Standortpolitik

IHK-Vollversammlung: "Raus aus dem Jo-Jo-Lockdown"

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Blick zurück auf fünf erfolgreiche Jahre – IHK-Präsident Eberhard Sasse am Rednerpult

Auf der letzten Sitzung der Vollversammlung in dieser Wahlperiode zieht IHK-Präsident Eberhard Sasse Bilanz. Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl fordert eine Öffnungsperspektive für die Wirtschaft.

Martin Armbruster, Ausgabe 04/2021

Vizepräsident Detlef Dörrié wies eigens darauf hin: Die jüngste Sitzung der IHK-Vollversammlung war außergewöhnlich. Wie wichtig dieser Termin für die IHK war, zeigte, dass die ehemaligen Hauptgeschäftsführer Wilhelm Wimmer und Peter Driessen virtuell im Börsensaal mit dabei waren. Zum letzten Mal tagte das Plenum in dieser Zusammensetzung. Zum letzten Mal hatte der scheidende Präsident Eberhard Sasse die Regie. Und fast auf den Tag genau jährte sich an diesem 17. März 2021 die Coronakrise in Bayern, die am 16. März 2020 mit dem ersten Lockdown begonnen hat und deren Ende noch immer nicht in Sicht ist.

Corona – was sonst – diktierte Ablauf und Inhalt dieser hybriden Sitzung. Die Mehrheit der Teilnehmer wurde per Videokonferenz zugeschaltet. Da die IHK eine effektive Teststrategie als Grundvoraussetzung für eine verantwortungsvolle Öffnungsperspektive sieht, war bei der Vollversammlung ein Schnelltest die Eintrittskarte für alle Unternehmerinnen und Unternehmer, die persönlich teilnahmen.

Leidenschaftliche So-geht-es-nicht-weiter-Rede

Ein zentraler Punkt der Sitzung war auf der Agenda ganz nüchtern formuliert, als »Bericht der Hauptgeschäftsführung«. Was Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl dann in einer leidenschaftlichen So-geht-es-nicht-weiter-Rede dem Plenum vortrug, war aber viel mehr als das. Es war eine Zäsur. Bislang hatte die IHK die Lockdown-Politik von Bund und Freistaat weitgehend mitgetragen. Darunter zog Gößl nun einen Schlussstrich. Er forderte von der Politik eine Kurskorrektur, ein Ende des »Jo-Jo-Lockdowns«, der unternehmerische Planungen in den betroffenen Dienstleistungsbranchen unmöglich mache und rund 150.000 bayerische Selbstständige und Betriebe in eine Existenzkrise zwinge.

Sechs parallel laufende Wirtschaftshilfen

Gößl betonte, die IHK übernehme als Solidargemeinschaft der Wirtschaft die Verantwortung, gerade die schwerstbetroffenen Unternehmen zu unterstützen: mit Informationen und Rat in der Service-Hotline, aber auch mit konkreter Tat durch die Abwicklung der staatlichen Hilfsprogramme für ganz Bayern. Derzeit handelt es sich um sechs parallel laufende Programme: die Überbrückungshilfen II und III, die Neustarthilfe, die November- und Dezemberhilfe sowie die Bayerische Oktoberhilfe.

190.000 Anträge bearbeitet, mehr als 2,5 Milliarden Euro ausgezahlt

In Summe habe die IHK seit Juli 2020 fast 190.000 Anträge bearbeitet und mehr als 2,5 Milliarden Euro ausgezahlt. Praktische Nothilfe, geleistet von 150 eigenen Mitarbeitern, mit tatkräftiger Unterstützung von Landesbeamten, Mitarbeitern der Messe München und von weiteren Partnern.

Gößls Worten zufolge können staatliche Hilfen aber trotzdem niemals ausfallende Umsätze ersetzen. So spitze sich die Krise seit den Schließungen im Herbst letzten Jahres immer weiter zu. Soloselbstständige und Kleinstbetriebe seien am stärksten betroffen. Ein Licht am Ende des Tunnels sei für sie nicht erkennbar. Denn steigende Inzidenzzahlen erzwingen nach dem bisherigen Politikansatz erneute Verschärfungen bis bin zu einem nächsten harten Lockdown.

Gößl: »Die Wirtschaft braucht eine nachhaltige Öffnungsperspektive«

Die Politik müsse ausbalancierte Lösungen zwischen Schutz und Freiheit finden, so Gößl weiter. Die deutsche Krisenpolitik habe zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 zunächst überzeugt, auch im internationalen Vergleich. Offensichtlich machte sich dann aber die Illusion breit, man habe die Lage im Griff. Dass Deutschland in der Folge ausgerechnet im technisch-organisatorischen Krisenmanagement versagt, nämlich bei der Logistik rund um FFP2-Schutzmasken, Testungen und Impfungen, führe in der gesamten Gesellschaft zu drastischen Akzeptanzverlusten. Die Geduld und das Verständnis der Kinder und Eltern, der Senioren, der Beschäftigten und der Unternehmer sei jetzt am Ende. »Die Wirtschaft braucht eine nachhaltige Öffnungsperspektive«, betonte Gößl. Ansonsten verbreite sich das Gift der Frustration und Resignation.

