Stellen für die Betroffenen anpassen oder ihnen Alternativen eröffnen“, erläutert Experte Magin. „Sie sammeln mehr und mehr Erfahrungen mit Inklusion; das kann ihnen auch die bewusste Rekrutierung erleichtern.“

Unterstützung dabei bieten die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber in Bayern (EAA). Als erste Anlaufstelle und Lotsen beraten sie zu allen Fragen rund um die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung. Die EAA sind mit 12 regionalen Standorten in ganz Bayern präsent. „Nicht jeder Arbeitgeber kann jede Art von Behinderung integrieren“, sagt Lilli Hilgert, stellvertretende Teamleiterin der EAA-Region München – Freising – Ingolstadt. „Daher klären wir mit dem Arbeitgeber zuerst die Möglichkeiten und Bedingungen.“

Praktische und finanzielle Hilfe

Dann hilft die EAA zum Beispiel bei der Platzierung der Stellenausschreibung und der konkreten Rekrutierung. „Nicht zuletzt wissen wir, wo es praktische Unterstützung und finanzielle Förderung gibt, etwa zu technischen Hilfen oder begleitenden Assistenten.“

Dabei profitieren die EAA von ihrem großen Netzwerk: Zu den Netzwerkpartnern gehören beispielsweise der auf Menschen mit Einschränkungen zugeschnittene Arbeitgeberservice der Bundesagentur für Arbeit, spezialisierte Onlineplattformen, die örtlichen Integrationsfachdienste (ifd) oder andere Partner im Berufsbildungsbereich.

Bereicherung für das Team

Die Bauer Unternehmensgruppe GmbH & Co. KG in Weilheim, Spezialist für Motoren und Maschinen, hat sich an die Oberland Werkstätten (OLW) für Menschen mit Behinderungen gewandt. „Wir wollten unsere Belegschaft explizit noch diverser machen, auch mehr Menschen mit Behinderung anstellen und sind auf die OLW zugegangen“, sagt der Bauer-Nachhaltigkeitsbeauftragte Robert Wittig.

Inzwischen sind mehrere ehemalige Werkstattmitarbeiter bei Bauer fest und zu Bedingungen des ersten Arbeitsmarkts angestellt. Sie arbeiten vor allem in den Montagen, der Lackiererei, als Staplerfahrer oder unterstützen in der Logistik. „Wir erleben sehr motivierte, talentierte Mitarbeitende, die den Teams und dem Unternehmen viel geben“, sagt Wittig.

Sich erproben dürfen

Spezialisierte Vereine eröffnen ebenfalls Berufsbildungsmöglichkeiten. So hat der Zukunft Trotz Handicap e.V. (ZTH) in Höhenkirchen-Siegertsbrunn ein Programm entwickelt, das Menschen mit kognitiven Einschränkungen den Weg in Einzelhandels-, Gastronomie- und Kita-Berufe erleichtert.
Die Teilnehmenden absolvieren ein 1-jähriges Praktikum im Betrieb. „So können sich die Teilnehmenden erproben und sich an das reale Arbeitsumfeld Schritt für Schritt gewöhnen“, sagt ZTH-Sprecherin Karina Reisenegger.

Zudem gibt es Theoriemodule und nach der Abschlussprüfung Zertifikate. Die Pilotjahrgänge waren erfolgreich. „Viele engagierte Unternehmen nehmen das Angebot gut an“, so Reisenegger, „sie sind kooperativ und übernehmen die Praktikanten auch.“

Offenheit für Diversität zeigen

Was sollten Unternehmen, die Menschen mit Behinderung einstellen möchten, beachten? „Zunächst sollten sie in ihren Stellenausschreibungen explizit Offenheit für Diversität zeigen – und dann die Stellenausschreibungen in den entsprechenden Netzwerken platzieren“, rät EAA-Expertin Hilgert. Abzuwägen ist, ob und wie die Behinderung beim Vorstellungsgespräch und Onboarding thematisiert wird.

Fingerspitzengefühl beim Einarbeiten

„Viele Menschen mit Behinderung fühlen sich stigmatisiert. Grundsätzlich ist auch niemand gesetzlich verpflichtet, seine Behinderung explizit offenzulegen“, erläutert Hilgert. „Zugleich hilft eine gewisse Offenheit, zielgerichtete Unterstützung bereitzustellen und das Team einzubinden. Hier braucht es auf jeden Fall viel Fingerspitzengefühl.“

Jobcoach an die Seite stellen

Abgestimmt auf den Rekrutierungsweg können die EAA oder andere Netzwerkpartner die Vorstellungsgespräche begleiten. „Auch nach der Einstellung steht die EAA bei Fragen zur Verfügung“, betont Hilgert. Bei auticon arbeiten die IT-Spezialisten häufig in Projekten direkt beim Kunden. Das Unternehmen klärt daher die Teams dort im Vorfeld stets über Autismus auf. „Wir verhandeln für unsere ITler idealerweise längerfristige Einsätze, weil der schnelle Wechsel von Kunden und Teams für sie anstrengend ist, und stellen ihnen einen Jobcoach an die Seite“, sagt auticon-Sprecherin Schemm. „Unter solchen Bedingungen entsteht eine Win-win-Situation für alle.“

IHK-Info: 4. EAA-Fachforum „Arbeitswelt im Wandel. Inklusion schafft Innovation“ am 13. November 2025

Um mit dem stetigen Wandel Schritt zu halten, müssen Unternehmen stets neue Lösungen finden. Wie kann Inklusion dabei helfen? Dieser Frage geht das 4. Fachforum der Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber in Bayern (EAA) am 13. November 2025 nach. Die Veranstaltung findet in Präsenz und online statt.

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