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Gut genormt

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Grillrost – auch ein Fall für die Norm

Wer in einem Normungsgremium mitarbeitet, gestaltet mit, sorgt für praktikable Lösungen – und generiert individuelle Vorteile. Davon können auch kleinere Unternehmen profitieren.

GABRIELE LÜKE, Ausgabe 11/2022

Dass die Abstände zwischen den Streben eines Grillrosts eher klein sind, die Wurst also nicht hindurchfallen kann, dass Papier problemlos in den Drucker passt oder asiatische Container auf deutschen Güterzügen perfekt Platz haben – all das ist Normen zu verdanken. Dabei sind nicht nur Produkte, sondern auch Prüfverfahren oder Beratungen, etwa zu Finanzdienstleistungen, genormt. »Normierung ist wie eine Lingua Franca«, sagt Alexandra Horn (43), Leiterin KMU und Verbandskooperationen beim Deutschen Institut für Normung (DIN). »Einheitliche Standards und Normen zu haben und zu nutzen, erleichtert Zusammenarbeit und Handel, steigert die Effizienz, ist ein Schutz- und Qualitätsversprechen für Unternehmer und Verbraucher.«

Rund 34.000 DIN-Normen

Das DIN hat aktuell allein für Deutschland rund 34.000 Normen, weltweit gibt es das Mehrfache an Normen. »Insellösungen ergeben in einer internationalisierten Welt keinen Sinn«, sagt IHK-Innovationsexpertin Birgit Petzold. »Dass fast jedes Land in Europa noch eigene Elektrostecker hat, sollte längst überwunden sein.« So begrüßt sie es ausdrücklich, dass die EU bei USB- oder Ladesteckern für E-Tanksäulen einen EU-weit einheitlichen Standard vorschreiben wird.

Expertise gerade kleinerer Unternehmen gefragt

Was Unternehmen oft nicht wissen: Sie können sich in die Normungsprozesse einbringen. Petzold ermutigt explizit kleinere und mittlere Betriebe dazu: »Ihre Expertise ist wichtig. Sie können dazu beitragen, dass Normen realistisch und praktikabel werden, und so die Wettbewerbsbedingungen mitgestalten.«

Dass die Beteiligung auch ganz konkrete Vorteile für ein Unternehmen bringt, zeigt das Beispiel des Münchner Medizintechnikherstellers Mecuris GmbH. Mitgründer Jannis Breuninger (41) saß in einem Gremium, das an der Optimierung einer Prüfmaschine für Prothesenfüße arbeitete. »Aus unseren Ergebnissen wird eine neue Prüfnorm entstehen«, erklärt er zufrieden.

Positionierungsvorteil durch Beteiligung an Normierung

Mit der Beteiligung an der Normierung will er Forschung und Entwicklung voranbringen, seine Branche sowie seine eigene Firma stärken »zum Wohle der Endanwender«. Mit der neuen Prüfnorm kann die Qualität von Prothesenfüßen viel differenzierter gemessen und nach außen dargestellt werden. Das führt zu einem klaren Positionierungsvorteil der Firma im internationalen Wettbewerb. »Über das Gremium sind wir zudem neue Partnerschaften eingegangen und haben unsere digitale Kompetenz im Bereich der Entwicklung individueller orthopädischer Hilfsmittel weiter ausgebaut«, so Breuninger.

Jeder kann beim DIN neue Norm anstoßen

Jeder, der Bedarf sieht, kann beim DIN eine neue Norm anstoßen. »Tatsächlich tun dies neben wissenschaftlichen Einrichtungen vor allem auch Unternehmen«, so DIN-Vertreterin Horn. Das Institut prüft den angemeldeten Bedarf, bildet Ausschüsse, die die Normen entwickeln, moderiert den Prozess. Die Gremien bestehen aus 20 bis 25 Personen von Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Verbraucherorganisation, Nichtregierungsorganisationen »und unbedingt Vertretern aus der Wirtschaft«, sagt Horn. »Eine zu entwickelnde Norm muss, damit sie breite Zustimmung findet, aus vielen Perspektiven betrachtet werden, braucht unterschiedlichste Expertise.« Unternehmen können Ausschussmitglied werden, wenn sie selbst den Normbedarf angemeldet haben oder wenn sie vom federführenden Gremiumsmitglied eingeladen werden.

