Standortpolitik

Es wird eng

InfraServ Gendorf ©
Druck auf den Standort – Chemiepark Gendorf

Verkehrsanbindung, Gaskrise, Energiewende – Wirtschaftsvertreter und Politiker diskutieren im IHK-Regionalausschuss Altötting-Mühldorf über den Erhalt der Chemieindustrie.

MARTIN ARMBRUSTER, Ausgabe 09/2022

Chemiedreieck – quo vadis?« Diese Frage stand im Mittelpunkt der Sitzung des IHK-Regionalausschusses Altötting-Mühldorf Mitte Juli 2022. Ziel war es, ein Szenario zu verhindern, das die Wochenzeitung »Die Zeit« sehr anschaulich beschrieben hat als Verwandlung Deutschlands in »ein Freilichtmuseum stillgelegter Chemieanlagen«.

Mehr als 50.000 Arbeitsplätze wären betroffen

Nach Einschätzung der IHK-Ausschussvorsitzenden Ingrid Obermeier-Osl steht noch weit mehr auf dem Spiel als knapp 20 Chemieunternehmen mit ihren rund 15.000 Jobs. Sollte die Chemieindustrie aus Südostbayern verschwinden, wären auch Einzelhandel, Dienstleister und Gastronomie und damit weit mehr als 50.000 Arbeitsplätze betroffen.

Das würde für den IHK-Bezirk Altötting–Mühldorf einen Strukturwandel bedeuten wie vor Jahrzehnten im Ruhrgebiet. Dieser Entwicklung wolle man nicht tatenlos zusehen.

IHK-Hauptgeschäftsführer Manfred Gößl fuhr gemeinsam mit IHK-Präsident Klaus Josef Lutz zur Sitzung, um persönlich mit Vertretern des Regionalausschusses und der Chemieunternehmen zu sprechen. Es war der Coronalage geschuldet, dass nur drei Vertreter der Politik auf dem Podium saßen: die beiden Bundestagsabgeordneten Sandra Bubendorfer-Licht (FDP) und Andreas Mehltretter (SPD) sowie Altöttings Landrat Erwin Schneider (CSU). Außerdem waren Bernhard Langhammer, Sprecher der Initiative ChemDelta Bavaria, Christoph von Reden, Vorsitzender der Geschäftsleitung von InfraServ GmbH & Co. Gendorf KG, und Norbert Winkhofer, Direktor Wacker Chemie AG, dabei.

Gleich mehrere Probleme

Die Chemieindustrie leidet unter mehreren Problemen, die sich gegenseitig verstärken. Problem Nr. 1 ist die »ABS 38«. Das Kürzel steht für die geplante Bahn-Ausbaustrecke München–Mühldorf– Freilassing – und für eine unglaubliche Planungspleite. Der zweigleisige und elektrifizierte Ausbau der Strecke sollte bis 2030 fertig sein. Nun sorgt ausgerechnet der Versuch, die Planungszeiten gesetzlich zu beschleunigen, für weitere Verzögerungen. Das Ganze stehe frühestens 2033, sagte IHK-Regionalausschussvorsitzende Obermeier-Osl. Es sei zweifelhaft, ob der Ausbau dann überhaupt noch komme oder genügend finanzielle Mittel vorhanden seien.

Warnung vor Nord-Süd-Gefälle der Gasversorgung

Problem Nr. 2: die Gaskrise. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) warnt vor einem »Nord-Süd-Gefälle der Gasversorgung«. Tenor: Wenn es eng wird, trifft es vor allem Bayern hart. Der Freistaat wird zum großen Teil über den österreichischen Gasspeicher Haidach bei Salzburg versorgt. Er soll nun auch ans österreichische Gasnetz angeschlossen werden und ist bislang nur mäßig gefüllt. Sollte Bayern das Gas ausgehen, könnten andere Bundesländer kaum helfen, weil laut VCI Leitungen fehlen und sich kein Flüssiggas über die Flüsse nach Bayern schiffen lässt.

»Maximale Unsicherheit«

IHK-Hauptgeschäftsführer Gößl beklagte maximale Unsicherheit. »Egal, ob Gas, Energie, Inflation oder Pandemie: Niemand weiß, wie es weitergeht. Das gab es noch nie«, stellte er fest. Die Stimmung in der Wirtschaft habe sich seit einem optimistischen Frühjahr komplett gedreht. Nun sei die Politik gefordert. Das Mindeste, was sie jetzt tun könne, sei die Verlängerung der Laufzeiten der letzten deutschen Kernkraftwerke.

IHK-Präsident Lutz ging mit der Politik hart ins Gericht. Man habe mit absurden Debatten – etwa über die Frage, drehen wir uns das Gas selbst ab oder nicht? – Zeit verspielt. Während Italien mit Katar einen Liefervertrag abgeschlossen habe, komme die Bundesregierung bislang »mit wenig bis nichts rüber«.

Fuel-Switch problematisch

Was jetzt helfe: den Fuel-Switch – die Umstellung von Gas auf Öl – schnell zu ermöglichen. Auch da befürchtet Lutz Engpässe. Es brauche Zeit, bis die OPEC-Staaten ihre Ölfördermengen ausweiten könnten. »Es ist ein völliges Desaster«, schimpfte der IHK-Präsident.

