Mobility Data Space: Endlich im Fluss
Mobilitätsdaten fair und sicher handeln – Chance auf weniger Emissionen, mehr Effizienz und neue Geschäftsmodelle.
Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 01–02/2024
München, 5. September 2023, auf der IAA Mobility. Die Messe erlebt einen furiosen Auftakt. Hollywoodstar Natalie Portman fordert das Ende des Verkehrs, so wie wir ihn kennen. Die Welt brauche nachhaltige und soziale Lösungen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagt, der Verkehr stehe vor der „2. Revolution“, dem Wandel zur klimafreundlichen Mobilität.
Hoheit über die Mobilitätsdaten sichern
Ein Rundgang über die Messe zeigt, worum es geht: statt Dieselmotoren nun E-Antriebe, statt nur mehr Straßen jetzt „Connected Mobility“. Achim Berg, Mitglied des Bitkom-Hauptvorstands betont, was alle wissen: Die Basis für die Zukunft sind Daten. Umso wichtiger wird es, wer die Hoheit über diese Daten besitzt.
IHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl warnte schon im Sommer 2019 in der IHK-Vollversammlung vor einem Albtraumszenario: Deutsche Autos liefern Berge von Daten, mit denen nur Amazon, Microsoft, Apple und Google Geld verdienen. Die Unternehmer im Plenum äußerten sich ähnlich besorgt. Sie forderten, Europa müsse eigene Cloud- und Plattformlösungen aufbauen.
Merkels Idee: Mobility Data Space (MDS)
Die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte die gleiche Idee. Sie drängte die Autoindustrie dazu, einen eigenen Datenraum zu schaffen. Abseits der Öffentlichkeit gelang Historisches: Im November 2019 beschloss die „Konzertierte Aktion Mobilität“ die Gründung des Mobility Data Space (MDS), eines virtuellen Marktplatzes für Mobilitätsdaten.
Große Namen auf der Gründerliste
Gut 200 Player der deutschen Mobilitätsszene waren an der Konzeption beteiligt. Fraunhofer-Institute entwickelten die Technik. Als Betreiber wurde die Non-Profit-Organisation Datenraum Mobilität GmbH geschaffen. Unter den Gründungsgesellschaftern finden sich die BMW INTEC Beteiligungs GmbH, die Mercedes-Benz AG, die Volkswagen Group Info Services AG, die Deutsche Bahn AG, die Deutsche Post AG, die HUK-COBURG a.G., die Caruso GmbH, der Geodatendienst HERE Europe B.V. und das Land Nordrhein-Westfalen. Inzwischen sind auch die Länder Baden-Württemberg und Bayern dabei.
Ansporn für Start-ups und kreative Köpfe
Hauptgesellschafterin und Initiatorin des Projekts ist die acatech Stiftung. Sie hat den MDS im Herzen Münchens am Karolinenplatz angesiedelt. Anfang 2022 begann das operative Geschäft. Ein Schritt, an den die Politik hohe Erwartungen knüpft. Bayerns Staatsregierung spricht von einem „wichtigen Signal“.
Bundeskanzler Scholz sieht im MDS ein „Leuchtturmprojekt“ auf dem Weg zum ganz großen Ziel – der europäischen Datensouveränität. Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) erklärte, der Schutz vor „großen Datenkraken“ werde Start-ups und „kreative Köpfe“ fördern.
80 % der Daten liegen brach
Der Bund hat den MDS mit 8,5 Millionen Euro Fördergeld angeschoben. Dank der Zusagen der Gesellschafter ist der Einstieg in die „Data Sharing Community“ bis Ende 2024 kostenfrei. Was fehle, schreibt das Bundesverkehrsministerium, sei die größere Bereitschaft, Daten zu teilen. Die Sorge vor Missbrauch und Diebstahl lähme den Austausch.
