Standortpolitik

Messbar nachhaltig?

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Von Klimaschutz bis Mitarbeiterrechte – Nachhaltigkeit betrifft Firmen umfassend

Mit dem EU-Aktionsplan Sustainable Finance kommen nicht nur auf Kreditinstitute, sondern auch auf Unternehmen der Realwirtschaft neue Reportingpflichten zu. Firmen sollten mit weitreichenden Auswirkungen rechnen.

Eva Müller-Tauber, Ausgabe 06/2021

Es sind ambitionierte Ziele, die sich die Vereinten Nationen gesetzt haben: Sie wollen die globale Durchschnittstemperatur auf deutlich unter zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau halten. Zudem hat die Weltgemeinschaft 17 Sustainable Development Goals (SDGs – Ziele für nachhaltige Entwicklung) formuliert, die alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit erfassen: Umwelt, Soziales und Wirtschaft. So wollen sie beispielsweise einen verstärkten Einsatz für Frieden, die Bekämpfung von Korruption oder den Schutz vorhandener Ressourcen erreichen.

Dass die Erfüllung dieser Ziele eine große Aufgabe ist, die Investitionen erfordert, versteht sich von selbst. Und so übernehmen die Kapitalmärkte als Hebel für Nachhaltigkeit hier einen wichtigen Part. Unter dem Begriff Sustainable Finance soll über den Finanzsektor das gesamte Wirtschaftsgeschehen in Richtung Nachhaltigkeit gelenkt werden. Deshalb formulierte die EU 2018 einen Aktionsplan Sustainable Finance (siehe »Stichwort« unten).

Bewertung von Wirtschaftstätigkeiten im Sinne des Klimaschutzes

Dieser Aktionsplan wird schrittweise umgesetzt. Die EU-Kommission hat im Januar die delegierten Rechtsakte zur Taxonomieverordnung finalisiert und sich Ende April auf erste Bewertungskriterien geeinigt. Sie hat also im Rahmen eines Klassifizierungssystems meist quantitative Kriterien festgelegt, anhand derer künftig die Nachhaltigkeit zahlreicher Wirtschaftstätigkeiten im Sinne des Klimaschutzes bewertet werden soll. Um als nachhaltig im Sinne der Taxonomie zu gelten, muss über die Einhaltung der Bewertungskriterien nachgewiesen werden, dass ein substanzieller Beitrag zur Erreichung eines der sechs Umweltziele der Taxonomie geleistet wird und zugleich keinem der anderen Umweltziele erheblich entgegenwirkt wird.

Zunächst ökologische Kriterien

Zuerst geht es dabei ausschließlich um ökologische Kriterien. Anschließend sollen soziale und ökonomische Kriterien in die Taxonomie aufgenommen werden. »Bereits seit dem 10. März 2021 gelten zudem besondere Offenlegungspflichten für Finanzmarktteilnehmer und Finanzberater in Zusammenhang mit nachhaltigen Investitionen«, erläutert Nicole Kleber, Sustainable-Finance-Expertin der IHK für München und Oberbayern.

Was für welche Unternehmensgröße gilt

Wenn die Sustainable-Finance-Regeln nun nach und nach in Kraft treten, stehen in erster Linie die Finanzinstitute im Fokus. Viele von ihnen beschäftigen sich schon seit Längerem mit dem Thema. So erklärt etwa der Bankenverband, er entwickle »mit seinen Mitgliedern ein einheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit und arbeitet an praxistauglichen Lösungsansätzen«. Die neuen Offenlegungspflichten berühren jedoch auch die Realwirtschaft – direkt und indirekt. So sind ab dem Jahr 2022 Unternehmen mit 500 und mehr Mitarbeitern sowie einer Bilanzsumme von über 20 Millionen Euro beziehungsweise einem Umsatz von über 40 Millionen Euro, die von »öffentlichem Interesse« sind, dazu verpflichtet, ihre nichtfinanzielle CSR-Berichterstattung (CSR: Corporate Social Responsibility) zu erweitern.

Das heißt: Die Unternehmen haben offenzulegen, zu welchem Anteil ihre Umsätze, Gesamtinvestitionen und Ausgaben mit Aktivitäten in Verbindung stehen, die laut Taxonomie nachhaltig sind. »Zudem müssen alle Un-ternehmen entlang der Lieferkette – auch kleine und mittlere Betriebe, die etwa wegen ihrer Größe nicht explizit dazu verpflichtet sind – damit rechnen, dass ihre Kunden und Geschäftspartner von ihnen Informationen hinsichtlich der Nachhaltigkeit von Produkten und Dienstleistungen verlangen«, so IHK-Expertin Kleber. Denn die großen Firmen können den gesetzlichen Transparenzvorgaben nur nachkommen, wenn Kunden und Lieferanten ihnen Informationen zur Verfügung stellen.

Teurere Kredite und Versicherungen?

