Harte Lockdowns vermeiden

Bayern bereitet sich auf eine potenzielle Coronawelle im Herbst vor. Flächendeckende Einschränkungen für Unternehmen und Einrichtungen will der Freistaat aber möglichst vermeiden, sagt Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek.
GABRIELE LÜKE, Ausgabe 09/2022
Herr Minister, Warnung oder Entwarnung – würden Sie eine Coronaprognose für den Herbst wagen? (Interview vom 8. August 2022)
Wir beobachten die Entwicklung des Infektionsgeschehens sehr genau. Seriös lässt sich aktuell nicht sagen, was uns im Herbst erwartet. Die bisherige Erfahrung zeigt aber, dass wir uns vorsorglich auf neue, ansteckendere oder auch gefährlichere Virusvarianten vorbereiten müssen.
»Schutz der Menschen als oberste Priorität«
Woran sollten sich die Coronapolitik und die Maßnahmen für den Herbst vor allem orientieren? An der Inzidenz? An der Lage in den Kliniken?
Der Schutz der Menschen – insbesondere der vulnerablen Personen – hat oberste Priorität. Zudem gilt es, das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Um zu entscheiden, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, muss man verschiedene Kriterien einbeziehen. Ich halte es für zu kurz gegriffen, nur auf die Lage in den Kliniken abzustellen. Wir brauchen verlässliche und zeitnahe Daten sowohl zu den Bettenkapazitäten und zur Belastung des Gesundheitswesens insgesamt als auch zum Pandemiegeschehen als solchem. Daher haben wir den Bund aufgefordert, das bestehende Surveillance-System weiter auszubauen sowie voll digitalisierte, aber auch praktikable Meldewege zu implementieren.
Was aus Sicht der Unternehmen unbedingt vermieden werden muss, sind umfangreiche, flächendeckende Einschränkungen. Wie lässt sich das gewährleisten?
Unter anderem, indem der Bund den Ländern Werkzeuge an die Hand gibt, mit denen sie sachgerecht auf mögliche neue Infektionswellen reagieren und alle notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen schnell, effektiv und rechtssicher treffen können. Mit dem Anfang August vorgestellten Entwurf des Infektionsschutzgesetzes haben wir so einen Basisschutz, aber wir werden in den kommenden Wochen mit Bund und Ländern wohl noch einiges, vor allem in der Umsetzung, nachschärfen müssen.
Sie haben eben den Entwurf des Infektionsschutzgesetzes angesprochen. Was fehlt Ihnen?
Die Punkte, die der Bund vorgelegt hat, lassen noch viele Fragen offen, insbesondere im Vollzug und in der Umsetzung der Maßnahmen: Welche Parameter gelten wann, wie funktionieren Kontrollen bei der Ausnahme von der Maskenpflicht? Und was ist mit dem laut Gesetzentwurf maximal drei Monate gültigen Impfschutz? Es braucht einen klaren Kriterienkatalog, denn sonst haben wir wieder Befugnisse im Gesetz, die nicht wirken können, weil die Länder nicht rechtssicher Gebrauch von ihnen machen können.
Die Wirtschaft wünscht sich vor allem verhältnismäßige Maßnahmen.
Wir behalten die Verhältnismäßigkeit stets im Blick und wollen nur die Instrumente einsetzen, die unbedingt notwendig sind.
Sie können erneute Lockdowns oder regionale Hotspotregelungen also ausschließen?
Unser Ziel ist es, harte, flächendeckende Lockdowns zu vermeiden. Wir brauchen ein Mindestmaß an Schutzmaßnahmen, müssen aber auch Weichen für das Worst-Case-Szenario stellen. Alles andere wäre fahrlässig.
Bayerischer Fünf-Punkte-Plan
Bayern hat im Mai einen Fünf-Punkte-Plan aufgelegt, der unter anderem Früherkennung, Impfungen, Testungen und medizinische Kapazitäten optimieren will. Wie ist der aktuelle Stand?
Es ist schon vieles umgesetzt: Wir bauen die virologische Überwachung aus – unter anderem erweitern wir zum einen die Bayerische Plattform zur Überwachung von SARS-CoV-2 Varianten (BayVOC) und zum anderen das Abwassermonitoring zur Vorhersage des Infektionsgeschehens. Wir werden mit der Infokampagne »Na Sicher!« noch einmal verstärkt für das Impfen werben. Es stehen flächendeckend lokale Testzentren und fast 2.600 weitere Teststellen zur Verfügung. Vulnerable Gruppen dürfen sich weiter kostenlos testen lassen. Dies hat Bayern beim Bund erreicht. Auch stärken wir aktuell intensiv die Krankenhauskapazitäten für den Herbst.
Staatliche Schutzmaßnahmen sind das eine. Wie viel Eigenverantwortung gestehen Sie den Menschen und auch den Unternehmen zu?
