Städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen (SEM) sollen Bauland mobilisieren

Um großflächig Bauland zu mobilisieren, greifen Kommunen immer wieder auf das Instrument der Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme (SEM) zurück. Das bringt neue Flächen, aber auch Konflikte.
Eva Müller-Tauber, Ausgabe 06/2021
München im Jahr 2035: Am bisher ländlich geprägten Stadtrand im Nordosten ist auf 600 Hektar ein neues, dicht bebautes, lebendiges Stadtviertel entstanden. Mit Wohngebäuden, Geschäften, Cafés, Sportanlagen, mit Grünstreifen, landwirtschaftlichen Arealen, einem Badesee sowie U-Bahn- und Tramanschluss – klimaneutral, ökologisch, autoarm. Im Viertel finden 30.000 Menschen Platz zum Leben, bis zu 1.000 Beschäftigte haben hier ihren Arbeitsplatz. So ungefähr könnte das Gebiet innerhalb des Dreiecks Johanneskirchen/Daglfing/Riem in einigen Jahren aussehen, sollte der Münchner Stadtrat den Siegerentwurf des eigens für das Areal ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs zur Grundlage weiterer Stadtentwicklungsplanungen machen.
Chance auf »Konzept aus einem Guss«
Noch ist das eine Zukunftsvision. Klar ist aber schon heute: München wird oder besser: muss sich weiter verändern. Denn die bayerische Landeshauptstadt samt Landkreis zählt wegen ihrer Wirtschaftskraft und ihrer hohen Lebensqualität zu den Boomregionen in Deutschland. Immer mehr Menschen ziehen zu. Mieten und Kaufpreise für Flächen und Immobilien kennen seit Langem nur noch eine Richtung: nach oben. Vor diesem Hintergrund war es Andreas Eisele, dem Vorsitzenden des IHK-Ausschusses Immobilienwirtschaft, ein großes Anliegen, in einer Sitzung die Möglichkeiten der kommunalen Baulandmobilisierung zu diskutieren. Im Fokus stand dabei die Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme, kurz: SEM (siehe auch »Stichwort« unten). »Mit einer SEM haben wir die Möglichkeit, eine stimmige Gesamtplanung für ein komplett neues Stadtviertel zu erstellen«, sagt Elisabeth Merk, Leiterin des Referats für Stadtplanung und Bauordnung der Stadt München. Oft laufe man bei sehr großräumigen Planungen Gefahr, dass an den verschiedensten Stellen Einzelprojekte ohne Gesamtstruktur entstehen, die dann nicht zwingend zusammenpassen. »Hier aber können wir eine integrierte Planung schaffen, ein Konzept aus einem Guss.« Doch das Modell birgt Konfliktpotenzial.
In München wurden bereits SEMs umgesetzt, etwa beim Areal an der Domagkstraße im Münchner Norden, wo die Stadt alte Kasernenflächen vom Bund erworben hat. Hier gab es keine großen Reibungspunkte, »schließlich liegt es bei solchen Konversionsflächen auch im Interesse des Bundes – dem alleinigen Grundstücksvorbesitzer –, dass alles gut läuft«, erklärt Florian Rixner (54), Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei der Münchner ZIRNGIBL Rechtsanwälte Partnerschaft mbB. Bei der geplanten SEM NordOst Johanneskirchen/Daglfing/Riem hingegen gestaltet sich die Lage komplizierter.
Enteignung ist möglich
Zum einen handelt es sich um ein riesiges Neubauviertel, das entstehen soll. Zum anderen gibt es hier 200 private Grundeigentümer, darunter mehrere Landwirte, mit denen es zu verhandeln gilt. »Im Regelfall soll die Stadt bei einer SEM alle Flächen erwerben«, so Rixner, »aber für diese Zielgruppe individuelle Lösungen und gleichwertige Ersatzflächen zu finden, ist nicht einfach. Viele möchten ihre Betriebe an jetziger Stelle weiterführen.« Findet sich kein Kompromiss, darf die Stadt beim Instrument der SEM jene Eigentümer, die nicht verkaufen wollen und damit das ganze Projekt gefährden, in letzter Konsequenz enteignen.
