„Wir brauchen mehr Tempo“
BIHK-Präsident Klaus Josef Lutz über die bundespolitische Bedeutung der Landtagswahl, das Ampel-Chaos und die Themen, in denen es die neue Staatsregierung besser machen muss.
Von Martin Armbruster, IHK-Magazin 07-08/2023
Herr Lutz, laut Umfragen sieht es aus, als würde die Landtagswahl ein Homerun für Bayerns Regierungsparteien. Welche Bedeutung hat diese Wahl für die Wirtschaft?
Ob das ein Homerun wird, hat der Wähler zu entscheiden. Jede Wahl hat eine spezifische Bedeutung. Aus Sicht der Wirtschaft ist diese Landtagswahl schon deshalb wichtig, weil sie auch ein Votum zur Bundespolitik sein wird. Landespolitik ist heute im Wesentlichen nur noch Umsetzungspolitik. Etwa 80 Prozent der wirtschaftsrelevanten Gesetze werden in Brüssel auf den Weg gebracht. Berlin setzt sie in nationales Recht um und sattelt dabei in aller Regel weitere Vorschriften drauf, exekutiert wird das dann in den Ländern.
Wie kommt es zu diesem stark bundespolitischen Bezug?
Ich spreche in diesen Tagen wirklich mit vielen Unternehmerinnen und Unternehmern und es geht immer um diesen Punkt: Die Politik der Ampel-Koalition bläst der Wirtschaft ins Gesicht, und das vor allem bei den Themen Energie, Arbeitskräfte sowie Bürokratie. Das bedroht die Wettbewerbsfähigkeit. Der Bundeskanzler hat von Zeitenwende gesprochen. Leider weiß keiner, wo wir uns hinwenden. Wo ist die grundlegende Neuausrichtung? Wie lautet jetzt die neue Agenda?
Politik hört Wirtschaft zu
Sie haben Gespräche mit den Spitzenkandidaten der Parteien geführt. Nimmt die Politik die Sorgen der Wirtschaft ernst?
Mein Eindruck ist schon, dass die Wirtschaft von der bayerischen Politik ernst genommen und gehört wird. Offen ist nur, ob wir mit unseren Vorschlägen über den Freistaat hinaus zum Bund und zur EU durchdringen. Was ich erfreulich finde: Alle Parteien wollen mit uns reden. Sie laden uns zu ihren Ausschuss-, Fraktions- und Präsidiumssitzungen sowie ihren Parteitagen als Gesprächspartner ein. Wir nehmen diese Termine wahr und versuchen, dort faktenbasiert unsere Punkte zu setzen.
Machen Sie da Vorschläge für Reformen und Bürokratieabbau?
Inzwischen ist es so weit, dass wir betonen müssen: Basis unseres Wohlstands ist die nachhaltig-soziale Marktwirtschaft. Das ist der Zukunftsgarant. Es gibt heute Professoren und Publizisten, die eine ökologisch orientierte Planwirtschaft fordern. Das ist ein Ansatz, der sich auch in so mancher Regulierung aus Brüssel und Berlin zeigt. Wenn das um sich greift, werden viele Menschen weiter Realeinkommen und Wohlstand einbüßen. Wir müssen dann auf die harte Tour lernen, dass es ohne Wettbewerb als Entdeckungsverfahren und marktgerechte Preise als zentrales Steuerungselement nur schlechter werden kann.
Forderung: Anreizsysteme statt EU-Dirigismus
Energie, Fachkräfte, Bürokratie – seit einem Jahrzehnt fordern die Unternehmen für diese Themen Lösungen. Sollte das nicht ein Weckruf für die Politik sein?
Natürlich. Ein vierter Aspekt kommt dazu. Regularien von EZB und EU gefährden die Finanzierung vieler CO2-intensiver Geschäftsmodelle. Das haben viel zu wenige registriert. Ich halte das für statische Detailregulierung. Dynamischen Wandel und Übergänge befördert ein solcher Dirigismus nicht, sondern steht einer nachhaltigen Entwicklung sogar im Weg. Die USA halten wenig von Taxonomie und viel von Steueranreizen. Zu Recht, denn Einfachheit und Anreize sind immer wirkungsvoller als Hunderte von Seiten Bürokratie. Schließlich hat der Ukraine-Krieg eine schwerwiegende Konsequenz: Gas ist keine kostengünstige Brückentechnologie mehr.