Wir können die Coronapandemie nur gemeinsam bewältigen und dafür braucht es auch die Eigenverantwortung jedes Einzelnen und der Unternehmen.
Was wären vorbildliche Maßnahmen in den Betrieben?
Unternehmen sollten ihre Mitarbeiter sensibilisieren und, wo es geht, weiterhin Homeoffice ermöglichen. Unabdingbar für eine nachhaltige Eindämmung des Pandemiegeschehens bleiben die Impfungen, insbesondere die Auffrischungsimpfungen. Hierfür sollten Arbeitgeber aktiv werben. Und ganz klar: Wer krank ist, bleibt zu Hause! Für den Betriebsalltag vor Ort empfehlen sich die klassischen Hygieneregeln: Abstand halten, Maske tragen, wenn man im Innenraum nah beieinander ist. Darüber hinaus sind ausreichend Waschgelegenheiten oder Reinigungskonzepte für Kontaktflächen mit hoher Nutzungsfrequenz wie Türgriffe vorbildlich. Nicht zuletzt ist ein Lüftungskonzept mit viel Außenfrischluft, ergänzt durch Luftreinigungsgeräte, zielführend.
Eine besonders gebeutelte Branche ist die Gastronomie.Was raten Sie hier?
Bei der Bewirtung den Kontakt zum Gast auf das Nötige reduzieren, zudem bei der Anlieferung, Einlagerung und Verarbeitung von Lebensmitteln die allgemeinen Hygieneregeln dringend einhalten, bei Spülvorgängen die vorgegebenen Temperaturen erreichen. Und, solange es geht, Veranstaltungen und gastronomische Angebote in den Außenbereich verlagern.
Würden Sie Aufgaben der Unternehmen erweitern? Sollten die Betriebe etwa bei der Nachverfolgung von Kontakten mitwirken?
Die Einführung einer Verpflichtung oder eine offizielle Aufgabenübertragung an Unternehmen sehe ich nicht.
Was unternimmt Bayern in Bezug auf Post- und Long-Covid-Fälle, die durch lange Ausfallzeiten die Betriebe schwächen?
Bayern hat die Bedeutung der Erkrankung bereits frühzeitig erkannt. Der Handlungsbedarf ist groß! Wir brauchen aber mehr gesicherte Informationen, bessere Diagnosen und Therapien. Wir haben im Januar 2021 einen Runden Tisch und eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen. Unsere Homepage bietet aktuelle Informationen. Über ein eigenes Förderprogramm investieren wir zudem fünf Millionen Euro in sieben Projekte zur Versorgung von Long-Covid-Patientinnen und -Patienten.
Was Unternehmen ebenfalls immer wieder belastet, sind pandemiebedingte psychische Probleme von Mitarbeitern. Wie unterstützen Sie hier?
Bislang einmalig in einem deutschen Flächenland und während der Coronapandemie besonders wertvoll ist das psychosoziale Angebot der Krisendienste Bayern. Sie sind bayernweit, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Überhaupt ist die Unterstützung und Versorgung von Menschen mit psychischem Hilfsbedarf im Freistaat differenziert, spezialisiert und gut ausgebaut. Zur Unterstützung der Unternehmen fördern wir etwa das Projekt FlexA zur Prävention psychischer Fehlbeanspruchungen.
»Wir wollen die Kitas und Schulen offen halten.«
Ein großer Knackpunkt war bisher auch der Schul- und Kitabetrieb, auf den die Beschäftigten und ebenso die Unternehmen angewiesen sind. Was ist in Bayern geplant?
Wir wollen die Kitas und Schulen offen halten. Das hat für uns oberste Priorität. Im Freistaat konnten wir mit den Pool-Testungen, die nur in Bayern und Nordrhein-Westfalen erfolgten, schon im vergangenen Schuljahr flächendeckende Kita- und Schulschließungen verhindern. Das ist ein großer Erfolg. Wir sind für das neue Schuljahr vorbereitet. Hier ist aber auch der Bund gefordert, die rechtlichen Grundlagen für den Herbst zu schaffen.
Würden Sie sich für weitere Hilfspakete für die Wirtschaft einsetzen, wenn die Pandemie noch einmal nachlegt?
Deutschland hat seine Wirtschaft während der Pandemie stark unterstützt. Aus Bayern kamen immer wieder Anregungen, an welchen Stellen die Bundesprogramme noch angepasst oder ausgeweitet werden müssen. Insofern werden wir uns auch künftig für die Wirtschaft starkmachen, sollte neue staatliche Unterstützung notwendig werden.
Zur Person: Klaus Holetschek
Klaus Holetschek (57) ist seit Januar 2021 Bayerischer Staatsminister für Gesundheit und Pflege. Der studierte Jurist war von 2018 bis 2020 Bürgerbeauftragter der Staatsregierung und von 2020 bis 2021 Staatssekretär in den Bayerischen Staatsministerien für Wohnen, Bau und Verkehr sowie für Gesundheit und Pflege.