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Einer für alle, alle für einen

Thorsten Jochim ©
Vorstand Josef Lindlmair startete 1979 als Lehrling bei Miraphone

Miraphone in Waldkraiburg produziert hochwertige Blasinstrumente. Das Unternehmen ist Bayerns einzige Produktionsgenossenschaft: Die Mitglieder wählen ihren Chef selbst und sind gewinnbeteiligt.

Klaus Mergel, Ausgabe 09/20

Arbeit kann richtig schön aussehen: Rohre – mal matt, mal messingglänzend – baumeln wie Trophäen über der Werkbank. Auf dem Tisch, abgewetzt von jahrzehntelanger Arbeit, liegen Rohrbögen auf Tücher gebettet. Es dampft, als Josef Schub zwei Bleche zu einem mächtigen Tubaschalltrichter zusammenlötet. »Sonst fertigt man die aus einem Blech, doch ab einer gewissen Größe geht das nicht mehr«, sagt der 34-Jährige. Handarbeit ist gefragt. Und die hat ihren Wert. Bei Miraphone in Waldkraiburg entstehen edle Blechblasinstrumente. Es dauert bis zu 70 Stunden, bis aus dem rohen Blech auf der Werkbank eine messingglänzende Tuba wird. Die kostet dann bis zu 17.000 Euro. »Unsere Instrumente überleben ihre Besitzer meist«, sagt Josef Lindlmair, einer der Miraphone-Vorstände.

Hauptabsatzmarkt USA

Rund 67 Prozent der knapp 2.000 erzeugten Instrumente pro Jahr gehen in den Export, bis zu 50 Prozent in die USA. Weitere wichtige Märkte sind Deutschland (32 Prozent) und Österreich (13 Prozent). Kopien aus China? Fürchtet man in Waldkraiburg nicht. »Die agieren in einem völlig anderen Preissegment.« Lindlmair kann mehr als nur über Zahlen reden. Wenn er Schub über die Schulter schaut, erklärt er alle Schritte – und könnte praktisch jeden selbst ausführen.

Von der Werkbank zum Chefschreibtisch

1979 begann er bei Miraphone seine Lehre als Blechblasinstrumentenbauer, seit 24 Jahren ist er Vorstand. Theoretisch könnten er und Schub tauschen, Werkbank gegen Chefschreibtisch. Denn Miraphone ist eine Produktionsgenossenschaft – die einzige in Bayern und sicher kein sozialistisches Experiment: Das Unternehmen erwirtschaftet mit 90 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von 6,2 Millionen Euro. Verkauft wird ausschließlich an Händler mit stringenter Preispolitik. Nur solche mit Werkstatt bekommen einen Nachlass.

Flüchtlinge brachten Know-how mit

Die Firmenstruktur hat viel mit der Nachkriegsgeschichte zu tun. Waldkraiburg war eines jener Vertriebenenzentren, in denen sich 1946 Tausende Sudetendeutsche ansiedelten. Die Flüchtlinge brachten Know-how mit und bauten florierende Gewerbe auf: In Neugablonz belebten sie die Schmuckindustrie, in Neutraubling begründeten sie den Maschinenbau. Nach Waldkraiburg kamen Blechblasinstrumentenbauer aus Graslitz (heute Kraslice). Dort hat der Bau von Tuben, Trompeten, Posaunen und Hörnern seit über 400 Jahren Tradition. Diese Handwerker stießen in Bayern, wo fast jedes Dorf eine Blaskapelle hat, auf große Nachfrage. So gründeten dreizehn Instrumentenbauer 1946 die »Produktivgenossenschaft der Graslitzer Musikinstrumentenerzeuger eGmbH«, heute die Miraphone eG. »Ein paar Abkömmlinge der Gründer arbeiten heute noch hier«, sagt Lindlmair.

Es geht eher demokratisch zu: Mitarbeiter, die Mitglieder der Genossenschaft sind, wählen jedes Jahr zwei der sechs Mitglieder des Aufsichtsrats. Der wiederum bestellt alle fünf Jahre einen Vorstand: Der zweite Mann dort neben Lindlmair ist Christian Niedermair, ein 48-jähriger Metallinstrumentenbauer. Die beiden teilen sich die Aufgaben. Lindlmair betreut Logistik, Finanzen und Verwaltung. Niedermair kümmert sich um Produktion und Entwicklung.