Verschiedene Instrumentarien in Abwägung
Weiterer Streitpunkt: Die Grundstückspreise werden im Zuge einer SEM vorsorglich eingefroren. Dies erfolge weitgehend auf dem Niveau landwirtschaftlicher Nutzfläche, so die Kritik, also bei unter 100 Euro pro Quadratmeter. Die Preise für Bauland liegen jedoch um ein Vielfaches höher, sie bewegten sich bei 1.000 Euro pro Quadratmeter. »Es muss in jedem Einzelfall bewertet werden: Wie ist die Qualität des Baulands und welche Bauerwartung hat es? Je höher diese ist, desto höher der Wert«, erläutert Rixner. »Entsprechend dieser Qualität werden auch die allgemeinen Preissteigerungen berücksichtigt.«
Der Rechtsexperte sieht im Fall des Münchner Nordostens keine wirkliche Alternative zur SEM. Um Städtebauförderungsmittel zu bekommen, müsse die Kommune bestimmte städtebauliche Instrumente nutzen. »Aber eine Sanierung oder ein Stadtumbau sind hier nicht möglich, es kann nichts saniert oder umgebaut werden.« Außerdem wolle die Stadt ja nicht nur Bauland erwerben, sondern es müsse auch die notwendige Infrastruktur für eine solche Entwicklung geschaffen werden. Die Instrumentarien der Sozialgerechten Bodennutzung (SoBoN) genügten dafür nicht.
Insofern sei die SEM hier das passende Instrumentarium, schließt der Experte. Um eine solche Maßnahme starten zu können, müsse zudem die Allgemeinheit ein verstärktes Interesse daran haben, dass die Stadt wegen eines dauerhaft erhöhten Wohnraumbedarfs zeitnah in größerem Umfang neuen bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellt. »Dieses Kriterium ist ebenfalls erfüllt«, sagt Rixner.
Unterschiedliche Sichtweisen
Betroffene Grundstückseigner zeigen sich dennoch wenig begeistert. Sonja Dirl (54) vom Bayerischen Bauernverband, Kreisverband München, hat generell Verständnis dafür, dass mehr Wohnungen gebaut werden müssen. »Aber in dieser Größenordnung? Warum werden nicht kleinere Gebiete ausgewiesen, ein moderates Wachstum angestrebt?« Mit der SEM NordOst würden wichtige naturnahe Freiflächen geopfert und heimische Betriebe vertrieben. »Eigentum und Beruf sind bei uns untrennbar miteinander verbunden, ein Verlust von Flächen lässt sich kaum ausgleichen«, argumentiert Dirl. Durch eine SEM würden viele Flächen der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung für immer entzogen.
»Ehrlich miteinander reden«
Passende Grundstücke an anderer Stelle und in gleicher Qualität seien im Münchner Raum kaum oder nicht verfügbar – schon gar nicht zu den Preisen, die die betroffenen Eigentümer für ihre Flächen bekämen. Die Landwirte aus dem Stadtgebiet seien systemrelevant, lieferten einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit der Bürger. »Sie befinden sich jedoch seit Jahren in einer emotionalen Ausnahmesituation, wissen nicht, wie es weitergeht«, so Dirl.
Bäuerliche Betriebe bräuchten eine gewisse Vorlaufzeit für Umstrukturierungen sowie Planungssicherheit. Auch die Kommunikation mit der Stadt sei bisher alles andere als befriedigend verlaufen. »Um einen Konsens zu finden, müssten sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und ehrlich miteinander reden, endlich auch Einzelgespräche mit jedem Eigentümer stattfinden«, so Dirl.Aktuell befindet sich die SEM in der Phase der »vorbereitenden Untersuchungen«. In dieser wird geprüft, ob das neue Stadtviertel auch wirklich umsetzbar und finanzierbar ist und sich die weitere Entwicklung über Kooperationsverträge mit den Grundstückseigentümern umsetzen lässt.
Stadtgesellschaftliche Diskussion
Nur wenn dies nicht möglich ist, darf der Stadtrat eine SEM-Satzung veranlassen. »Ersteres hat für uns, wie ja auch im Baugesetzbuch vorgesehen, Priorität«, versichert Stadtbaurätin Merk. »Wir wollen mit den Grundstückseigentümern und alteingesessenen Anwohnern gemeinsam vorangehen, sie überzeugen, dass unsere Pläne gut sind, im Grunde alle profitieren.«Die Diskussion um Städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen sollte sachlich und frei von Emotionen geführt werden, mahnt der IHK-Immobilienausschuss-Vorsitzende Eisele: »Angefangen bei der langen Planungsdauer bis hin zum letzten Mittel der Enteignung – die Problematik dieser Maßnahmen ist hinlänglich bekannt. Dennoch können einzelne Maßnahmen zur städtebaulichen Neuordnung durchaus sinnvoll sein.« Daher müsse dieses Thema im Rahmen einer geforderten stadtgesellschaftlichen Diskussion erörtert und in der Folge vom Stadtrat mit Augenmaß abgewogen werden.