Internationaler Einfluss

Haben die Gremiumsmitglieder einen Konsens gefunden, wird die neue Norm öffentlich als Entwurf zur Diskussion gestellt und schließlich vom DIN als offizielle Norm veröffentlicht. Viele Standards werden gleich international angelegt. Dafür stehen vor allem das Europäische Komitee für Normung (CEN) sowie die International Organization for Standardization (ISO). DIN, CEN und ISO arbeiten intensiv zusammen. »Damit nehmen hiesige Unternehmer auch in internationalen Gremien Einfluss«, betont Horn.

Beschleunigte DIN-Spec-Standards 

Wer sich einbringen will, braucht allerdings Zeit. Normungsarbeit kann mehrere Jahre dauern. Mit DIN Spec gibt es ein beschleunigtes Verfahren: Es ermöglicht, in kleineren agilen Gruppen in wenigen Monaten Vornormen zu entwickeln. Solche DIN-Spec-Standards können schon genutzt werden, bevor sie eine offizielle Norm sind. Für die Teilnahme an einem Ausschuss erhebt das DIN eine Gebühr. Kleine und mittelständische Firmen können einen Teil des Kosten- und Zeitaufwands zum Beispiel über das Förderprogramm WiPaNo erstattet bekommen.

»Rad nicht immer neu erfinden«

Doch klingt Normierung nicht auch nach mehr Bürokratie und einer Bremse für Kreativität und Innovation? Grundsätzlich gilt: Normen können gesetzlich vorgeschrieben werden. Viel häufiger jedoch ist ihre Einhaltung freiwillig. Zugleich sei Normung ein Innovationstreiber, ist Thanh-Duc Nguyen (30) überzeugt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart sitzt im Arbeitsausschuss für Orthopädietechnik: »Das Rad muss nicht immer wieder neu erfunden werden«, erklärt er. »Es ist schneller, es auf Basis einer bestehenden Norm weiterzuentwickeln.«

Alexandra Horn vom DIN empfiehlt Firmen, vor jedem Innovationsprozess den Normbestand zu sichten: »Zu wissen, was es bereits an Normen gibt, macht neue Entwicklungen effizienter.« Das spart bei der Entwicklung, aber auch bei der Anwendung zudem Kosten.

Wie sich die Teilnahme an Normungsgremien auf das eigene Unternehmen auswirkt, weiß Martin Wolf (52), Geschäftsführer der aquadocs Ing.-Ges. mbH in München. Kanalnetze und urbaner Hochwasserschutz sind Wolfs Spezialgebiet. In seiner Normungsarbeit geht es um europäische Prüfparameter für die Instandhaltung von Abwasserkanälen: »Die neuen Standards zur Substanzbewertung sind einfach anzuwenden und zeigen, welche Auswirkungen unser Handeln heute in der Zukunft hat. So können Kommunen Werteverzehr vermeiden, zielgerichtet reinvestieren und damit die Infrastruktur nachhaltig erhalten.«

Normungsarbeit als Beleg für Expertise

Die fachlichen Perspektiven, die Chance, die Branche mitzugestalten und den eigenen Betrieb zu stärken, motivieren Wolf. »In einem internationalen Normungsgremium mitzuarbeiten, belegt meine Expertise. Das ist reputationsfördernd, macht attraktiv für Kunden, Partner und Mitarbeiter«, sagt er. »Zugleich kann ich über die Normungsarbeit Werte sichern, zum vorausschauenden Handeln beitragen, der Gesellschaft etwas zurückgeben.«

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