Nicht zuletzt sind die Firmen über ihre Banken von den neuen Berichterstattungspflichten betroffen. Langfristig ist zu befürchten, dass sich Kredite und Versicherungen für Unternehmen verteuern könnten, weil Banken intensiver als bisher die Nachhaltigkeitsmerkmale der finanzierten Tätigkeit prüfen. »Es gibt also gleich mehrere Gründe, warum sich Firmen unbedingt mit dem Thema Sustainable Finance und den Auswirkungen auf ihr Geschäft auseinandersetzen sollten«, so IHK-Expertin Kleber.

Tools für bestimmte Branchen

Wie aber können Unternehmen sich dem Thema sinnvoll nähern? Wie können sie ermitteln, wo sie in puncto Nachhaltigkeit stehen, um daraus Maßnahmen abzuleiten – zumal auf Gesetzesebene noch sehr viel im Fluss ist? »Eine Möglichkeit sind Tools, die derzeit vor allem Finanz-, aber auch Beratungsinstitute entwickeln«, sagt Kleber. Zum Beispiel hat die HypoVereinsbank (HVB) für ihre Kunden das HVB-ESG-Branchenbarometer erarbeitet. Dessen zentrale Frage lautet: Inwiefern hat das Unternehmen Schritte unternommen, um materielle Umwelt-, Sozial- und Governance (ESG)-Themen zu behandeln?

»Das Tool führt speziell KMU aus dem produzierenden Gewerbe, die sich noch nicht so sehr mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt haben, durch für ihren Wirtschaftszweig relevante ESG-Fragestellungen sowie die SDGs und erläutert Chancen wie Risiken der Geschäftsmodelle in der jeweiligen Branche«, erklärt Andreas Wagner, bei der HypoVereinsbank verantwortlich für Sustainable Finance in Westeuropa. Dass die Industrie hierbei im Fokus steht, habe unter anderem mit dem tendenziell größeren CO2-Fußabdruck zu tun, den das produzierende Gewerbe im Gegensatz zu Dienstleistern und Handel in der Regel hinterlasse.

»Bei unserem Branchenbarometer handelt es sich um ein Beratungstool mit rein qualitativen Fragen, das unsere Sustainable-Finance-Experten mit unseren Kunden Schritt für Schritt durchgehen, diese müssen also keine Zahlen wie etwa Emissionsdaten vorlegen«, so Wagner. »Es geht darum, die Unternehmen für das Thema zu sensibilisieren.« Wie das funktionieren soll, demonstriert ein kleiner Auszug aus dem Fragenkatalog:

  • Klima: Zeigt das Unternehmen, wie die Prozesse zur Identifizierung, Bewertung und Steuerung klimabedingter Risiken in das Gesamtrisikomanagement der Organisation integriert sind? Hat es ein Reduktionsziel für Treibhausgasemissionen?
  • Soziales: Stellt das Unternehmen den Mitarbeitern Beschwerdeverfahren zur Verfügung, wenn sie Bedenken im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung der Richtlinien zu Arbeitsrechten und Arbeitsbedingungen äußern? Hat es eine proportionale Vertretung von Frauen auf der Führungsebene?
  • Unternehmensführung: Sind Nachhaltigkeitsziele in die Vergütung von Führungskräften integriert? Hat das Unternehmen interne Verfahren eingerichtet, um die Einhaltung seiner Richtlinien für ethisches Geschäftsgebaren zu gewährleisten?
  • Branche: Hat das Unternehmen Maßnahmen ergriffen, um den Materialverbrauch zu reduzieren und den Einsatz von Recyclingmaterial in neuen Produkten zu erhöhen? Sind Anforderungen zu Arbeitsrechten und Arbeitsbedingungen für die Auswahl der wichtigsten Zulieferer festgelegt?
Erfahrungen aus der Praxis

Johannes Winklhofer (56), Vorstandsvorsitzender des Münchner Automobil- und Maschinenbauzulieferers iwis SE & Co. KG sowie IHK-Vizepräsident, hat das HVB-Branchenbarometer getestet. Sein Resümee: »KMU, die sich nicht wie wir schon mehrere Jahre mit Nachhaltigkeit befassen sowie nicht in einer Holding organisiert sind, also in zahlreichen Unternehmenssparten beziehungsweise in Geschäftsbereichen, kann so ein rein qualitatives Tool bei einer ersten Standortbestimmung helfen.« Ihn selbst habe es zumindest darin bestätigt, »dass wir schon ziemlich weit sind, was das Thema angeht«. Auch Impulse konnte das Barometer geben. So sei es »durchaus eine Überlegung wert, Nachhaltigkeitsziele künftig in die Vergütung von Führungskräften zu integrieren«, findet Winklhofer.