Eisele: »Für eine erfolgreiche Umsetzung sind Transparenz und Offenheit insbesondere im Umgang zwischen Kommune und Grundstückseigentümern unabdingbar. Mit Blick auf die Planungen zur SEM NordOst bin ich gespannt, wie und vor allem wann ein Konsens zwischen den Beteiligten gefunden werden kann und wie dieser aussehen wird.«
Stichwort: Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM)
Für Kommunen ist die Anfang der 1970er-Jahre eingeführte SEM ein gängiges Instrument der Stadtentwicklung. Die Vorgehensweise ist im Baugesetzbuch (BauGB §§165–171) festgeschrieben. Die förmliche Festlegung setzt voraus, dass es im öffentlichen Interesse liegt (§165 Abs.1 BauGB), die Entwicklungsmaßnahme einheitlich vorzubereiten und zügig durchzuführen. Die rechtlichen Möglichkeiten müssen wirklich erforderlich sein, kein anderes vertretbares Instrument (etwa ein städtebaulicher Vertrag) darf zur Verfügung stehen. Die öffentlichen und privaten Belange sind gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Besonderes Kennzeichen der SEM ist die Grunderwerbs- und Erschließungspflicht der Gemeinde (§166 Abs.3 BauGB). Zu deren Unterstützung dienen unter anderem das allgemeine und das besondere Vorkaufsrecht (§§24ff. BauGB) sowie die erleichterte Enteignung (§169 Abs. 3 BauGB).
Beispiel: »Heimat Hafner« in Konstanz – Erfahrungen mit der SEM
In Konstanz war die Entwicklung eines neuen Quartiers am Rande des Stadtteils Wollmatingen immer wieder im Gespräch. 2016 ging die Kommune das Projekt mit einer Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme (SEM) schließlich an.»Wir haben hier eine ähnliche Situation wie in München: Bezahlbarer Wohnraum wird zunehmend knapper, und das Preisniveau ist sehr hoch«, sagt Lukas Esper, Leiter Stabsstelle und Gesamtprojekt »Heimat Hafner« bei der Stadt Konstanz. Um das Problem zu entschärfen, wurden mögliche Lösungsansätze untersucht.
Als beste Lösung kristallisierte sich eine SEM auf der größten Siedlungserweiterungsfläche der Stadt heraus: »Heimat Hafner« ist ein aus rund 800 Flurstücken bestehendes Gebiet, von denen zu Beginn des Verfahrens rund 30 Prozent der Kommune gehörten. Viele Flächen werden landwirtschaftlich genutzt, befinden sich aber nicht im Eigentum der Landwirte.
Groß angelegter Planungsdialog
Um die Konstanzer früh für das Projekt zu gewinnen, veranstaltete die Stadt unter großer Beteiligung der Bürger einen Planungsdialog zum neuen Stadtteil. »Dessen Ergebnis ist ein innovativer und zukunftsweisender städtebaulicher Rahmenplan«, so Esper. Das entwickelte Konzept schafft auf etwa 60 Hektar Siedlungsfläche rund 3.300 Wohneinheiten und bietet auf 15 Hektar Entwicklungsmöglichkeiten für Gewerbebetriebe. Ein zentrales grünes Band mit im Schnitt etwa 50 Metern Breite bietet Raum für Frei- und Spielflächen, die die Bewohner des Quartiers mitgestalten. Projektleiter Esper sieht in der SEM ein Instrument, das Rechte und Pflichten gerecht verteilt, alles bekomme einen Rahmen und eine andere Verbindlichkeit: »Es gibt keinen Raum für Spekulationen, weil alles sehr transparent abläuft und das Baugesetzbuch viele Schritte des Prozesses vorgibt. Falls wir etwa mit den Gesamtmaßnahmen einen Gewinn erwirtschaften sollten, müssen wir diesen Gewinn anteilig an die Alteigentümer ausschütten. Einen Verlust wiederum trägt die Stadt.«
Für Eigentümer, die ihren Grund abgeben, versuche die Stadt einen gerechten Ausgleich zu schaffen. Und wer sein Eigentum behalten und selbst bebauen wolle, muss, wie gesetzlich vorgeschrieben, einen Ausgleichsbetrag für die Wertsteigerung an die Gemeinde zahlen, die sich durch die Entwicklung des Gebiets ergibt.
14 Jahre Projektlaufzeit
2024 soll die Grundstücksvergabe beginnen, 2038 die Maßnahme abgeschlossen sein. Bisher verläuft das Verfahren planmäßig. Dafür sieht Projektleiter Esper verschiedene Gründe: Zum einen sei die Bevölkerung generell überzeugt, dass in großem Umfang Wohnraum geschaffen werden muss. »Zum anderen wissen wir im Projekt genau, wo wir hinwollen. Nicht zuletzt deshalb, weil wir die Öffentlichkeit sowie Bürgerinnen und Bürger früh in die Planung eingebunden, in einigen persönlichen Gesprächsrunden die rund 350 Eigentümer informiert und grundsätzliche Fragen auch zum Finanzierungskonzept schon vor dem Bebauungsplanverfahren geklärt haben.«