Die Hierarchie ist flach

Bei der Entwicklung sitzt Vorstand Lindlmair öfter mit Instrumentenbauer Schub zusammen. »In den flachen Hierarchien hier kann man gut seine Ideen einbringen«, sagt Schub. Und: Genossen werden durch eine Dividende am Gewinn beteiligt. Beides motiviert. Patrick Gerhart etwa, erst seit wenigen Monaten im Betrieb, will »auf jeden Fall« Mitglied werden. »Die Dividende ist ein zusätzliches Einkommen«, sagt der 29-Jährige. Mitglieder können maximal hundert Anteile erwerben. Diese Obergrenze hat eine Sicherheitsfunktion, wie Lindlmair erklärt: »Damit die Leute in schlechten Zeiten nicht alles Geld rausholen und wir zusperren müssen.«

Kompetenz plus Innovation seit mehr als 70 Jahren

Zweifellos ist es eine Kunst, eine Tuba herzustellen: Die Luftsäule – also alle Rohrstücke – misst 5,6 Meter. Damit später der Ton stimmt, müssen Durchmesser und Länge passen. Die Kompetenz, die man hier seit über 70 Jahren pflegt und steigert, ist wertvolles Kapital. Gleichzeitig ist der Innovationsgrad hoch. Es werden Maschinen mit Trockeneis für schonendes Rohrbiegen eingesetzt, Kaltpressen zur Umformung, CNC-Drehmaschinen für Ventilteile. Instrumente werden mit CAD geplant, viele Werkzeuge sind selbst gefertigt. Fast alle Teile der Instrumente werden selbst hergestellt, nur Kleinigkeiten sind zugekauft. Neben der hohen Fertigungstiefe ist es der große Lagerbestand, der Miraphone Unabhängigkeit verschafft.

Ein Meer an Rohren ohne internationale Lieferketten

Im Lager liegt ein Meer an Rohren: Durchmesser zwischen zehn und 100 Millimeter, Materialien wie Messing, Neusilber oder VA-Stahl. Während das Coronavirus internationale Lieferketten sprengt, könnte man in Waldkraiburg problemlos über Jahre hinweg produzieren. Eine konservative Politik der Vorsicht, die sich in den vergangenen Monaten der Coronakrise bewährt hat. Zu Beginn habe man, so Lindlmair, drei Tage lang einen Shutdown-Test durchgeführt: »Wir haben geübt, ob wir kurzfristig runterfahren können. Das hat gut geklappt.«

Ansonsten arbeitete Miraphone durch, während viele Mitbewerber in Kurzarbeit gingen. Soforthilfe wurde nicht beantragt: »Wir wollten das aus eigener Kraft schaffen.« Während der Absatz in Deutschland und in der EU um 40 bis 50 Prozent einbrach, blieb der Export in die USA stabil: »Die US-Händler verlangten weiterhin Ware und konnten auch bezahlen.« Bis Ende September ist man laut Lindlmair beschäftigt. Doch sollte eine zweite Coronawelle kommen, müsste man tatsächlich in Kurzarbeit gehen: »Das Weihnachtsgeschäft im Inland und in der EU würde uns fehlen.« Aber man sei optimistisch und »die Stimmung im Haus ist gut«.

Kraft und Genauigkeit

Und es wird munter weitergearbeitet. Schallstückmacher Markus Specht etwa formt gerade an einer Maschine Schalltrichter. Der Mann weitet mit dem Drückeisen das rotierende Rohr. »Da braucht man Kraft, muss aber genau arbeiten«, sagt der 48-Jährige. Auch er ist »Genosse«, seit 32 Jahren: »Man fühlt sich dem Betrieb verbunden, man hat gemeinsam einiges mitgemacht«. Miraphone hat auch die Digitalisierung nicht verschlafen: Jeder Mitarbeiter scannt sich im Barcode am Laufzettel des Instruments ein und wieder aus, wenn sein Arbeitsschritt beendet ist. Diese Leistungskontrolle dient der realistischen Preisgestaltung und gleichzeitig der Zeiterfassung für das Arbeitskonto der Mitarbeiter: Alle arbeiten in Gleitzeit.

Im genossenschaftlichen Sinne

Zudem, so Vorstand Lindlmair, habe man ein eigenes Entlohnungssystem entwickelt, das Leistung wie Kompetenz einbeziehe: »Manche Mitarbeiter führen eine einzige Tätigkeit oft aus. Andere können mehr – sind etwa als Springer aktiv und produzieren nicht so viel. Wir versuchen, der Leistung wie der Kompetenz gerecht zu werden.« Aber wie alles hat auch eine Genossenschaft zwei Seiten: Es muss wohl etwas mehr verhandelt werden als in einer GmbH. »Manchmal dauern Entscheidungen länger. Manchmal muss man Mittelwege finden und Diplomatie an den Tag legen«, sagt Niedermair. »Aber man handelt praktisch immer im Sinne der Mitarbeiter. Und die wissen genauso, wo das Geld herkommt.«

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