Was für Bayerns Industrie jetzt teuer wird …
Ja, auch weil Berlin entschieden hat, endgültig aus der Atomkraft auszusteigen. Das ist eine ideologische Selbstblockade. Es gibt keine Gespräche über die Kernkraft, es werden keine technologieoffenen Ansätze akzeptiert. Die schmutzige Kohle wird hochgefahren und man hofft, dass ein Boom der Erneuerbaren uns retten wird. Für energieintensive Unternehmen ist das eine Katastrophe.
Internationale Fachkräfte meiden Deutschland
Warum kommt man auch beim Fachkräftemangel nicht voran?
Das sehen Sie schon an der absurden Diskussion über Work-Life-Balance und Vier-Tage-Woche, die wir seit Monaten führen. Weil das Wirtschaftsgut Arbeit wegen der unaufhaltsamen gesellschaftlichen Alterung knapp ist, müssten wir mehr arbeiten. Andernfalls können wir die Finanzierung der öffentlichen Hand und der sozialen Sicherung nicht aufrechterhalten. Uns gelingt es zudem nicht im erforderlichen Umfang, Arbeitskräfte von den internationalen Arbeitsmärkten für uns zu begeistern. Laut einer Bertelsmann-Studie sind wir im Wettbewerb um Hochqualifizierte zurückgefallen. Im Ranking der 38 OECD-Staaten sind wir seit 2019 von Platz 12 auf Platz 15 abgerutscht.
Woran liegt das?
Sicher nicht nur an der deutschen Sprache. Wir schaffen es nicht einmal, die erforderlichen 400.000 Arbeitsmarktzuwanderer pro Jahr mit einer guten Wohnung zu versehen. Die Bundesregierung wollte pro Jahr 400.000 Wohnungen bauen. Tatsächlich waren es 2022 nur 295.000. Dieses und nächstes Jahr werden es noch weniger sein. Wo, bitte sehr, sollen denn die erhofften qualifizierten Arbeitskräfte aus dem Ausland bei uns wohnen?
Zu viele Vorschriften – überall
Wie ließe sich das ändern?
Mietpreisdeckel und Regulierungen lösen das Problem nicht. Schauen Sie, was in Berlin los ist. Für Neubauten sind die Preise völlig durch die Decke gegangen. Es wird trotzdem zu wenig gebaut, weil die Renditen zu niedrig sind. Immobilienkonzerne haben sich vom Neubau verabschiedet – übrigens auch wegen unrealistischer Klimagebäudepläne aus Brüssel und der Heizungsverirrungen aus Berlin.
Wenn Regulierung nichts bringt, was hilft dann?
Das Gegenteil davon. Vereinfachte Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren, vernünftige Heizungs- und Klimavorschriften, die klare Ansage, wie und was ich bauen kann. Ansonsten wird kein Cent zusätzlich in Deutschland investiert. Wir brauchen Anreize auch für die Sanierung. Ohne Wohnungen werden wir keine Zuwanderer bekommen.
Richtiger Hebel: längere Lebensarbeitszeit
Trägt die Wirtschaft nicht selbst zum Fachkräftemangel bei? Die Medien berichten über Abfindungs- und Frühverrentungsprogramme bei VW, Bayer, SAP, Deutsche Post, Telekom, Lufthansa …
Es mag noch Unternehmen geben, die solche Entscheidungen treffen, aber der Trend geht klar in die andere Richtung. Ich habe mich schon in den 1990er-Jahren intensiv mit dem Thema Frühverrentung beschäftigt – daher weiß ich: In dem Umfang, wie es das damals gab, gibt es das heute nicht mehr. Das Renteneintrittsalter steigt: 1997 waren es durchschnittlich 62 Jahre, jetzt sind wir bei über 64 Jahren. Es ist gut, wenn der Trend weiter nach oben geht. Der womöglich größte Hebel zur Bewältigung des Fachkräftemangels liegt in der Weiterbeschäftigung erfahrener Arbeitskräfte zumindest in Teilzeit.
Genehmigungsverfahren beschleunigen
Zweite Stammstrecke, Brenner-Nordzulauf, die Stromtrassen – warum kommen in Bayern große Projekte nicht voran?
Klar sind wir zu langsam bei der Energiewende und beim Ausbau der Netze. Die Diskussion um die Stromtrassen hat den Push-Effekt für die Energiewende verhindert. Das muss unter der neuen Staatsregierung anders werden. Man ist schon dran an der Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, auch bei der Windenergie zeigt sich endlich Bewegung bei Antrags- und Genehmigungszahlen.