Ohne Gas keine Milchtankwagen

Niemand im Ausschuss wollte da widersprechen. Hermann Jäger, Chef der Milchwerk Jäger GmbH in Haag, sagte, man könne sich die »Wer bekommt im Ernstfall wieviel Gas«-Debatten sparen. Komme kein Gas mehr, komme einen Tag später auch kein Milchtankwagen mehr in sein Werk. Dann sei es mit der Produktion vorbei. Mit dem dann vorhandenen Öl könnten höchstens noch die Silos leer gefahren werden.

Die FDP-Abgeordnete Bubendorfer-Licht sprach sich gegen Denkverbote aus. Sie sagte, man dürfe Atomkraft als Brückentechnologie nicht ausschließen. Unternehmen bräuchten eine sichere Energieversorgung. Das erhalte auch viele Jobs.

Dass SPD-Mann Mehltretter widersprach, ist bemerkenswert, weil beide Abgeordneten die Ampelkoalition repräsentierten. Mehltretter sprach sich als Einziger in der Runde für das fristgerechte Abschalten der Atomkraftwerke aus. Der Weiterbetrieb bringe kein spürbares Mehr an Energie. Mehltretter wehrte sich zudem gegen den Vorwurf, die Bundesregierung handle planlos. »Es besteht ein Energiekonzept«, betonte der SPD-Politiker. So seien die Genehmigungen für LNG-Terminals drastisch beschleunigt worden.

»Schlecht gemanagte Energiewende«

Wacker-Sprecher Winkhofer erklärte, der Krieg verstärke nur die Krise, die das Chemiedreieck bedrohe. Er leitete damit über zu Problem Nr. 3: der schlecht gemanagten Energiewende. Bayern muss seit dem Ausstieg aus der Kernkraft ein Drittel seines Strombedarfs importieren. Die Kosten für diese Einfuhren sind explodiert. Die Preise lagen in diesem Februar schon vor Kriegsbeginn um rund 125 Prozent über dem Vorjahr.

»Vor komplettem Verlust Wettbewerbsfähigkeit«

Die Chemieunternehmen Südostbayerns verbrauchen fast so viel Strom wie ganz München. InfraServ-Chef Christoph von Reden schilderte die Folgen ungeschminkt: »Wir stehen vor dem kompletten Verlust unserer Wettbewerbsfähigkeit.« Der Preisdruck gefährde das Geschäft mit Asien, wo rund 60 Prozent der Kunden sitzen und der Weg zur chinesischen Konkurrenz nicht weit sei.

Wacker-Vertreter Winkhofer unterstrich diese Aussage. Als Hersteller von Polysilizium, dem Grundstoff für Halbleiterchips und Solarzellen, sei man Weltspitze. Aber: »Wir konkurrieren mit Firmen, die einen Strompreis von zwei oder drei Cent haben.« Auf Dauer sei das nicht durchzuhalten.

ChemDelta-Sprecher Langhammer wies darauf hin, dass der Standort auch im nationalen Wettbewerb unter Druck stehe. Die Industrie werde Richtung Küste wandern, wo es viel grünen Windstrom und bald auch grünen Wasserstoff gebe.

Klimaneutralität bräuchte zwei-bis dreimal so viel Strom

Er kam damit zum Standortproblem Nr. 4: dem Ziel der Klimaneutralität. Der Freistaat will bis 2040 klimaneutral werden. Fünf Jahre früher als der Bund, zehn Jahre schneller als die EU. Laut Langhammer kann die chemische Industrie ihre Prozesse klimaneutral umstellen – braucht dafür aber zwei- bis dreimal so viel Energie. Nur weiß niemand, wo der zusätzliche Strom herkommen soll.

Nur 6 neue Windräder in 2021

Energieforscher haben errechnet, dass in Bayern bis 2040 pro Woche zwei neue Windräder in Betrieb gehen müssten, um den zusätzlichen Bedarf an grünem Strom zu decken. Tatsächlich gab es im Freistaat im gesamten Jahr 2021 einen Nettozuwachs von nur sechs (!) Windrädern.

Beim Ausbau der erneuerbaren Energien gebe es zwei Geschwindigkeiten, kritisierte IHK-Präsident Lutz: die deutsche und das Tempo der übrigen Welt. In anderen Ländern sei es normal, wenn ein neues Windrad nach zwölf Monaten stehe. In Deutschland brauche das fünf bis sechs Jahre, weil es immer noch ein dreistufiges Klageverfahren gegen Windkraft- und Solaranlagen gebe.

Teilung in zwei Strompreiszonen droht

Sicher ist nur: Es gibt keinen Plan B. Die Bayerische Staatsregierung hat sich gegen die »Monstertrassen« zur Übertragung der Energie aus dem Norden gewehrt. Heute fehlen sie, um Windstrom in den Süden zu transportieren. Weil der Netzausbau stockt, droht Deutschland die Teilung in zwei Strompreiszonen. Dann müssten die Firmen im Chemiedreieck noch mehr für den Strom bezahlen.

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