Bürokratie als Gefahr, Leitmotiv als Chance

Sein Unternehmen stellt unter anderem Teile für E-Autos her, aber ebenso Komponenten für Verbrennungsmotoren. Es ist also in Sparten tätig, die nicht per se als umweltfreundlich gelten. Solche Firmen hätten es mitunter schwer, in einigen Bereichen eine positive Umweltbilanz vorzuweisen, so der Unternehmer: »Dabei sollte es vor allem darum gehen, wirklich schwarze Schafe zu identifizieren und in die Pflicht zu nehmen.«

Winklhofer hält wenig davon, dass sich Firmen künftig als nachhaltig zertifizieren lassen müssen. Das würde lediglich die Beraterbranche erfreuen und sonst nur die Bürokratie ankurbeln. Gleichwohl müssten sich alle Unternehmen mit Sustainable Finance und Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Winklhofer rät Betrieben daher, die 17 SDGs der UN als Leitmotiv zu nehmen und für sich individuell abzuarbeiten. »Für diese Analyse braucht es dann aber auch eine quantitative Einschätzung, also harte Zahlen.«

Faktenbasierte Nachhaltigkeitsstrategie für den Betrieb entwickeln

Sustainable Finance zum Anlass zu nehmen, eine individuelle, faktenbasierte Nachhaltigkeitsstrategie für den Betrieb zu entwickeln, dazu rät auch Oliver Mund (41), Geschäftsführer der Turtlebox GmbH. Das Unternehmen bietet Mehrwegboxen aus recyceltem Kunststoff für Umzüge an. »Die Klimakrise etwa wird uns längerfristig beschäftigen, hier lässt sich wie bei einem abwärtsrollenden Wagen nicht so leicht bremsen und gegensteuern.« Dabei will der Gründer, der auch Mitglied im IHK-Ausschuss Unternehmensverantwortung ist, anderen Mut machen: »Unternehmer sollten Nachhaltigkeit als Chance begreifen.«

Wer sich zeitnah nachhaltig aufstelle, sei nicht nur in Bezug auf Sustainable Finance gut vorbereitet. Er schaffe neben Preis und Produkt ein weiteres, zukunftsträchtiges Unterscheidungsmerkmal, das Kunden und Investoren interessiere und langfristig auch bei öffentlichen Ausschreibungen eine Rolle spielen werde, ist Mund überzeugt. »Allerdings nur, wenn Nachhaltigkeit nicht ausschließlich von der Marketingabteilung proklamiert, sondern gelebt wird, in der Managementebene angesiedelt ist, mit Feedback-Schleife zur Geschäftsführung.« Es gelte, Nachhaltigkeit im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten zu praktizieren und immer wieder nachzujustieren.

»ESG-Risiken bestmöglich managen«

Sein Unternehmen will sich in der Logistik noch umweltfreundlicher aufstellen. Anbieter, die mit E-Lkws herumfahren, gibt es – noch – nicht. Fahrradkuriere sind als Umzugshelfer keine wirkliche Alternative. »Deshalb kooperieren wir mit einer Baumarktkette, sodass Kunden, die dort einen Transporter mieten, unsere Umzugskisten mitnehmen und bei Rückgabe des Autos diese mit zurückbringen können. Das spart CO2«, erklärt Mund. Es sei wichtig, Nachhaltigkeit stets im Blick zu behalten, auch wenn es die beste Lösung vielleicht noch nicht gibt. »Auch das dürfte positiv in Sustainable-Finance-Bewertungen einfließen«, ist sich der Unternehmer sicher. »Es geht schließlich darum, ESG-Risiken bestmöglich zu managen.«

IHK-Service: SDG-Wegweiser des BIHK für kleine und mittlere Unternehmen

Wie sich die UN-Nachhaltigkeitsziele praktisch umsetzen lassen, zeigt ein SDG-Wegweiser für KMU, den die bayerischen IHKs gemeinsam mit dem Landesamt für Umwelt entwickelt haben.

Stichwort: EU-Aktionsplan nachhaltige Finanzwirtschaft

Der EU-Aktionsplan sieht vor, Kapitalflüsse in nachhaltige Investitionen zu lenken, also solche, die Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungsaspekte (ESG – Environmental, Social, Governance) berücksichtigen. Darüber hinaus gilt es, die finanziellen
Risiken zu managen, die sich aus ökologischen und sozialen Problemen ergeben. Zudem sollen zusätzliche Offenlegungs-, Berichts- und Governance-Anforderungen die Transparenz und Langfristigkeit in der Finanz- und Wirtschaftstätigkeit fördern.

IHK-Service: Einstieg in Sustainable Finance

Erste Ansatzpunkte, wie sich Unternehmen dem Thema Sustainable Finance systematisch nähern können, liefern folgende Fragen:

  • Welche strategischen Auswirkungen hat Sustainable Finance auf mein Geschäftsmodell, meine Wettbewerbssituation, meine Umwelt und meine internen Ressourcen?
  • Welche Nachhaltigkeitsrisiken birgt mein Geschäftsmodell?
  • Wie muss ich mein Produkt- und/oder mein Dienstleistungsangebot sowie meine Vertriebswege anpassen, um nachhaltiger zu agieren?
  • Wie können wir Nachhaltigkeitsdaten vollständig erfassen, verarbeiten und bereitstellen? Brauchen wir dazu die Hilfe externer Provider?
  • Welche der zahlreichen Erweiterungen in der Nachhaltigkeitsberichterstattung müssen wir, welche wollen wir freiwillig umsetzen?
  • Aktuelle Informationen gibt es auf der IHK-Spezialwebsite zu Sustainble Finance.

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