Trotzdem klagen die Unternehmen, es gehe alles quälend langsam.
Ja, sicher, wir brauchen überall mehr Tempo, auch beim Abbau der Bürokratie.
Das Thema liegt ebenfalls ganz oben im Problem-Ranking unserer Unternehmen. Wir haben quasi eine Standleitung zu Walter Nussel, dem Beauftragten für Bürokratieabbau der Staatsregierung, der sich wacker einsetzt, aber auch gegen Windmühlen kämpft. Auf allen politischen Ebenen werden jeden Tag neue Paragrafen erfunden, die Wirtschaft und Bürger belasten.
Bei Energieversorgung alle Register ziehen
Warum zündet der von Söder angekündigte „Bayern-Turbo“ nicht? Mehr als 1.000 Windräder sollen es bis 2030 sein. 2022 sind ganze 14 ans Netz gegangen.
Ein wenig mehr Geschwindigkeit haben wir: Derzeit sind 26 neue Windräder genehmigt, weitere 25 sind in der Genehmigungspipeline. Aber von den Ausbauzielen sind wir noch zu weit weg. Es gibt Schwierigkeiten auf kommunaler Ebene, da wird von Bürgern weiter geklagt. Und es stellt sich schon die Frage, ob das, was wir uns für den Ausbau der Erneuerbaren bis 2030 vorgenommen haben, wirklich machbar ist.
Das macht auch nur Sinn, wenn das ganze System mitwächst.
Ja, wir brauchen eine vernünftige Absicherung der Grundlast, die sehe ich heute nicht. LNG-Terminals in ganz Deutschland zu errichten und Flüssiggas zu importieren – das kann nicht die alleinige Lösung sein. Wir müssen alle Register ziehen: Wasserkraft, Tiefengeothermie, Biomasse, Speicherkraftwerke. Aber wer investiert, wenn es so viel Unsicherheit gibt?
Investitionszuschüsse statt Industriestrompreis
Sehen Sie in dem von Wirtschaftsminister Robert Habeck geplanten Industriestrompreis keine Lösung?
Das kann schon im Grundsatz keine Lösung für die gesamte Wirtschaft sein. Der Steuerzahler soll die Differenz bezahlen zwischen dem Börsenstrompreis und dem gedeckelten Fixpreis von sechs Cent für 80 Prozent des Verbrauchs. Das kann maximal finanziert werden für eine kleine Gruppe von hochenergieintensiven Industriebetrieben. Doch was ist mit allen anderen? Als IHK-Organisation gehen wir mit einem austarierten Ansatz in die Diskussion auf Bundesebene, der auch eine Stromsteuer- und Umlagensenkung vorsieht sowie Investitionszuschüsse für erneuerbare Direktstromlieferverträge.
„Peinlichen“ Rückstand bei Digitalisierung aufholen
Wie steht es um Bayerns Digitalisierung?
Seit Jahren erklären Politiker, wie wichtig die Digitalisierung der Verwaltung ist. Bislang funktioniert aus Sicht der Unternehmer E-Government nur sehr eingeschränkt. Es gibt ein Chaos an Zuständigkeiten auf Landes- und Bundesebene. Das muss behoben werden. Wir haben Probleme beim digitalen Netzausbau. Der Vergleich mit anderen Ländern ist für Bayern sehr peinlich. Auch bei KI hinken wir weit hinterher.
Die Staatsregierung bündelt Maßnahmen und Kompetenzen für die Cyberabwehr. Könnte das ein Vorteil sein?
Es ist absolut wichtig, dass man da etwas tut. Mit dem Thema Cybersicherheit beschäftige ich mich seit einigen Wochen intensiv. Wenn man sich die Pegasus-Spionagesoftware anschaut, mit der Politiker und Unternehmen ausgespäht wurden, stellt sich auch die Frage: Wie viel kann ich digitalisieren, ohne mein Wissen, mein Geschäftsmodell und meine Patente zu gefährden? Das ist hochkritisch, das wird uns beschäftigen.
Unternehmen sind keine Weltpolizei
Sie haben das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz scharf kritisiert. Der Ökonom Marcel Fratzscher spricht von „faulem Kompromiss“. Können Sie damit leben?
Absolut nicht. Da erwarten wir eine weitere Verschärfung von der EU mit dramatischen Konsequenzen für die Firmen.