Kontrolliert zurück in die Normalität

Mit verantwortungsvollen, kontrollierten Schritten zurück in die Normalität – dieses Konzept will Gößl der Politik auf den Tisch legen, und die Vollversammlung sprach ihm dabei die volle Unterstützung zu. Punkt eins ist das Ende der Fixierung auf die Inzidenz. Wie vom RKI oder der LMU empfohlen und etwa in der Schweiz praktiziert, soll es auch hierzulande ein »Cockpit« geben. Zusätzliche Messinstrumente wie die Inzidenzwerte nach Altersgruppen, die Rate positiver Testergebnisse, die Reproduktionszahl, Nachverfolgungsraten der Gesundheitsämter, Krankenhauseinlieferungen, Intensivfälle oder verfügbare Bettenkapazitäten sollen die Pandemiebekämpfung steuern. Kernziel bleibe dabei immer, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden.

Verantwortungsvolle kommunale Lösungen

Punkt zwei ist das, was Tübingen mit dem Pilotprojekt »Öffnen mit Sicherheit« mit Genehmigung der dortigen Landesregierung schon erfolgreich vormacht: Der Nachweis auf dem Handy oder auch Ausdruck über einen negativen Corona-Test ist die Eintrittskarte für Einkaufen mit Maske, für Essen und Trinken, für Kino, Museum, Kleinkunst oder Theater. In den Innenstädten wäre wieder Leben möglich – mit verantwortungsvollen kommunalen Lösungen, unabhängig von starren Inzidenzzahlen.

Präsident Sasse bot dem Plenum einen Rückblick auf die vergangenen fünf Jahre. Er startete mit der hervorgehobenen Rolle der IHK in der Pandemie, die durch das Vertrauen der Bayerischen Staatsregierung in die Leistungsfähigkeit der Selbstverwaltung der Unternehmen begründet sei.

Höhepunkte der Amtszeit

Sasse erinnerte an die intensiven Beratungen der Staatsregierung bei der Reform der Erbschaftsteuer 2016, das von der IHK München entwickelte und 2018 gesetzlich verankerte 3+2-Ausbildungsmodell für Geflüchtete oder das persönliche Gespräch mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in Berlin über die praktische Ausgestaltung des Fachkräftezuwanderungsgesetzes.

Als einen Höhepunkt seiner letzten Amtszeit bezeichnete Sasse die Generalsanierung des IHK-Stammhauses an der Max-Joseph-Straße. Diese Investition war in jeder Hinsicht richtig. Die Sanierung sei unter anderem von Bayerns Wissenschaftsminister Bernd Sibler (CSU) ausgezeichnet worden.

Großartige Chance für die Stadt

Um die Zukunft, um die Nach-Corona-Zeit, ging es dann auch. Messechef Klaus Dittrich und Hauptgeschäftsführer Gößl warben für eine Beteiligung der IHK am Bündnis für die »IAA Mobility« im September 2021. Dittrich sprach von einer großartigen Chance für die Stadt. Gößl rechnete vor, dass jeder Euro, den die Messe verdiene, zehn zusätzliche Euro Wertschöpfung in der gesamten Region auslöse. Die erste IAA in München habe ein überzeugendes Konzept. »Innovative Mobilitätskonzepte mit Nachhaltigkeit und sozialen Aspekten zu vereinen – das ist genau der Ansatz, der Zukunft verspricht«, erklärte der Hauptgeschäftsführer. Das Plenum sah das ebenso und stimmte für den Eintritt in das IAA-Bündnis.

Eine weitere wichtige Weichenstellung war die Verabschiedung der Positionen zur Bundestagswahl. »Wir müssen zu allen Themen sprechfähig sein«, erklärte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Peter Kammerer. Mit diesem Beschluss ist die IHK-Position zu 20 Wirtschaftsthemen demokratisch legitimiert. Die IHK könne damit auf jeden Kurs der politischen Debatte reagieren.

Drei Megathemen im Bundestagswahlkampf

Kammerer geht davon aus, dass drei Megathemen den Wahlkampf bestimmen werden: wirtschaftlicher Neustart, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Gößl sagte, Corona habe die digitalen Mängel des Landes deutlich gemacht. »Beim E-Government ist Deutschland grottenschlecht. Im EU-Vergleich nicht unter den ersten 20 – das darf so nicht bleiben«, kritisierte der Hauptgeschäftsführer.

Schließlich wird sich die IHK in diesem Jahr selbst erneuern. Am 9. April beginnt die IHK-Wahl. Vizepräsident Dörrié meldete schon vorab Rekordzahlen: 774 Kandidaturen, darunter 183 Bewerbungen für die Vollversammlung. Das gab es noch nie. Der scheidende Präsident Sasse sieht darin den Lohn guter Arbeit. Er hinterlässt ein gut bestelltes Feld. »Es war zusammengefasst eine intensive und zugleich fantastische Zeit in der IHK-Verantwortung«, so Sasse. Mit persönlichen Dankesworten verabschiedete er sich schließlich von langjährigen engagierten Wegbegleitern im IHK-Ehrenamt.

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