Zurück zur IAA. Auch dort ist der MDS vertreten, Geschäftsführer Tobias Miethaner präsentiert das Konzept. Er kommt schnell auf den Punkt: „Nur 17 Prozent der Unternehmen sind bereit, Daten abzugeben.“ 80 Prozent der Industriedaten, meldet die EU, würden brachliegen. Als Miethaner seinen MDS vorstellt, erhält er vom Fachpublikum Zuspruch.
Vernetzung bringt bessere Lösungen
Svenja Reiß von der Münchner Verkehrsgesellschaft MVG etwa findet den MDS „inspirierend“. Sie verweist auf die Aufgaben, vor denen die Landeshauptstadt steht: Bis 2035 will München klimaneutral sein. Aber 2022 stand ein Autofahrer in der Stadt im Schnitt 74 Stunden im Stau. Dazu kommen pro Woche 90 Minuten für die Parkplatzsuche. Reiß leitet bei der MVG den Bereich Strategie Mobilität. Die Stadtwerke sind Mitglied der MDS-Community, weil man ohne Vernetzung nicht mehr weit kommt.
Die Stadt braucht Lösungen – auch für die 500.000 Pendler, die täglich nach München fahren. „Wir messen sehr genau, wie viele Tickets wir verkaufen und wie viele Menschen U-Bahn fahren. Aber wir wissen zu wenig darüber, warum sie das tun“, erklärt Reiß.
Komplexe Thematik: Wer fährt wann womit?
Über das Warum grübelt auch René Kelpin in Berlin. Er verantwortet im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt eine Clearingstelle für Verkehrsdaten des Bundesverkehrsministeriums. Am Telefon erklärt er, wie komplex das alles ist: Arbeit, Familiäres, Privates wie Konzerte, Events, aber auch Wetter, Jobs, Restaurants, Shops, verfügbare Mobilitätsoptionen wie der Besitz eines Autos oder eines ÖPNV-Abos, das Angebot von Radwegen und Leihrädern – das alles beeinflusse, wie und mit welchen Verkehrsmitteln sich Menschen bewegen.
Der Mathematiker beschäftigt sich mit personenbezogenen Daten wie Alter, Wohnort, Einkommen und Bildungsstand. In Verbindung mit Bewegungsdaten sind das hochkritische Informationen aus Sicht des Datenschutzes, wie Kelpin sagt. Sie sind aber auch die Basis, um das Alltagsverhalten zu verstehen. Kelpin hält Initiativen wie den MDS für „super-, super-wichtig“. Den Satz „Google weiß das sowieso schon“ mag er nicht mehr hören.
Für die Verkehrswende und ein solides Verständnis der Mobilität brauche das Land „Daten, Daten, Daten“.
Heterogene Daten zusammenführen
Als Handicap wertet er, dass die deutsche Datenlandschaft der Mobilität sehr divers und heterogen sei. „Es macht Sinn, das alles zusammenzuführen“, meint der Datenprofi. Ein Punkt ist ihm wichtig: Nötig sei ein „anderes Mindset“ zur Mobilität und ihren Wirkungen.
Jutta Nubbemeier formuliert das ähnlich. Auch sie hält die Idee MDS für spannend. Nubbemeier ist Hauptniederlassungsleiterin bei der Kühne+Nagel AG. „Seit das Thema GPS aufkam, haben wir inhouse alles digitalisiert, was geht“, berichtet die Managerin. Jeder Player ihrer Branche habe es genauso gemacht, eine eigene Digitalstrategie nur für sich selbst gebastelt. Man baute „Datensilos“ auf.
Weniger Leerfahren, Standzeiten und CO2
In der Pandemie hatte das dramatische Folgen: gestörte Lieferketten, Versorgungslücken, Kostensprünge. Nubbemeier sagt, jeder Amazon-Kunde könne heute in Echtzeit verfolgen, wo die Sendung mit der Blukar-LED-Stirnlampe steckt. Genau das brauche man auch für die Slots der Hafenterminals, für die See- und Luftfracht. „Das alles zusammenzubringen, das ist die große Challenge“, sagt sie. Das würde Leerfahrten und Standzeiten ersparen, die Emissionen senken.
„Datenkontrolle behalten“
MDS-Chef Miethaner arbeitet daran. Punkt eins auf seiner To-do-Liste: um Vertrauen werben. Das tat er auch Anfang Mai 2023 auf der Sitzung des IHK-Verkehrsausschusses. Miethaner listete auf, was den MDS so besonders macht. Erstmals sei es möglich, „intermodale Mobilität“ zu verwirklichen. Man sorge für fairen und wertebasierten Datenhandel. Ein Softwaretool, der Konnektor, schütze den Datenaustausch vor Zugriffen Dritter. Die Wertschöpfung bleibe bei den Firmen, sie behielten die volle Datenkontrolle.
Der Ausschussvorsitzende Georg Dettendorfer äußerte sich skeptisch. „Die Idee ist sicher gut. Das Problem ist, dass nicht einmal der Datenaustausch mit unseren Kunden funktioniert“, meinte der Spediteur. Miethaner sieht den MDS aber ganz klar auf der Erfolgsspur. Die Teilnehmerzahl hat sich seit Beginn 2023 auf etwa 150 mehr als verdoppelt.
Neues Tool: Connector-as-a-Service
Dafür hat der MDS auch viel getan. Das neue Tool „Connector-as-a-Service“ macht den Einstieg technisch sehr viel einfacher. Auf der MDS-Website findet sich nun ein Datenkatalog, der zeigt, was die Community im Angebot hat. BMW, Mercedes und VW füttern das System mit „Local-Hazard-Informationen“, die zeigen, wo Scheibenwischer hochdrehen oder Bremsen glühen. Aus Daten der Mobilfunkanbieter lassen sich Bewegungsmuster bilden.
Verknüpft mit Mobilithek des BMDV
Was das Ganze noch attraktiver macht: Seit Ende August 2023 ist der MDS mit der Mobilithek des Bundesverkehrsministeriums verknüpft, circa 180 statische Datenangebote sind nun auch über den MDS abrufbar. Im Frühjahr 2024 sollen dynamische Daten der Mobilithek folgen.
MDS-Daten ermöglichen neue Gefahren-App
In Berlin glaubt man an den MDS. Das Bundesverkehrsministerium schreibt: „Wir wollen mehr – mehr Teilnehmer und mehr Use Cases.“ Stolz ist man im Ministerium auf ein Start-up, das über den MDS Daten eines Autokonzerns nutzt, um mit seiner App vor Gefahrenstellen zu warnen.
Menschen besser in Mobilitätswende einbinden
Die große Stunde für den MDS, davon ist Miethaner überzeugt, komme mit der Mobilitätswende. Bis 2030 sollen hierzulande 15 Millionen E-Autos fahren und 1 Million Ladesäulen stehen. Das funktioniere nur, glaubt der MDS-Chef, wenn die Autofahrer in Echtzeit wissen, ob die Ladesäulen auch frei sind und funktionieren. Die „Frustquote“ liege hier noch bei 30 Prozent.
Kooperation mit Wirtschaft erwünscht
Miethaner sieht weitere spannende Anwendungsfälle. So kann der Parkplatzsuchverkehr reduziert werden, indem Autofahrer über die Belegung der Großparkplätze informiert werden, die 300 deutsche Bahnhöfe bieten. Daten über den Fahrstil der Autofahrer könnten zu gerechteren Versicherungstarifen führen. Auch Unternehmen, die noch keinen konkreten Plan haben, könnten zum MDS Kontakt aufnehmen, versichert Miethaner: „Wir vermitteln gern.“
Projekt Mobility Data Space (MDS)
Mehr Informationen zum Projekt Mobility Data Space finden sich auf der Website.