Schutz der Menschenrechte, Nachhaltigkeit, Umweltstandards – was soll daran falsch sein?
Die Ziele sind richtig, nur: Warum hat das die Politik nicht längst umgesetzt? Sie hat versagt, jetzt sollen Unternehmen Weltpolizei spielen und für Ordnung sorgen – mit möglicherweise auch strafrechtlichen Haftungsrisiken. Ich halte das für extrem problematisch. Das limitiert unsere Einkaufsmöglichkeiten von Rohstoffen, das wird zu Friktionen in den Lieferketten und zur Gefährdung unseres Wohlstands führen.
Betriebe am Standort Bayern halten
Ginge es Bayerns Wirtschaft besser, wenn in Berlin noch Minister aus Bayern säßen?
Sicher ist das ein Nachteil, wenn man nicht aktiv an den Stellschrauben drehen kann für eine bessere Standortpolitik. Wir sind steuerlich nicht mehr wettbewerbsfähig. Dafür wäre eine Steuerreform nötig, die nur der Bund anschieben kann. Ich bin da nicht sehr optimistisch. Gleiches gilt für die Bürokratie. Weder der Bund noch Brüssel halten sich an ihr „One-in-one-out“-Versprechen. Fakt ist: Jedes Jahr wächst der Berg an Gesetzen und Verordnungen. Selbstständige, Mittelstand und selbst Großbetriebe in allen Branchen verzweifeln daran.
Wie groß ist das Risiko, dass Firmen den Standort Bayern aufgeben?
Auf unserer Konjunktur-Pressekonferenz im Mai haben wir ja schon darauf hingewiesen: Die Anzahl von Unternehmen, die Produktion ins Ausland verlagern oder das planen, geht nach oben. Die Öffentlichkeit nimmt das nicht wahr, das ist ein schleichender Prozess. Man bleibt am Standort, macht die Zukunftsinvestitionen woanders, lagert Forschung und Entwicklung nach Großbritannien, in die USA und nach China aus. Diese Tendenz sehen wir vor allem in der energieintensiven Industrie.
Startups hofieren
Wie steht es um Bayerns Start-up-Szene? Man will ja langfristig in einer Liga mit den USA und China spielen.
Ich glaube nicht, dass wir uns in der digitalen Welt jemals mit der Start-up-Szene im Silicon Valley oder in Tel Aviv messen können. Dort werden von Investoren ganz andere Summen bewegt. In München haben wir insbesondere rund um die TU aber ein spannendes Start-up-Netzwerk aufgebaut, das in Europa einen Leuchtturm bildet. Da sollten wir nicht nachlassen. Ich arbeite selbst mit Start-ups zusammen. Von daher weiß ich: Für Bayerns Gründer ist es sehr viel schwerer, Geld zu bekommen, als das von der Finanzbranche dargestellt wird. In den USA ist das viel einfacher.
Auf Bundespolitik einwirken
Was muss die neue Staatsregierung besser machen?
Einige Punkte habe ich schon genannt. Es gibt viel zu tun für die neue Regierung, aber es wurde auch viel erreicht. Bayern hat enorm in die Wissenschaft investiert. Das wird sich auszahlen, das wird uns neue Technologien und Geschäftsmodelle bringen.
Was sollte der neue Ministerpräsident als Erstes tun?
Er muss das Energiethema in den Griff kriegen. Wir brauchen den schnellen Netzausbau. Es bringt nichts, unsere Felder mit Erneuerbaren zuzupflastern, wenn wir den grünen Strom nicht einspeisen können, weil die Verteilnetze fehlen. Zweiter Punkt: Er muss in Berlin alles versuchen, um den Bund zu einer Reform des Arbeitszeitgesetzes zu bewegen. Was da drinsteht, ist von jungen Leuten nicht mehr zu verstehen. Das Gesetz ist auf dem Stand der starren Arbeitswelt des letzten Jahrhunderts.
Zur Person: Klaus Josef Lutz
Klaus Josef Lutz (65) ist Unternehmer, Jurist und Honorarprofessor an der Technischen Universität München. Nach einigen Geschäftsführungs- und Vorstandsstationen führte er von 2008 bis 2023 die Münchner BayWa AG. Seit Juni 2023 ist er deren Aufsichtsratsvorsitzender. 2021 wurde Lutz zum Präsidenten der IHK für München und Oberbayern gewählt und ist damit gleichzeitig Präsident des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags.