Standortpolitik

Die Versicherung als Retter

Passionsspiele Oberammergau 2022/Birgit Gudjonsdottir ©
Einzug in Jerusalem – 110 Vorstellungen gaben die Oberammergauer 2022

Einst zog die Pest durch Europa und die Oberammergauer gelobten Passionsspiele zum Dank und weiteren Schutz. Heute ist das Ereignis auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Region, wie die gerade beendete Spielzeit zeigt.

ULRICH PFAFFENBERGER, Ausgabe 11/2022

Eine glücklich überstandene Pest veranlasste einst die Oberammergauer zu einem Gelübde. Um in Zukunft von derlei verschont zu bleiben, versprachen sie, alle zehn Jahre ein Passionsspiel aufzuführen. 1634 war Premiere. Aus dem Gelübde ist seither auch ein Geschäft geworden. Besucher aus aller Welt hinterlassen mit Übernachtungen, Verzehr und allem Drum und Dran einen mächtigen wirtschaftlichen Eindruck in der Voralpengemeinde.

Pandemie als Versicherungsfall

Für die turnusgemäßen Passionsspiele 2020 hatten die Oberammergauer erstmals mit einer Ausfallversicherung vorgesorgt und dabei – gelenkt vom Zufall oder von Gottes Hand? – auch eine »Pandemie« als Versicherungsfall inkludiert. »Wir haben das einfach mit angekreuzt, damit wir komplett abgesichert sind«, erinnert sich Walter Rutz, Geschäftsführer der Passionsspiele Oberammergau Vertriebs GmbH & Co. KG. »Das hat uns – und die Gemeinde! – dann gerettet, als wir absagen und verschieben mussten.«

Rückabwicklung 450.000 vorverkaufter Tickets für 2020 

Die durchgehende Tradition seit 1634, das monumentale Passionstheater – mit 4.500 Sitzplätzen weltweit die größte Freilichtbühne mit überdachtem Zuschauerraum – und die große Leidenschaft der Einheimischen für ihr Spiel ziehen jedes Mal bis zu eine halbe Million Zuschauer nach Oberammergau. Die 450.000 im Vorverkauf abgesetzten Tickets für 2020 mussten komplett rückabgewickelt werden, gleichzeitig mussten aber schon die Vorbereitungen für 2022 beginnen, wohin die Neuaufnahme terminiert wurde. Die Versicherung erwies sich als Rettung. Zumal noch im Januar dieses Jahres unklar war, unter welchen Bedingungen Aufführungen möglich sein würden.

550 Millionen Euro Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt

Der wirtschaftliche Hebel, den die Passionsspiele anlegen, ist ziemlich mächtig. Allein für die Reise gibt jede Person im Durchschnitt 1.350 Euro aus, 40 Prozent davon für die Anreise, zitiert Rutz aus einer Studie zur Umwegfinanzierung durch die Veranstaltung. Das addiert sich mit allen anderen Effekten zu einem Beitrag der Spiele zum Bruttoinlandsprodukt von knapp 550 Millionen Euro. »Der Löwenanteil davon bleibt in Bayern«, sagt der Geschäftsführer.

Gerade in einer Region wie den Ammergauer Alpen und dem Werdenfelser Land, die nicht groß mit Industrie gesegnet sei, machten sich die deutschlandweit ungefähr 1,5 Millionen zusätzlichen Übernachtungen, die überwiegend in Oberbayern stattfinden, in Passionsjahren stark bemerkbar.

»Once-in-a-lifetime-Erlebnis«

In der Vermarktung erweist sich die Seltenheit des Ereignisses als überaus anziehend – egal, auf welchem Markt Geschäftsführer Rutz und sein Team um Gäste werben. In der Vergangenheit erwiesen sich dabei vor allem die USA als guter Boden. »Für viele Amerikaner ist Oberammergau ein Once-in-a-lifetime-Erlebnis«, berichtet Rutz aus langjähriger Erfahrung. Die US-Amerikaner gehörten traditionell zu den größten ausländischen Kontingenten. Ihr pandemiebedingtes Fernbleiben machte sich auch in der verschobenen Saison 2022 bemerkbar. Was aber aus Sicht der Veranstalter einen positiven Nebeneffekt hatte: »Vor allem inländische Besucher versuchten in der Vergangenheit erst gar nicht, zu den Spielen zu kommen. ›Da bekommst eh’ keine Karten‹, war ein verbreitetes Vorurteil.«

90 Prozent der Tickets verkauft

Wenn Rutz Corona also überhaupt etwas Positives abgewinnen kann, dann ist es die Tatsache, dass 70.000 im Ausland nicht abgerufene Tickets nun auf dem Inlandsmarkt zur Verfügung standen. »Tatsächlich ist der deutsche Markt endlich wieder angesprungen«, freut er sich, »vor allem auch, weil Mundpropaganda funktioniert hat: ›Da musst du hin, das musst du sehen‹ – das hat gewirkt.« So stand am Ende der Saison eine Auslastung von mehr als 90 Prozent. »Das muss man in der kurzen Zeit erst einmal schaffen«, findet Rutz.

Gespart wird beim Kauf von Andenken

Drei Branchen sind es vor allem, die von der Wirtschaftskraft der Passionsspiele profitieren: Gastronomie, Hotellerie und Transportgewerbe. Eingebrochen sind die Einkäufe »nebenher«, wie Andenken oder Merchandise-Artikel. Auch die Werke der bekannten Herrgotts- und Krippenschnitzer fanden nur noch punktuell Abnehmer. »Wenn man spart«, sagt Geschäftsführer Rutz, »dann spart man dort.«

Auf die Sogwirkung der Passion indes vertrauen einzelne Betriebe und Dienstleister genauso wie die Gemeinde. Denn neben der spirituellen Existenzsicherung über das erfüllte Gelöbnis tragen die Passionsspiele letztlich fundamental zur Leistungsfähigkeit des Standorts bei. Der kann es sich dann auch leisten, über die Zeit hinweg kulturelle Angebote und Veranstaltungen zu unterstützen, auf deren Nährboden die nächste Generation heranwächst, die künftig auf den Brettern der Passionsbühne steht oder davor im Publikum sitzt.

Fast 1.800 Mitwirkende

Bei fünf Spieltagen in der Woche und mehr als 100 Aufführungen insgesamt ist das Mitspielen bei allem historischen Bewusstsein nicht mit ehrenamtlicher Beteiligung allein zu stemmen. Auf rund 20 Millionen Euro beziffert Rutz die ausgezahlten Honorare für die fast 1.800 Mitwirkenden.

Was die touristischen Betriebe in der Region angeht, galt vor 50 oder 60 Jahren noch die Überschlagsrechnung, dass die Erträge aus einem Spieljahr dazu ausreichen, die folgenden neun spielfreien Jahre zu überbrücken. Diese Kalkulation, so Rutz, habe vermutlich schon damals nicht gestimmt, heute gehe sie auf keinen Fall mehr auf. Gerade die Hotellerie habe längst Konzepte entwickelt, um eine solide Auslastung unabhängig von der Passion sicherzustellen. Mit weiteren Veranstaltungen »zwischen den Passionen« habe der örtliche Tourismus zudem neue Anziehungspunkte geschaffen.

Auch an Land gezogen: Internationale Fachmesse 

Als Erfolg verbucht der Geschäftsführer, dass es Oberammergau gelungen ist, den diesjährigen German Travel Mart (GTM) auszurichten, eine jährliche internationale Fachmesse der Deutschen Zentrale für Tourismus. »Diese Chance haben viele genutzt. Das hat uns mit zahlreichen Einkäufern und Veranstaltern zusammengebracht, denen wir unser Produkt über die Passion hinaus schmackhaft machen konnten.«

Konkurrenz mit Festspielen und Festivals

Dies ist in einem verstärkten Wettbewerb auch erforderlich. Waren die Passionsspiele früher einzigartig, stehen sie heute in Konkurrenz mit Festspielen von Bayreuth bis Bregenz und – bei der jüngeren Generation – mit neu ausgerichteten Festivals und Events, bei denen der historische Hintergrund weniger zählt. »Es ist nicht so, dass die Kunden sagen: ›Dieses Wochenende sind wir in Salzburg, nächstes Wochenende in Verona und die Woche drauf in Oberammergau‹«, betont Rutz. »Da bleibt heute nur noch ein Ziel übrig – und wir werden uns sehr anstrengen, dass wir das für viele Menschen sind.«

Die 42. Oberammergauer Passionsspiele – Positive Bilanz

Bei den 42. Oberammergauer Passionsspielen fanden von 14. Mai bis 2. Oktober 2022 insgesamt 110 Vorstellungen statt. Es wurden rund 412.000 Tickets verkauft, was einer Auslastung von 91 Prozent entspricht.

Etwa 30 Prozent der Besucher kamen aus dem Ausland, vor allem aus den USA und anderen englischsprachigen Ländern wie Großbritannien, Kanada, Australien und Südafrika. Die übrigen 70 Prozent der Gäste stammten aus dem deutschsprachigen Raum.

Die Passionsspiele sollten ursprünglich 2020 stattfinden, mussten aber wegen Corona verlegt werden. »Die Verschiebung ins Jahr 2022 war genau richtig«, sagt der Oberammergauer Bürgermeister Andreas Rödl (CSU). »Mit Blick auf die anstehende Inflation und deren Auswirkungen haben wir exakt den richtigen Zeitpunkt erwischt.«

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